De Castro & Garschagen
Fussball. Karneval. Caipirinha. Urwald. Entwicklungsland. Das sind die Assoziationen, die sich hierzulande in den Köpfen meiner Freunde einstellen, wenn sie von Brasilien hören. Auch diesen helvetischen Sommer habe ich im brasilianischen Winter verbracht. Und auch diesmal war ich nach meiner Rückkehr damit beschäftigt, in stereotypen Gesprächen die Klischees über jenes grosse Land zu parieren, dem […]
Fussball. Karneval. Caipirinha. Urwald. Entwicklungsland. Das sind die Assoziationen, die sich hierzulande in den Köpfen meiner Freunde einstellen, wenn sie von Brasilien hören. Auch diesen helvetischen Sommer habe ich im brasilianischen Winter verbracht. Und auch diesmal war ich nach meiner Rückkehr damit beschäftigt, in stereotypen Gesprächen die Klischees über jenes grosse Land zu parieren, dem ich nicht nur aufgrund familiärer Bande wohlgesonnen bin.
Um hinten, also am Ende, zu beginnen: Die brasilianische Gesellschaft modernisiert sich in einem Tempo, das der Schweizer, gewöhnt an den Anblick eines stolzen gleichbleibenden Status quo, kaum fassen kann. Jeder Favelado hat mittlerweile einen PC, Mittelstandsfamilien leben komfortabel, der Mittelstand selbst wächst. – Der Urwald ist derweil eher eine europäische als eine brasilianische Phantasie. Die meisten meiner brasilianischen Freunde aus Belo Horizonte und São Paulo waren nie im Amazonas-Gebiet und haben auch keine Absicht, jemals dorthin zu reisen. – Kein Mensch im Hinterland von Minas Gerais trinkt Caipirinha; wenn schon, dann bitte eine echte Cachaça, im Cowboy-Stil, also Zimmertemperatur und pur, ohne Zucker, ohne Eis, analog zu einem guten Whisky. – Karneval? Total verpönt. Ein Irrsinn. Bestimmt ein Schauspiel für europäische Touristen. – Bleibt der Fussball. Stimmt, den pflegen die Brasilianer, manchmal bis ins hohe Alter, allerdings nicht intensiver als wir.
Am ehesten ticken die Bewohner der «Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien» – so der ursprüngliche Name des Staates – wie ihre entfernten Nachbarn im Norden Amerikas.1 Die meisten Brasilianer sind kleine Kapitalisten – sie stehen früh auf, probieren aus, nehmen Risiken, fallen um, stehen auf. Viele sind Kleinunternehmer, einige aus Berufung, andere aus Not. Sie haben etwas Spielerisches, Mutiges, Erfinderisches, viele üben mehrere Berufe gleichzeitig aus, sind gut ausgebildet, dank Autodidaktik oder MBA. Die Berufsbiographien sind maximal vielfältig – es gibt keinen vorgezeichneten Weg. Jeder schafft sich seinen eigenen.
Eine kleine Kaste von Regierenden hat in den letzten zehn Jahren davon besonders profitiert. Die Staatsquote beträgt mittlerweile um die 50 Prozent, und in Brasilien arbeitet die Bevölkerung tatsächlich das halbe Jahr für den Staat – denn was sie für die Zwangsabgaben an Infrastruktur, Bildung und Rente zurückerhält, ist höchst dürftig. Immer vernehmbarer werden darum auch die ungeschminkt kritischen Stimmen, die so wunderbare selbsterklärende Begriffe wie «assistencialismo», «rentismo» und «intervencionismo» prägen. Paulo Rabello de Castro, ein Milton-Friedman-Schüler, dekonstruiert in seinem neuen Buch den «Mythos der Gratis-Regierung», ansonsten typisch für «reife Gesellschaften». Er unterscheidet zwischen zwei Regierungstechniken: der tyrannischen durch Waffen und der effizienteren durch Märchen, die allen alle möglichen Geschenke versprechen, ohne Kosten für irgendjemanden. Und Bruno Garschagen, Ökonom und Fellow des brasilianischen Mises-Instituts, hat ein Buch publiziert («Hören Sie auf, an die Regierung zu glauben»), das den brasilianischen Etatismus herleitet. Der Staat sitzt zuerst einmal im Nervensystem der Bürger – im Sinne eines antrainierten Reflexes dank konstanter Konditionierung. Seine Überlegungen gipfeln in einem Satz, der universelle Bedeutung beanspruchen darf: «Wenn es keine Kultur gibt, die die Politik ausrichtet und begrenzt, wird die Politik die Kultur ausrichten und beschränken.»
Einen Stereotyp haben jedoch selbst die unerschrockensten Brasilianer noch nicht ausgetrieben – die Schweiz als Land der Hoffnung aller fiskalisch Disziplinierten. De Castro schreibt voller Bewunderung: «Aufgrund persönlicher Neigung erliegen die Schweizer den Chimären nicht – auch jener der Gratis-Regierung nicht.» Schön wär’s.
1 Dabei ist klar: Es waren vor allem Katholiken aus dem Süden Europas statt Protestanten aus dem Norden, die das Land einst bevölkerten. Und es waren eher Abenteurer und ehemalige Gefangene als politisch Verfolgte, die sich in Brasilien niederliessen – sie zogen den Free Lunch dank Privilegien der portugiesischen Krone einem ungestörten Leben in Eigenverantwortung vor. Und die Oligarchie war in Brasilien bis ins 20. Jahrhundert hinein stark ausgeprägt – die Republik datiert vom Ende des 19. Jahrhunderts, die moderne Demokratie ist erst 30 Jahre alt.