Deflation, Inflation – oder gar beides?
Worauf sich Unternehmen und Sparer vorbereiten müssen – Ein Blick in die Glaskugel
Eine stabile Währung ist eines unserer höchsten volkswirtschaftlichen Güter, vergleichbar mit einem vertrauenswürdigen Rechtssystem oder der öffentlichen Sicherheit. Ein stabiles monetäres Umfeld ist als Wunsch deshalb gesellschaftlich auch unbestritten. Die Währungsgeschichte zeigt allerdings, dass die Realisierung dieses Wunsches alles andere als selbstverständlich ist. Gerade das 20. Jahrhundert darf mit Fug und Recht als Jahrhundert der Inflation bezeichnet werden. Weniger bekannt ist, dass es zeitweise auch von massiver Deflation geprägt war, so nach dem Ersten Weltkrieg oder während der Grossen Depression der 1930er Jahre. Kein Wunder also, dass sich die Menschheit auch heute wieder Sorgen über die Zukunft des Geldes macht, jenes Tauschmittels also, von dem nicht nur Wohl und Wehe der Volkswirtschaft allgemein, sondern auch unser privates Leben, unsere Pläne und Wünsche, ganz entscheidend abhängen. Wird diese Zukunft Inflation oder gar Hyperinflation mit sich bringen? Oder steht umgekehrt das Gespenst der Deflation vor der Tür?
Die Meinungen dazu sind erstaunlicherweise selbst unter Fachexperten stark gespalten. Grund dafür ist nicht, wie manche meinen, dass die Ökonomen keine brauchbaren Theorien besitzen und deswegen in ihrer Meinung stets geteilt sind. Der zentrale Grund liegt vielmehr darin, dass die Zukunft unseres Geldes nicht schicksalhaft vorgegeben ist. Sie wird durch den Kurs bestimmt, den die Zentralbanken dieser Welt bestimmt haben, bestimmen und bestimmen werden. Dieser Kurs hängt letztlich davon ab, welchen Auftrag Gesellschaft und Politik ihnen geben. Es geht also darum abzuschätzen, wie die Zentralbanken – und die anderen wirtschaftspolitischen Akteure, mit denen ihre Entscheidungen verknüpft sind – auf die Risiken der Gegenwart und Zukunft reagieren.
Diese Risiken sind immens: Europa wird von einer Schulden- und Bankenkrise geschüttelt; die USA sind gelähmt von Fiskaldefiziten und Staatsverschuldung; die Zentralbanken haben eine historisch beispiellose Liquiditätsschwemme geschaffen, und manche Länder drohen an verknöcherten Arbeits- und Gütermärkten und reformresistenten Sozialsystemen zu ersticken. Vor diesem Hintergrund können sich die einen eine Zukunft ohne Rezession und Deflation schwer vorstellen, währenddem andere meinen, Inflation sei so sicher wie das Amen in der Kirche. Betrachten wir als Ausgangspunkt kurz die üblichen Argumente jener, für die alles – sei es in der einen oder in der anderen Richtung – klar ist.
Deflationspropheten
Wenden wir uns zunächst jenen zu, die – wie der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman – jegliche Inflationsgefahr als Einbildung und Phantom abtun und allein in der Deflation die grosse Gefährdung unserer Zeit zu erkennen glauben. Preiserhöhungen auf breiter Basis, und damit ein allgemeiner Inflationsprozess, seien gar nicht möglich, solange die Wirtschaft durch Arbeitslosigkeit, unausgenutzte Produktionskapazitäten und niedriges Wachstum gekennzeichnet sei, lautet das immergleiche Credo der Deflationspropheten. Seit der Erfahrung mit der «Stagflation» der 1970er und 80er Jahre sollten wir allerdings wissen, dass das so nicht richtig ist. Wirtschaftliche Stagnation und monetäre Inflation können durchaus zusammengehen, wenn einmal Inflationserwartungen entstanden und in den Köpfen der Leute verankert sind. Kommt es dann zusätzlich zu einem allgemeinen Nachfragedruck, so bewirkt dieser, dass die effektiven Preiserhöhungen noch über die erwartete Inflation hinaus ansteigen. Dabei ist wichtig zu sehen: der Nachfragedruck ist nicht Voraussetzung für Preiserhöhungen im Ausmass der bestehenden Inflationserwartung.
