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Datenhoheit für die Patienten
Der Patient ist König! Auch über seine Daten soll er in Zukunft die Hoheit haben. Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, photographiert von Heinz Baumann / Com_C16-015-001 / CC BY-SA 4.0.

Datenhoheit für die Patienten

Wer Patient wird, soll künftig die Hoheit über die dabei entstehenden Daten haben. Die Datensouveränität des Einzelnen muss endlich eine grössere Rolle spielen.

Letzten Herbst haben an der ETH die ersten Studierenden den neuen Studiengang in Medizin angetreten. In der ersten Studienwoche lasen und diskutierten sie in einem Buchclub das Buch «The Patient Will See You Now» des amerikanischen Kardiologen und Digital-Health-Experten Eric Topol1. Topol vergleicht in diesem 2015 erschienenen Buch die Bedeutung des Smartphones für einen Umbruch im Gesundheitssystem mit der Einführung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert durch Johannes Gutenberg. Ähnlich wie der Buchdruck zur Demokratisierung des Wissens geführt habe, werde das Smartphone zur Demokratisierung im Gesundheitssystem führen, behauptet er. Aus jedem Kapitel mussten die Studierenden je einen Satz notieren. «The single most unused person in healthcare is the patient» wurde zum meistzitierten Satz aus dem Buch. Er stammt vom Harvard-Ökonomen David Cutler.

Mit dem Smartphone besitzen wir ein Gerät, das uns täglich begleitet. Mit immer genauer werdenden Sensoren und gezielten Gesundheits- und Lifestyle-Apps werden wichtige Gesundheitsdaten von uns aufgezeichnet, ohne dass wir ins Spital oder die Arztpraxis gehen. Damit könnten wir eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen spielen. Aber haben wir die Kontrolle über die Verwendung dieser Daten? Zurzeit geben wir sie bewusst oder unbewusst an grosse multinationale Konzerne ab und haben uns so in den letzten 10 Jahren zunehmend in eine digitale Abhängigkeit begeben. Doch die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger über ihre Daten sollte in Zukunft eine herausragende Rolle spielen. Gesunde und kranke Bürgerinnen und Bürger werden zu zentralen Akteuren in einem modernen Gesundheitssystem und in einer digitalen Gesellschaft.

Die digitale Gesundheitslandschaft in der Schweiz

Steigende Gesundheitskosten, ungleiche Versorgung, fehlende Verfügbarkeit und Austauschbarkeit der Daten plagen unser heutiges Gesundheitssystem. Das elektronische Patientendossier, dessen Gesetz seit einem Jahr in Kraft ist, wurde entwickelt, um den Datenfluss in der Primärversorgung, der Behandlung, zu verbessern. Die Benutzung der Daten für Forschungszwecke und Daten, die von Patienten via Smartphones und Sensoren generiert werden, sind im Gesetz nicht berücksichtigt. Gesundheit und Krankheitsverlauf hängen zudem nicht nur von klinischen Behandlungen, sondern ebenso von der Ernährung, Umweltfaktoren und sozialen Faktoren ab. Viele entsprechende Datensätze werden bereits heute mit Smartphones und Sensoren aufgezeichnet. Über eine einfache App können zum Beispiel die Anzahl der Schritte und das Wohlbefinden der Patienten nach einer Hüftgelenksoperation aufgezeichnet werden. So entstünden Echtzeitdaten, die in der Summe Aussagen über die Effektivität der Behandlung und Nachbehandlung machen könnten.

Auch für die personalisierte Medizin ist die Aggregation (Zusammenführung) von Daten, zum Beispiel von genetischen, klinischen und Smartphone-basierten personenbezogenen Daten, von grosser Bedeutung. Diese Daten lagern heute in meist inkompatiblen Silos. Als Patient möchte man vielleicht einen Teil seiner personenbezogenen Daten gezielt all jenen Forschern, die an Therapieansätzen für die eigene Krankheit arbeiten, zur Verfügung stellen. Hätten die Patientinnen und Patienten bessere Kontrolle über die Verwendung ihrer Daten und wären Datenaggregation und Interoperabilität zur Verwendung von Daten für Behandlung und Forschung ermöglicht, würden die Patientinnen und Patienten so eine aktivere Rolle im Gesundheitssystem einnehmen können.

