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DDR – eine Spurensuche

Versuche einer vorläufigen Bilanz Die DDR gibt es seit 1990 nicht mehr, die Berliner Mauer ist unverzüglich ab-gebrochen worden. Aber die Ostalgie ist selbst bei Leuten, die mit der SED nichts am Hut hatten, keineswegs verschwunden.

Die EU-Osterweiterung ist am 1. Mai als ein epochales Ereignis gefeiert worden. Die Erwartung, dass in absehbarer Zeit problemlos «zusammenwächst, was zusammen gehört», wird allerseits mit viel Optimismus verbunden. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass 40 Jahre totalitärer Sozialismus auch in den neuen Mitgliedstaaten tiefe Spuren hinterlassen haben. Das Zusammenwachsen von Ost und West ist ein Prozess, der sich über eine längere Zeit erstrecken dürfte und der weit über die Beseitigung sichtbarer Denkmäler und die Umbenennung von Orts- und Strassennamen hinausgeht. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat gezeigt, dass der Sozialismus auch in der Mentalität der Menschen tiefe Spuren hinterlassen hat, die bei aller Kritik doch auch ein Gefühl des Heimwehs nicht ausschliessen.

Beate Petras, Parteisekretärin der SPD im einzigen neuen Stadtbezirk Berlins, der aus der Fusion eines West- und eines Ostbezirks hervorgegangen ist, Kreuzberg-Friedrichshain, kann viele Beispiele unterschiedlicher Mentalität zwischen Ost und West aufzählen. Ossis und Wessis lachen an gemeinsamen Veranstaltungen nicht über dasselbe. Ob sich das deutsche Phänomen in ähnlicher Weise in andern Ländern des ehemaligen Ostblocks wiederholt oder ob sich die Vergangenheitsbewältigung nach unterschiedlichen nationalen Mustern abspielen wird, bleibt abzuwarten.

Ist von der DDR noch irgend etwas Greifbares übrig geblieben? Die Hoheitssymbole selbst einmal sicher nicht. Auch die Staatsbauten sind alle umgenutzt oder müssen weichen, wie der einstige Ostberliner Palast der Republik – längst Ballast der Republik geworden –, der dereinst als neues Schloss wiederauferstehen soll – als «Palast der Replik», wie die Berliner spotten. Die heute unter Denkmalschutz stehenden Fragmente der Mauer sind zwar in jedem Berlin-Führer verzeichnet, können aber kaum einen Eindruck vermitteln vom einstigen «Antifaschistischen Schutzwall», der als autobahnbreite Schneise Berlin teilte. Ob das bekannteste Bauwerk Ostberlins, der Fernsehturm («Telespargel»), heute noch gefühlsmässig mit Kommunismus assoziiert wird (das Regime tat’s seinerzeit), ist uns nicht bekannt. Dies gilt wohl eher für die aus der Stalinzeit stammende spätere Karl-Marx-Allee in Berlin oder das aus dem Boden gestampfte Eisenhüttenstadt ganz im Osten der DDR, übrigens beide ursprünglich nach Stalin selbst benannt.

Marx durfte bleiben

A propos Sowjets: Die Garnisonen sind zwar geräumt, aber Kriegs- und «Befreiungs»-Dekmäler gibt es noch, das pompöseste in Berlin-Treptow samt Stalin-Parolen; gelegentlich lässt man die Inschrift vergammeln (Brandenburg an der Havel) oder hat sie entfernt (Wismar). Was stand sonst thematisch überhaupt zur Auswahl? Neben Lenin, Marx und Engels vor allem und immer wieder die DDR-Ikone Ernst Thälmann, obwohl er als KPD-Politiker der Weimarer Republik die Linke gespalten und damit Hitler indirekt gefördert hat. Seine gigantische Büste am Fuss des Prenzlauer Berges in Berlin steht noch, wenn auch farbverschmiert, weil ein Interessent, der ihn kaufen und wegschaffen wollte, plötzlich verstarb. Der ebenfalls in Berlin aufgestellt gewesene 20 Meter hohe und 400 Tonnen schwere Granit-Lenin wurde gleich nach der Wende in monatelanger Arbeit zerstückelt und im märkischen Sand vergraben.

Weichen musste auch der zentral positionierte Dresdener Lenin, während kleinere und peripherer situierte, wie der im stark PDS-geprägten Potsdam vor einem einstigen sowjetischen Offizierskasino dahindösende und auch derjenige von Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, stehenbleiben durften: Man war ratlos über einen Ersatz und scheute die Kosten. Marx durfte in der Regel bleiben, zum Beispiel vor dem Berliner Roten Rathaus. Sonstige DDR-Auftragskunst, meist Frieden und heile Welt durch Kommunismus verkündend, findet sich noch vielfach als Mosaik an Hauswänden, während mobilerer Wandschmuck aus dem Inneren von Amtshäusern zentral auf der Burg Beeskow archiviert wurde und nur gelegentlich in Ausstellungen gezeigt wird.

