Dass wir hier Gedichte geschrieben haben: unglaublich
György Petri gehört zu den führenden ungarischen Lyrikern des vergangenen Jahrhunderts. Wir drucken eines seiner letzten Gedichte, hier erstmals ins Deutsche übersetzt, sowie eine Annäherung an sein Leben und Werk von Péter Por.
In einem seiner frühen Gedichte hat der ungarische Dichter György Petri die Zeile geschrieben: «Dass wir hier Frauen geliebt haben: unfassbar.» Die Zeile ist ungemein stark (besonders, wenn man seine grosse Schwäche gegenüber Frauen kennt und weiss, dass er sie stets ins Glück und ins Unglück stürzen liess) – sie mag aber wohl eine noch stärkere «Erklärung» (dies war der Titel des ersten Bandes: «Erklärungen für M.») mitenthalten: «Dass wir hier Gedichte geschrieben haben: unglaublich.»
Petri war ein Ich-Poet, der leidenschaftlich erregt war durch den Beruf und in einem poetisch-göttlichen Diskurs ewige Gefühle empfinden und Wahrheiten sagen wollte. Doch bevor er überhaupt den ersten Buchstaben aufs Papier gebracht hatte, hatte er längst erkannt, dass es in der Welt, in der er lebte, seit langem keinen göttlichen Beruf mehr gab, ja seit langem kein Gefühl mehr aufrichtig sein konnte, keine Erkenntnis mehr richtig, kein Diskurs mehr authentisch, und noch schlimmer: kein Wort mehr wahr. Man irrt sich nicht gänzlich, wenn man diese verbitterte poetische Haltung auf die Zeitgeschichte zurückführt. Gemeint ist jener laue Kompromiss, der das Leben Ungarns in den 60er und 70er Jahren (Warndaten: 1956 Budapest, 1968 Prag) regelte und der sich als ebenso wirksam wie verderblich erwies. Der Bevölkerung wurde ein gewissermassen bequemer oder zumindest ungestörter Alltag gewährt, doch um den Preis einer unnachsichtig erzwungenen Amnesie, mit deren Hilfe die totale Illegitimität der herrschenden Verhältnisse ausgeblendet wurde. «Weich sammelt sich der Schmutz der Zeit» – eine der seltenen Formeln Petris, in denen er direkt auf diesen Kompromiss-Zustand anspielt. (Anzumerken ist, dass nach den fürchterlichen Erfahrungen der erwähnten Warndaten der Kompromiss weit und breit als Erleichterung wahrgenommen wurde.)
Indessen ist Petris Grösse keineswegs als tapfere Ablehnung eines widerlichen Zustands zu begreifen (selbst wenn er, rein biographisch gesehen, zu den Begründern der ungarischen Dissidentenbewegung gehört). Sein lyrischer Diskurs steht dem T.S. Eliots viel näher als dem Brechts: er hat nie irgendeine Gemeinschaft angesprochen oder gar heraufbeschworen, sondern er hat die «Erklärungen» eines Dichters verfasst, der gerade deshalb zur Einsamkeit prädestiniert ist, weil er wie kein anderer um die Vergeblichkeit jeder «Erklärung» weiss – ob diese sich nun eher als gedankliche «Erkenntnis» oder als gefühlsmässige Leidenschaft äussert. Er mochte auf die Texte grosser Vorbilder, auf Catull und Platen anspielen, jedoch immer, um hervorzuheben, dass diese ungültig geworden seien. Noch breiter gefasst: Petri hat stets auf die grosse Tradition des ideologisch inspirierten lyrischen Spruchs angespielt, um hervorzuheben, dass sie verloren ist; hinter – oder besser, vor – seiner Lyrik steht die Erfahrung eines allbestimmenden Verlustes. Man lese neben der eingangs zitierten Zeile zwei Sprüche unter vielen anderen: «Was wird aus mir / hier auf dieser verpockten Felsspitze, / auf dem zermalmenden Zahn des Todes?» und: «… Unser Leben ist lächerlich. Die Details verhöhnen / das Ganze des Wollens.» (Diese letzte Aussage findet sich in einem Gedicht, das Kleists Andenken gewidmet ist.)