Digitale Abhängigkeiten

Sind Bürger überhaupt in der Lage und gewillt, die Kontrolle über ihre Daten zu erlangen? Wenn wir an die vielen Gratis-Apps denken, die wir auf unser Smartphone herunterladen und natürlich (aber teilweise unbewusst) mit unseren Daten bezahlen, oder an die Daten, die wir auf sozialen Netzwerken preisgeben, scheint dies in der Tat nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil, wir haben uns in den letzten 10 Jahren, wie schon erwähnt, in eine digitale Abhängigkeit von internationalen Firmen wie Facebook oder Google begeben.

Drei Entwicklungen stimmen dennoch optimistisch und lassen hoffen, dass dieser Trend gestoppt werden kann und dass wir in der Schweiz und in Europa eine Führungsrolle in der Demokratisierung des Umgangs mit personenbezogenen Daten und damit auch des Gesundheitssystems übernehmen können. Erstens steigt das Bewusstsein um diese digitale Abhängigkeit in der Bevölkerung und in den Medien. Auch die neue EU-Datenschutzgrundverordnung setzt klare Zeichen in diese Richtung. Zweitens besteht die Vorherrschaft der grossen Konzerne punkto Big Data und künstlicher Intelligenz nur beschränkt. Dadurch, dass all diese Daten ohne unsere aktive Beteiligung erhoben werden, wissen die Firmen nie, ob ich jetzt zum Beispiel nach einem Medikament suche, weil ich es brauche oder meine Grossmutter. Wenn die Bedingungen stimmen und das Vertrauen da ist, bin ich bereit, diese Information und vielleicht sogar noch weitere Daten beizusteuern. Es kommt zu einer Kombination von künstlicher und menschlicher Intelligenz, die wesentlich mächtiger ist als künstliche Intelligenz allein. Drittens zeigen unsere Studien, dass auch gesunde Personen eine grosse Bereitschaft zeigen, Daten zu teilen, sofern dies mit einem als sinnhaft empfundenen Zweck verbunden ist. In zwei verschiedenen Umfragen bei Studierenden und Besuchern der Seniorenuniversität haben 60 Prozent der Teilnehmer gesagt, sie würden eine Analyse ihres Erbguts (Genom) machen lassen. Interessanterweise war der meistgenannte Grund, damit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisten zu können. Erst an zweiter Stelle wurde das Bedürfnis genannt, mehr über seine Herkunft und mögliche Krankheitsrisiken zu erfahren.2

Der Weg zur Datenhoheit der Bürger

In einer Welt, in der Daten und insbesondere personenbezogene Daten der neue Rohstoff sind, ist Vertrauen einer der wichtigsten Werte. Wir vertrauen unserem Arzt. Vertrauen wir Google, Facebook oder den Firmen, die uns Gratis-Gesundheits-Apps zur Verfügung stellen? Je länger, je weniger. Eine von der Sicherheitsfirma Symantec im 2015 durchgeführte Umfrage zeigte, dass Spitäler (69 %) und Banken (66 %) noch das grösste Vertrauen geniessen. Das Vertrauen in Regierungen (45 %), Technologiefirmen (22 %), Warenhäuser (20 %) und soziale Medien (10%) ist dagegen eher gering3.

Personenbezogene Daten haben drei spezielle Eigenschaften. Erstens, sie sind einfach kopierbar und dadurch mehrfach verwendbar. Mein Arzt hat eine Aufbewahrungspflicht für meine Gesundheitsdaten. Mit meiner informierten Einwilligung können meine Daten für ein Forschungsprojekt verwendet werden. Gleichzeitig habe ich bereits jetzt das Recht auf eine Kopie (meistens nur in Papierform) meiner Krankenakte. Über die Verwendung dieser Kopie kann ich selbst verfügen. Ich kann sie zum Beispiel einem anderen Arzt für eine Zweitmeinung oder einem anderen Forscherteam zur Verfügung stellen. Zweitens haben alle Menschen ähnlich viele personenbezogene Daten. Wir sind alle Milliardäre in Genomdaten (das Genom jedes Menschen besteht aus 6 Milliarden Basenpaaren). Ähnliches gilt auch für die Anzahl der Schritte, Herzschläge etc. Im Gegensatz zu Geld sind personenbezogene Daten also einer der wenigen Werte, die gleichmässig verteilt sind. Drittens steigt der Wert der Daten mit der Aggregation verschiedener Datentypen und vieler verschiedener Individuen. Google und Facebook haben weder das Recht noch die Möglichkeit, so viele meiner Daten zu aggregieren wie ich selbst. Nur ich kann beispielsweise meine medizinischen Daten mit meinen persönlichen Daten ausserhalb des Medizinsystems verbinden. Als maximale Datenaggregatoren kommt uns eine ganz neue Rolle zu. Damit wir diese neue Rolle wahrnehmen können, bedarf es neuer rechtlicher und vertrauensbildender Rahmenbedingungen.