Namen von Strassen und Plätzen, optisch weniger auffällig als Denkmäler, sind als Wohnadressen wohl für die Einheimischen prägender. Je nach Stadt und politischen Verhältnissen wurde unterschiedlich aufgeräumt. Regelmässig bleiben durften Marx, Engels, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin (alles KP-Grössen vor der DDR-Zeit) und der Kosmonaut Juri Gagarin, ebenso zwar ideologisch besetzte, aber allgemein klingende Schlagwörter wie Strasse der Einheit (obwohl diejenige von KPD und SPD gemeint war), des Friedens, der Freundschaft (obwohl die deutsch-sowjetische gemeint war). Rückbenannt wurden zu-meist Namen wie Lenin, Thälmann, Dimitroff, Grotewohl, Ho-Chi-Minh, Pieck; vor allem aber Strassen, die direkten Bezug zu Symbolen des SED-Regimes oder der Sowjetunion hatten, wie etwa Strasse der Nationalen Volksarmee oder der Roten Armee. Manchmal stückelte man auch pragmatisch auf oder beliess Marx die Strasse, aber nicht den Platz, oder umgekehrt…

Viele dezentral und also unterschiedlich konzipierte Museen halten die Erinnerung an die grössten Ungeheuerlichkeiten der einstigen Stasi wach (wegen der Folterzellen besonders aufwühlend im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen), werden allerdings von Touristen leider weniger besucht als das stets überlaufene, Fluchtabenteuer darstellende Checkpoint-Charlie-Museum.

Das «Sandmännchen» überlebte

Was hat von der DDR institutionell überlebt? Naturgemäss kaum etwas Staatliches: keine Behörde, kein Bezirk, keine öffentliche Einrichtung, mit der einen Ausnahme der «Volkssolidarität» – kein Schlagwort, sondern eine Wohltätigkeitsorganisation für Spielnachmittage, Häkelklubs, Tanzcafés, Wanderungen, Grillfeste und Ferienreisen, die seit 1997 sogar nach Westberlin expandiert. Überleben durfte DDR-Recht, soweit es mit dem Recht der Bundesrepublik nicht im Widerspruch stand, als Recht der wiedererstandenen neuen ostdeutschen Bundesländer. Weg sind natürlich die ehemals «Volkseigenen Betriebe» (VEB), die es von der «Treuhand» «wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren» galt.

Die einstige Staatspartei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hat sich bekanntlich in die PDS («Partei des demokratischen Sozialismus») verwandelt, ist in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern Regierungspartei und führt die Tageszeitung «Neues Deutschland» weiter, so wie ihre Jugendorganisation, die «Freie Deutsche Jugend» (FDJ), die «junge welt». Ansonsten haben bezeichnenderweise eher geduldete als geförderte Presseorgane die Wende mit mehr als bloss dem Titel überstanden, wie die humoristische Zeitschrift «Eulenspiegel», ebenso «Das Magazin» mit literarischen und erotischen Beiträgen, sowie das «Mosaik» mit seinen Comics, schliesslich Literaturzeitschriften wie «Sinn und Form» und «ndl» (neue deutsche literatur). Von den Verlagen hat auf Dauer einzig der «Aufbau-Verlag» nach der Wende die Kurve geschafft. Das staatliche Fernsehen konnte natürlich nicht überleben, aber zwei Sendegefässe sind immer noch präsent: Die Krimiserie «Polizeiruf 110» und die Gutenacht-Geschichte für Kinder, das «Sandmännchen», ein DDR-Alltags-Fetisch genauso wie das «Ampelmännchen» an den Fussgängerstreifen. Da letzteres nicht EU-kompatibel ist, verschwindet es sukzessive, wie anderes aus der DDR-Zeit. Bleiben wird, was sich in Form von Literatur niedergeschlagen hat, dank Anna Seghers, Christa Wolf, Christoph Hein und vielen anderen, und das Internet ist zumindest zurzeit voll von Sites über die DDR. Selbst eine spezifizierte Suchmaschine gibt es: http://www.ddr-suche.de.

Eine Gesamtbilanz ist in der gebotenen Kürze nur schwer zu ziehen. Symbolisch mag ein Blick auf Brandenburg an der Havel sein, wie man ihn in einem Tagesausflug erlebt: ein Mosaik, wie oben umschrieben, gleich als erster Gruss, wenn man vom Bahnhof kommt, dann zerfallende Häuser neben frisch renovierten und herausgeputzten, schöner und zahlreicher als in mancher Stadt des Westens, grossartige gotische Kirchen neben drei Kirchenruinen, eine Baubrache mitten in der Stadt, abblätternde Firmenbezeichnungen noch aus der Zeit vor der Wende, aber auch witziger Umgang damit: Aus einem ehemaligen HO-Geschäft (HO stand für die staatliche «Handelsorganisation») ist, mit gleichem Signet und Kürzel, ein Laden in einem «Historischen Objekt» geworden…

Dr. Peter Kummer, geboren 1940, ist Lehrer für Geschichte und Deutsch an der Berufsmittelschule in Zürich, daneben verantwortlicher Redaktor des «Heimatbuches Meilen». Er hat die DDR noch vor der Wende besucht, sich seither intensiv mit deren Thematik befasst und die neuen Bundesländer mehrfach bereist.

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