Richtig ist allerdings, dass gegenwärtig – dank einer stabilitätsorientierten Geldpolitik der meisten Zentralbanken in den 1990er Jahren und in Europa bis in die 2000er Jahre hinein – die Inflationserwartungen (noch) auf relativ niedrigem Niveau verankert sind. Die Annahme ist aber ziemlich kühn, dass dies – angesichts der immensen Liquiditätsschöpfung durch die Zentralbanken in den letzten Jahren – auch in der Zukunft so bleiben wird. Die ultraexpansive Geldpolitik der Gegenwart ist historisch beispiellos. Das amerikanische Federal Reserve und die Notenbanken Europas haben ihre Bilanzen um den Faktor 3 vergrössert und entsprechend Liquidität ins System gepumpt. Wir haben keine Erfahrung damit, wie die Wirtschaftsakteure mit dieser Situation umgehen werden. Es bedarf keiner übermässigen Phantasie, sich vorzustellen, dass in einem solchen Umfeld die Inflationserwartung ihre Verankerung leicht wieder verlieren und eine neue Inflationsmentalität um sich greifen könnte.
Inflation unvermeidbar?
Wie steht es umgekehrt mit jenen, welche die grosse Bedrohung unserer Zukunft in der Inflation sehen statt in der Deflation? Die weltweite Liquiditätsschwemme durch die Zentralbanken führe früher oder später fast zwangsläufig zu Inflationsprozessen, wenn nicht gar zu Hyperinflation, ist der Kern ihres Argumentes. Allerdings: auch das ist so nicht zwingend richtig. Die Liquiditätsschöpfung der Gegenwart ist Ausdruck einer krisenbedingt enorm erhöhten Geldnachfrage. Es ist grundsätzlich richtig, dass die Zentralbanken darauf mit einer Ausweitung der Geldversorgung reagiert haben. Hätten sie dies nicht getan, wäre das einer starken Verknappung der Geldmarktverhältnisse und einer scharf restriktiven Geldpolitik gleichgekommen, mit möglicherweise grossem Schaden für die Realwirtschaft. Entscheidend ist jedoch, dass sie bereit und fähig sind, diese Zusatzliquidität rechtzeitig wieder abzuschöpfen, wenn sich die Geldnachfrage wieder normalisiert hat – und genau hier liegt der Hund begraben. Technisch ist das ohne Zweifel machbar, die Instrumente sind vorhanden. Aber werden die Zentralbanken den Willen und die politische Unabhängigkeit besitzen, diese auch hinreichend einzusetzen? Vom Druck der Politik sind sie latent immer bedroht, und die Finanzknappheit der Staaten macht diese Bedrohung heute besonders gross. Verletzbar sind die Zentralbanken auch, weil sie entgegen traditioneller Notenbankpraxis viele Anlagen und Sicherheiten von zweifelhafter Qualität auf ihre Bücher genommen haben.
Dazu kommt, dass eine begrenzte Inflation von vielen gar nicht wirklich abgelehnt, sondern vielmehr als wünschenswert betrachtet wird – als bequemer Weg zum realen Abbau der drückenden Last hoher Staatsschulden und als Mittel zur kurzfristigen Stimulierung von Konjunktur und Volkswirtschaft. Überhaupt profitieren davon die Schuldner insgesamt, auch die privaten, während die Sparer, die politisch wenig Gewicht haben, zu den Geprellten zählen. Der Inflationsprozess müsse einfach unter Kontrolle gehalten werden, meinen die Befürworter von «ein bisschen Inflation». Doch diese Argumentation führt in gefährliches Gewässer. Sind wir dazu wirklich in der Lage? Die Erfahrungen früherer Inflationsphasen, speziell der weltweiten Inflation der 1960er bis 80er Jahre, sollten uns daran zweifeln lassen. Aus diesen Gründen liegen die Inflationspropheten zweifellos näher bei der Wahrheit als die Deflationsrhetoriker.