Die Demokratisierung der Kontrolle über persönliche Daten

Als Bürgerinnen und Bürger profitieren wir von einem Recht auf die Kopie unserer personenbezogenen Daten. Bei Treueprogrammen beispielsweise erteile ich Dritten das Recht, meine Einkaufsdaten auszuwerten. Eine Kopie dieser Daten könnte ich zum Beispiel mit meiner Ernährungsberaterin teilen oder für ein Forschungsprojekt zur Verfügung stellen. Ein 2015 im Nationalrat an den Bundesrat überreichtes Postulat zur Prüfung eines «Rechts auf Kopie» wurde zwar angenommen, aber im Rahmen der jetzigen Revision des Datenschutzgesetzes zurückgestellt. Fortschrittlicher ist die im Mai diesen Jahres in der EU in Kraft tretende Datenschutzgrundverordnung. Diese sieht nämlich ein Recht auf Datenportabilität vor. In einem kürzlich erschienenen Artikel in der Zeitschrift «Computer Law & Security Review» wurde die Datenportabilität als eine der grössten Neuerungen in der Verordnung gepriesen, kommt sie doch de facto dem Recht auf Kopie gleich4. Unsere persönlichen Daten sind Teil unserer Identität, und die Kontrolle über ihre Verwendung befähigt uns, eine aktivere Rolle im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft einzunehmen.

Genossenschaftlich organisierte Datenplattform

Zum sicheren Speichern und Verwalten unserer Daten braucht es neue Datenplattformen. Doch es stellt sich die Frage, wer vom grossen ökonomischen Wert der personenbezogenen Daten profitieren soll. Heute sind es die Aktieninhaber der grossen Datenfirmen. Ethisch vertretbarer wäre es, wenn die Gesellschaft als Ganzes von diesen gleichmässig verteilten Werten profitieren würde. Obwohl es bereits Plattformen gibt, auf denen man seine persönlichen Daten verkaufen kann, scheint dies keine befriedigende Lösung zu sein, insbesondere dann nicht, wenn es um besonders schützenswerte personenbezogene Daten wie Gesundheitsdaten geht. Erstens liegt der Wert nicht im Datensatz einer einzelnen Person, sondern in der Aggregation von Daten vieler Individuen. Zweitens führen finanzielle Anreize dazu, dass Personen Daten preisgeben und sogar falsche generieren, weil sie das Geld benötigen. Ähnlich wie beim Blutspenden ist die Bereitschaft in der Bevölkerung grösser, wenn keine finanziellen Anreize gesetzt werden.

Eine Alternative zu den bestehenden Modellen, die das Potenzial hat, das nötige Vertrauen zu gewinnen, ist die Form der gemeinnützigen Genossenschaft. Das demokratische «Ein Mitglied – eine Stimme»-Prinzip der Genossenschaft reflektiert die gleichmässige Verteilung personenbezogener Daten. Die Mitglieder der Genossenschaft entscheiden, in welche Projekte, die der Gesellschaft zugutekommen (z.B. Forschung, Prävention, Dienstleistungen), die erwirtschafteten Erlöse reinvestiert werden. In der MIDATA-Genossenschaft, in der diese Autoren aktiv sind, ist ein solches Modell realisiert5.

Die 2015 gegründete Nonprofitgenossenschaft betreibt eine Datenplattform und agiert als Treuhänderin der Datensammlung. Die Bürgerinnen und Bürger tragen einerseits als Nutzerinnen und Nutzer der Plattform aktiv zur Forschung bei, indem sie Zugang zu Datensets geben, andererseits als Genossenschaftsmitglieder zur Kontrolle und Entwicklung der Genossenschaft.

Die Statuten der Genossenschaft schreiben ihre Natur als Nonprofitorganisation fest und verankern die Souveränität der Nutzerinnen und Nutzer über ihre Daten und deren Verwendung (auch in anonymisierter Form). Zur Kontrolle der datenethischen Qualität der Dienstleistungen und angebundenen Projekte existiert ein genossenschaftsinternes Ethikorgan, dessen Mitglieder von der Generalversammlung gewählt werden.

