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Defekte Krone

Der Mensch, so wird behauptet, sei die Krone der Schöpfung. Er fühlt sich aber keineswegs so. Er, dieser späte Gast auf Erden, hat zwar aufrecht gehen gelernt. Die Augen sind ihm nach vorn zusammengewachsen und ermöglichen ihm ein dem tierischen Leben unbekanntes stereoskopisches Sehen. Dadurch hat das Gehirn Platz gefunden, sich frei zu entfalten. Und […]

Defekte Krone

Der Mensch, so wird behauptet, sei die Krone der Schöpfung. Er fühlt sich aber keineswegs so. Er, dieser späte Gast auf Erden, hat zwar aufrecht gehen gelernt. Die Augen sind ihm nach vorn zusammengewachsen und ermöglichen ihm ein dem tierischen Leben unbekanntes stereoskopisches Sehen. Dadurch hat das Gehirn Platz gefunden, sich frei zu entfalten. Und die bewegliche Zunge in einer geräumigen Mundhöhle hat ihm schliesslich ermöglicht, was nicht selten als entscheidendes Merkmal des Menschseins genannt wird: das Sprechen. Und eng damit verbunden das Denken. Als einziges Lebewesen hat der homo sapiens die Fähigkeit entwickelt, über sich selber, die Mitmenschen und die Welt zu reflektieren.

Wenn der Mensch sich nun mit sich befasst, bemerkt er aber alsbald seine Unfertigkeit, seine Unbehaustheit, seine ontologische Unbestimmtheit, seine prinzipielle Unsicherheit gegenüber dem Tier und gegenüber Gott, die beide auf ihre Art vollkommen sind. Der Mensch ist ein Zwischenwesen. Er zweifelt, ob ihm die Krone der Schöpfung gebührt. Wie wenn er Defekte hätte. Ist er doch gezwungen, sich eine künstliche Umwelt zu schaffen. Sich den Pelz selber zu schneidern, der ihm nicht wächst. Dadurch emanzipiert er sich zwar von allen klimatischen Bedingungen. Er durchbricht die Schranken geographischer Räume, überwindet gigantische Distanzen, erfindet ingeniöse Techniken, um sich zu schützen, zu bewegen, zu fliegen, zu lieben, zu kommunizieren. Nicht einfach überleben will er, sondern leben, erleben, glücklich werden. Denn er leidet, zweifelt an sich, an den Mitmenschen, an der Welt. Er trägt einen merkwürdigen Drang in sich, das was ist, und das, was er ist zu steigern, zu verschönern, zu vervollkommnen. Erlöst werden möchte er von seinen Zweifeln, von seiner Unentschlossenheit, seiner Unwissenheit, seinem Makel. Immer wieder versucht er, nach der Krone zu greifen.

Er entwirft grossartige kulturelle und religiöse Konzepte, um mit den Herausforderungen fertigzuwerden und seine prekäre Situation mit Sinn zu erfüllen. Die Weltgeschichte ist ein gigantisches Kompendium erfundener und wieder verworfener Welt- und Lebensanschauungen. Aber im Unterschied zu Gott konnte der Mensch sich nie zurücklehnen und sagen, dass alles gut sei. Deshalb sucht er die Erlösung anderswo. Immer wieder. Die Erlösung im Jenseits, die Welt- und Todesanschauung der abrahamischen Erlösungsreligionen belassen den Menschen in dieser Welt wie er ist, und führen ihn in einer anderen, jenseitigen Welt zur Erlösung. In der modernen, vom Ferment der Erlösungsreligion zehrenden Welt wird die Erlösungsvorstellung nach dem Tod Gottes auf die Erde herab gezwungen. Dem Menschen wächst die Aufgabe der Erlösung selber zu. Aus der Vorsehung Gottes herausfallend, muss er sich selber vorsehen, sich selber vervollkommnen, sich selber zu erlösen versuchen. Er will lebendigen Leibes in den Himmel!

Wie immer die Vervollkommnungsvorstellungen fehlschlagen, sucht er sich neue Experimentierfelder, erträumt neue Lichtungen, Paradiese und Parkplätze. Utopien waren traditionelle Lichtungen; innere Paradiese und Selbstverwirklichungsträume mit den entsprechenden Reiseveranstaltern kamen hinzu. Die neuesten Futurismen, die vor unseren staunenden Augen aufgeblättert werden, heissen virtuelle Welten, künstliche, fleischlose Geschöpfe, Körper ohne Organe und ewiges Leben. Wieder einmal ist die Verbesserung, Verhübschung und Ausräumung des Leibes angesagt, wieder einmal will der Mensch zäh wie Leder werden und hart wie Kruppstahl. Einmal mehr will er ein Naturerbe, den Säugetierleib loswerden.

Eine Total-Emanzipation des Menschen von seiner eigenen Natur, von seinem metaphysischen Defekt, seiner wesensgemässen Unfertigkeit und Unbestimmtheit hätte schlimme Konsequenzen. Die Erlösung des Menschen von seinem Naturerbe wäre das Ende des Menschen wie wir ihn kennen. Denn seine Unfertigkeit und Nichtfestgestelltheit ist sein evolutionärer Vorteil. Seine Unbehaustheit zwingt ihn zur Kultur. Sein Defekt treibt ihn an. Aus seiner Instinktschwäche resultiert seine Weltoffenheit, seine Neugierde, seine Tatkraft. Seine Unfertigkeit ist ein Geschenk, keine Strafe. Wäre er vollendet, gäbe es nichts, keine Kultur, keine Musik, keine Literatur, kein Nachdenken. Würde er sich vollenden, endgültig und total, wäre er buchstäblich am Ende. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, weil er gelernt hat, sich selber zu kultivieren und Geschichte zu machen. Erlöst wird, wer immer strebend sich bemüht, nicht wer sich nicht mehr bemühen muss, weil er schon erlöst ist.

Peter Gross ist em. Ordinarius für Soziologie an der Universität St. Gallen.

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