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Dem Erzählen vertrauen

Da ist der Morgenbus, fünfzehn Personen sind auf dem Weg in den Alltag, ein Erzähler schaut hin, vermerkt in kleinen, genauen Miniaturen, was er sieht: «Der Mann mit dem regennassen Filzhut, er putzt sich die Brillengläser sauber, und irgendeiner stinkt nach Rauch in diesem Gequetsche. Oder riecht er nach Knoblauch?». Der Leser fährt mit, ist […]

Da ist der Morgenbus, fünfzehn Personen sind auf dem Weg in den Alltag, ein Erzähler schaut hin, vermerkt in kleinen, genauen Miniaturen, was er sieht: «Der Mann mit dem regennassen Filzhut, er putzt sich die Brillengläser sauber, und irgendeiner stinkt nach Rauch in diesem Gequetsche. Oder riecht er nach Knoblauch?». Der Leser fährt mit, ist da und dabei, folgt den Sätzen, den Tönen und Zwischentönen, schmunzelt mitunter oder schüttelt den Kopf über einen, der irrt. Etwa über diesen Zwyssig, der «an einem schmalen Freitagabend» an die Bar geht, säuft, Miriam anmacht und küsst, so linkisch, wie es seine Trunkenheit zulässt, seine Biederkeit es erlaubt. Der Leser tippelt hinter dem Möchtegernfremdgeher her, sieht ihm zu auf seinem kläglich-trunkenen Rückzug ins rettende «Taksi», das ihn zur Ehefrau zurückbringt, die ohnehin unruhig schläft – ohne ihn.

Ein ähnlicher Verlierer ist in der titelgebenden Geschichte «Der Wolf weint» jener Zeno Lombardi, der mit zunehmender Lüsternheit bergaufwärts schreitet zu Maria Gruber, die unterhalb der Baumgrenze ihr Haus hat und ein Abenteuer verspricht. Aber statt der räkelnd willig sich hingebenden Maria findet er einen Zettel, er möge sich doch um seine Frau kümmern. In solchen Geschichten geht der Leser mit, ist mittendrin. Da gelingt es dem Erzähler Franz Felix Züsli, erzählend Menschen so vor unsere Augen zu stellen, dass wir sie wahrnehmen in dem, was sie sind und denken, in ihrem Dasein, oft in ihrem Scheitern.

Auch eine andere stürzt ab, schon im Traum, die Betriebsfürsorgerin «Andrea Sontheim», die nach vierzehn Jahren entlassen wird und dann, rückblickend, nach den Gründen fragt. War es das Engagement für Balbo, den wegen mangelnder Sicherheitsmassnahmen durch einen Betriebsunfall zum Invaliden Gewordenen? Oder war es der Einsatz für den flugblattverteilenden Lehrling Bernhard? Der Leser folgt der Frau mit ihrem Fragen, nimmt an ihrem einsamen Ausgesetztsein teil. Aber brauchte der Leser den Kommentar der letzten Seiten, der all das mitteilt, was er durch sein aufmerksames Lesen schon begriffen hat: «Und im Todesrausch überkam die Sontheim Erkenntnis, als hätte ihr jemand die Haut heruntergerissen und ihr Innerstes gezeigt: Sie hatte dem verdauenden Moloch das Würgen erleichtert, indem sie geholfen hatte, mit dem Moloch zu leben»?

Immer wenn der Autor Franz Felix Züsli erzählt, Menschen uns in Situationen genau und detailliert darstellt, wie er das in vielen Geschichten tut, knapp erzählt, ohne Kommentar, aber mit Nischen für die Phantasie des Lesers, so sind wir als Lesende gern dabei, fiebern mit, nehmen Anteil. Die Geschichten gehen dann in unserem Kopf weiter, hinterlassen eine Irritation, evozieren Fragen oder lassen offen: «Die beiden schauten einander an. Der von irgendwoher wollte etwas sagen, fand aber das Wort nicht. Der Alte bückte sich dann, warf einige Äpfel, die er auf dem Boden aufgelesen hatte, in den Spankorb, der unter dem Baum stand: Jetzt blickten beide durch die Baumkrone hindurch, als hätten sie den Himmel gesehen…» In solcher Knappheit folgt man in den Krimierzählungen gern dem Untersuchungsrichter Rohrer zum Toten auf dem Meinhof oder fährt mit Kriminalkommissär Salvis zum Leichenfund am Fluss. Schade, dass der Autor Erzähltes manchmal kommentierend unterstreicht; es reichte, zu erzählen und seinem Erzählen ganz zu vertrauen.

Franz Felix Züsli: «Der Wolf weint». München: Friedmann, 2009

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