Wie die kommunistische Macht diese unbegrenzte Skepsis wahrgenommen hat, die sie eigentlich am stärksten und tiefsten treffen musste, soll hier nicht erzählt werden. Als der Band «Erklärungen für M.» 1971 erschien, waren die Regeln bereits genügend konfus, um die Behörden straucheln zu lassen. Nach der Veröffentlichung stellte sich Petri sozusagen selbst ins «Aus», engagierte sich in der Dissidentenbewegung und verfasste immer häufiger offene Satiren, die nirgends legal publiziert werden konnten. (Dazu muss der Ästhet allerdings anmerken, dass sie nicht alle auf der Höhe von Petris früherer Lyrik stehen.)
Es kamen die Jahre des fin de règne der kommunistischen Herrschaft und schliesslich ihr Fall. Dem verpönten Dichter wurde nun endlich Ruhm und Ehre zuteil. Es kam aber auch, was kommen musste (musste – weil Petri sein Leben wie besessen heruntergebrannt hatte, ununterbrochen rauchend und masslos trinkend): die Todeskrankheit. Und wie zum erneuten Beweis für die bekannte Perversion der künstlerischen Inspiration, jetzt, im Wissen um die unwiderrufliche Verlorenheit, stieg seine Lyrik zu einer neuen Höhe auf. Er war ja schon immer ein philosophischer Dichter gewesen – Philosophie nicht im Sinne blosser Ausbildung (auch wenn er über die ebenfalls verfügte), sondern der steten gedanklichen Distanz gegenüber allen Erfahrungen, auch der eigensten; er war ein philosophischer Dichter in der Tradition von Horaz und Kavafis. In derselben Haltung, mit demselben Geist hatte er nun seine eigene Zersetzung, sein eigenes nahes Verschwinden zu erkennen und zu erklären.
Seine Gedichte wirken wie rezitative Diskurse, in denen er das furchtbare Leiden, aber auch die unverkennbare Hinfälligkeit seines Ich-Helden – und besser, seines Ich-Aberhelden – darlegt und auslegt. Das Wort «Held» ist dem Gedicht «Proton» entlehnt, das ich für das wohl grösste seines lyrischen Werkes halte. Es werden in ihm zwei unterschiedlich hinfällige «Held»-Gestalten einander gegenübergestellt: die Gestalt des ehemaligen Priester-Professors, der so unbestechlich genau um seinen «Platz» in Gottes Welt wusste, dass er gegenüber allen anderen Haltungen blind war, und die Gestalt Petris eigenen ehemaligen Ichs, das gegenüber allen geschlossenen Haltungen so blind war, dass es seitdem nur auf schlimmen Wegen seinen Platz auf dieser Welt suchte. Dennoch, in dem enttäuschten – französisch würde man désenchanté sagen – (mitgedeutet ist: entgliederten) Rezitativ, das sich nicht kontinuierlich, ja nicht einmal nur in Worten ausdrückt, kommt ein hochlyrischer Text zustande. Goethes berühmtes Syntagma über seine «Iphigenie auf Tauris» – «verteufelt human» – würde ich hier am liebsten mit «verteufelt lyrisch» paraphrasieren.
Petri hatte verfügt, dass sein Begräbnis fern von Budapest stattfinden sollte. Er wollte nicht, dass es zur Pflichtübung offizieller und nichtoffizieller Gaffer verkäme. Am Ende des Begräbnisses wurde, so wie er es wünschte, das erste Lied aus Schuberts «Winterreise» gespielt: «Fremd bin ich eingezogen / fremd zieh’ ich wieder aus.» Er war «fremd» – uns fällt es zu, ihn zu verstehen.
Das Gedicht «Proton» wurde aus dem Ungarischen von Péter Por & Zsuzsanna Gahse übersetzt.
Péter Por lebte von 1947 bis 1979 in Ungarn. Der habilitierte Literaturwissenschafter ist Mitarbeiter des Centre national de la recherche scientifique.