Die kurze und die lange Frist
Entscheidend ist die Zeitperspektive, von der wir sprechen. Auf kurze Frist bleibt das Inflationsrisiko gering, da teile ich die vorherrschende Ansicht unter Experten. Bei gedämpfter Konjunktur und (vorläufig) niedriger Inflationserwartung kann sich ein Prozess von Preissteigerungen auf breiter Basis kaum entwickeln. Ob allerdings die heute von manchen beschworene Deflationsgefahr mehr als ein Schreckgespenst ist, mit dem man die aggressiv expansive Geldpolitik der Gegenwart verkauft, ist weniger klar. Sicher: ein vorübergehendes Absinken der Teuerungsrate auf ein Niveau unter null ist durchaus möglich und (gerade in der Schweiz) auch mehrfach vorgekommen. Das ist aber nicht weiter schlimm, solange daraus nicht ein eigentlicher Deflationsprozess entsteht, d.h. eine über längere Zeit anhaltende, von entsprechenden Erwartungen getragene Tendenz zu stets tieferen und noch tieferen Güterpreisen. Und um ehrlich zu sein: Ich habe grosse Mühe zu erkennen, wie eine solche Dynamik angesichts der immensen Aufblähung der Zentralbankbilanzen und der resultierenden Überschwemmung unserer Volkswirtschaften mit Geld entstehen könnte.
Längerfristig aber sieht die Sache anders aus. Die Gefahr ist gross, dass die ultraexpansive Geldpolitik der letzten Jahre auf verschiedenen Wegen schliesslich weltweit zu einer Rückkehr von Inflation und Inflationsmentalität führen wird. Es wird auch für die Schweiz nicht einfach sein, sich diesem Trend zu entziehen. Liquiditätsabschöpfung bedeutet, dass die Zentralbank Anlagen, die sie früher erworben hat, wieder verkaufen muss oder Kredite, die sie den Banken gewährt hat, rückgängig machen muss. Alternativ kann sie auch eigene Schuldpapiere (in der Schweiz sogenannte SNB Bills) ausgeben und am Finanzmarkt plazieren. Äquivalent dazu könnte sie die bestehenden Giroguthaben der Banken bei der Zentralbank so hoch verzinsen, dass die Banken sie freiwillig bei der Zentralbank belassen wollen und nicht in der Form von Krediten an die Volkswirtschaft weitergeben. Die Folge sind in allen Fällen Zinserhöhungen und fallende Vermögenspreise. Dies stösst regelmässig auf starken politischen Widerstand.
In den USA werden die riesige Staatsverschuldung und die ungelösten Haushaltsprobleme des Staates fast mit Sicherheit dazu führen, dass das Federal Reserve das Zinsniveau viel zu lange tief halten und seinen Kurs zu spät korrigieren wird, wenn einmal die konjunkturelle Wende und die Rückkehr zu Wachstum und Normalbeschäftigung in Sicht kommen. Die Neigung ist in den USA ohnehin hoch, die Inflation als Mittel zum Abbau der realen Staatsverschuldung einzusetzen. Für die EU ist die Versuchung gross, durch etwas mehr Inflationstoleranz im «Norden» den Wettbewerbsrückstand des «Südens» abzubauen und so die internen Handelsungleichgewichte der Eurozone auszugleichen. Die Angst davor, dass Zinserhöhungen und fallende Vermögenspreise das europäische Bankensystem und den Finanzhaushalt der Krisenstaaten erneut destabilisieren könnten, erhöht auch hier zusätzlich das Risiko, dass die geldpolitische Korrektur einmal zu spät kommen wird.
Bagatellisierung der Inflation
Die vielleicht grösste Gefahr liegt heute darin, dass die Inflationsgefahr bagatellisiert und eine Mindestinflation sozusagen salonfähig gemacht wird. Zwei Jahrzehnte vergleichsweise erfolgreicher Geldpolitik und niedriger Inflation haben dazu geführt, dass eine Generation ohne aktives Inflationserlebnis herangewachsen ist, die glaubt, die Inflation sei als Problem nicht mehr relevant und man könne, ja müsse die Geldpolitik für andere Ziele einsetzen als jenes der Preisstabilität. Die Tendenz greift um sich, Inflation und Geldpolitik als Prozesse zu sehen, die in der Welt der modernen Informationstechnologien und der unbegrenzten Gobalisierung voneinander weitgehend entkoppelt seien. Die Inflation bestimme sich gemäss neuen Gesetzmässigkeiten («this time is different») und unabhängig von der Geldpolitik. Parallel dazu verbreitet sich die Sicht, «ein bisschen» Inflation, eingesetzt zur Ankurbelung von Konjunktur und Wachstum, lasse sich problemlos unter Kontrolle halten.