Das Plattformmodell erlaubt die Trennung der Datenverwaltung (Datenspeicherung, Zugangs- und Einwilligungsmanagement) von den Datenanwendungen (mobile Applikationen zur Datenerfassung und Visualisierung) und ermöglicht damit ein offenes Innovationsökosystem. Den Nutzerinnen und Nutzern werden verschiedene Datendienstleistungen zur Verfügung stehen, und sie können entscheiden, an Forschungsprojekten teilzunehmen. Start-ups, IT-Dienstleister und Forschungsgruppen können auf der Plattform mobile Apps anbieten, beispielsweise Gesundheits-Apps oder Apps für das Management chronischer Krankheiten (mHealth).

Die IT-Plattform ist operativ und wird derzeit in mehreren datenwissenschaftlichen Projekten genutzt. In einem Projekt zeichnen Patientinnen und Patienten nach einer Magenbypass-Operation ihr Befinden, Fitness und Gewicht zu Hause auf und teilen die Daten mit dem behandelnden Arzt am Inselspital Bern. In einem anderen Projekt am Universitätsspital Zürich prüfen Patientinnen und Patienten, die an multipler Sklerose leiden, den Effekt von Behandlungen mittels einer Tablet-App, die ihren kognitiven und motorischen Status testet. Weitere Citizen-Science-Projekte wie beispielsweise eine Allergie-App werden derzeit entwickelt.

Das MIDATA-Modell ist ausgelegt auf internationale Anwendung: Bürgerinnen und Bürger kontrollieren die Nutzung ihrer Daten in regionalen oder nationalen Genossenschaften, die die gleichen Betriebsregeln und Softwarelösungen nutzen. Dies erlaubt, dass lokal entwickelte Use Cases leicht andernorts adaptiert werden können. Für die Bürgerinnen und Bürger bleiben aber ihre Daten in ihrer lokalen Genossenschaft. Im Gegensatz zur ortsspezifischen Ausgestaltung der Gesundheitssysteme sind die Bedürfnisse von gesunden und kranken Menschen in bezug auf ihre Gesundheit überall ähnlich.

Derzeit zeigen führende klinische Forschungszentren in Deutschland, England, Holland und Belgien Interesse, das Modell zu übernehmen und lokale MIDATA-Genossenschaften zu gründen.

The Swiss Citizen Will See You Now

Wenn es uns gelingt, bessere Rahmenbedingungen für Souveränität der Bürgerinnen und Bürger über ihre Daten zu schaffen, stehen wir vor einer grossen Transformation im Gesundheitssystem. Ähnlich wie das Smartphone das Leben eines Grossteils der Menschen auf der Welt in den letzten 10 Jahren grundlegend verändert hat, ohne dass ein einziges Gesetz verabschiedet wurde, wird das Smartphone gepaart mit der Datensouveränität das Gesundheitssystem grundlegend verändern. Die Bedürfnisse und Ansprüche auf ein gesundes Leben sind für alle Menschen ähnlich. Es existiert eine hohe Bereitschaft, selektiv Daten zu teilen zur Verbesserung der Effizienz im Gesundheitssystem und zur Verbesserung der Behandlung, sofern die Souveränität über die Daten gewahrt bleibt. Die Schweiz ist dank ihrem hohen Stand in der Gesundheitsversorgung und ihren demokratischen Strukturen bestens aufgestellt, eine führende Rolle in der Demokratisierung der personenbezogenen Daten und des Gesundheitssystems zu übernehmen.


1 Eric Topol: The Patient Will See You Now. New York: Basic Books, 2016.
2 Effy Vayena, Christian Ineichen, Elia Stoupka & Ernst Hafen: Playing a Part in Research? University Students’ Attitudes to Direct-to-Consumer Genomics. In: Public Health Genomics, 17, 3 (2014), S. 158 – 168. Vgl. auch Laura Mählmann, Christina Röcke, Angela Brand, Ernst Hafen & Effy Vayena: Attitudes towards Personal Genomics among Older Swiss Adults. An Exploratory Study. In: Applied & Translational Genomics (2016), S. 9 – 15.
3 Web: www.symantec.com/content/en/us/about/presskits/b-state-of-privacy-report-2015.pdf
4 Paul De Hert, Vagelis Papakonstantinou, Gianclaudio Malgieri, Laurent Beslay & Ignacio Sanchez: The Right to Data Portability in the GDPR. Towards User-Centric Interoperability of Digital Services. In: Computer Law & Security Review: The International Journal of Technology Law and Practice (2017), S. 1 – 11. Web: doi.org/10.1016/j.clsr.2017.10.003
5 Web: www.midata.coop/

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Der Patient ist König! Auch über seine Daten soll er in Zukunft die Hoheit haben. Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, photographiert von Heinz Baumann / Com_C16-015-001 / CC BY-SA 4.0.
Datenhoheit für die Patienten

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