All dies erinnert stark an die 1960er Jahre. Auch damals herrschten – nach Jahren relativ niedriger Teuerung – weitherum die Vorstellungen vor, ein wenig Inflation sei als «Schmiermittel der Volkswirtschaft» nicht nur kein Unglück, sondern sogar wünschenswert und die Inflation sei ohnehin nur begrenzt durch die Geldpolitik der Zentralbanken bestimmbar. Andere gesellschaftliche Faktoren – von der Psychologie über die Soziologie bis zur Technologie und der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften – seien zumindest ebenso wichtig. Das ist wishful thinking. Genau aufgrund dieser Fehlurteile sind die USA, und in der Folge die Weltwirtschaft insgesamt, in die hartnäckige Inflation der 1970er und 80er Jahre hineingeschlittert, aus der sie sich später nur mühevoll und zum Preis kostspieliger geldpolitischer Stabilisierungskrisen wieder zu befreien vermochten. Es stellte sich heraus, dass die Ankurbelungen immer kräftiger sein mussten, damit sie überhaupt noch Wirkung zeigten, und aus dem «bisschen» Inflation wurde letztlich die «Grosse Inflation» der 1980er Jahre mit ihren zweistelligen Teuerungsraten in vielen Ländern.
Hyperinflation und Währungszerfall?
Drohen gar Hyperinflation und der Zerfall aller Werte? Die Ankündigung monetärer Untergangsszenarien geniesst gegenwärtig beträchtliche Konjunktur. Die Währungsgeschichte bietet ja auch zahlreiche Beispiele solcher Schreckensperioden, darunter die verheerenden Hyperinflationen der frühen 1920er Jahre in Deutschland und anderen (mittel- und ost)europäischen Staaten, die stark zur wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung Europas in jener Zeit beigetragen haben. Es ist aber zu bedenken, dass solche Entwicklungen zumeist als Folge grosser Kriege und als Begleiterscheinung massiver gesellschaftlicher Unordnung und Desintegration aufgetreten sind. Dafür sehe ich heute wenig Anzeichen. Wahrscheinlich ist hingegen, dass der politische Kompromiss, der den USA und Europa den Weg zurück zu Entschuldung und fiskalischer Vernunft erlaubt, als wichtiges Element die vorübergehende Toleranz einer beschleunigten Inflation einschliessen und die Welt in eine neue Phase zunehmender Inflation und monetärer Instabilität führen wird.
Die gute Nachricht ist: Ich gehe davon aus, dass dies, wie in den 1970er und 80er Jahren, seinerseits wieder Lernprozesse auslösen und eine Rückbesinnung auf den Wert monetärer Stabilität bewirken wird. Dazu sind die Erinnerungen an die 1970er Jahre noch nahe genug. Auch ist in Wissenschaft und Analyse die Einsicht heute viel stärker verankert als noch in den 1960er Jahren, dass ein andauernder Inflationsprozess letztlich immer ein monetäres Phänomen ist und nur über eine angemessene Geldpolitik im Griff gehalten werden kann. Unkontrollierte Inflationsprozesse und Hyperinflation sind also nicht zu erwarten – Inflationsraten bis in den zweistelligen Bereich könnten aber durchaus die Folge sein, bevor solche Reaktionen geldpolitisch wirksam werden.
Konsequenzen für Anleger
Was bedeutet dies für den Wirtschaftsakteur und Anleger? Er muss darauf gefasst sein, dass die beiden wichtigsten Währungen der Welt, der Dollar und der Euro, bis auf weiteres im Trend Schwachwährungen bleiben. Der Abbau momentaner Übertreibungen – die gegenwärtig vermutlich vor allem den Euro belasten – ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen. Die Liquiditätsschwemme wird kurz- und mittelfristig weitergeführt werden, und die Staaten werden weiter versuchen, das Zinsniveau niedrig zu halten. Bei den Kurzfristzinsen können sie dies am besten erzwingen. Wie lange es bei den Langfristzinsen möglich sein wird, ist viel weniger klar. Die superexpansive Geldpolitik der Gegenwart ist historisch ohne Präzedenz. Die Dynamik längerfristiger Inflationserwartungen in dieser Situation ist extrem schwer fassbar, wir haben keine diesbezüglichen Erfahrungen. Eine Destabilisierung von Inflationserwartungen könnte unter solchen Bedingungen sehr plötzlich einsetzen. Vor einer Vernachlässigung entsprechender Risiken kann man nur warnen. Die weltweite geldpolitische Konstellation spricht daher insgesamt viel eher für reale Anlagen wie Aktien, Immobilien, Rohstoffe und dergleichen als für nominale Werte. Nominalwerte sind zudem in der Regel auch höherer Rechtsunsicherheit über Fiskalzugriffe und andere Massnahmen des Staates ausgesetzt.