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Das zweitgrösste Risikoszenario ist Realität geworden

Auf dem Papier waren die Schweizer Behörden auf eine Pandemie vorbereitet. Doch die Coronakrise offenbarte Mängel, etwa bei der Vorratshaltung von Schutzmaterial oder bei der Koordination zwischen Bund und Kantonen.

 

Während die Covid-19-Pandemie die Schweiz in Atem hielt, wurde teilweise die Frage laut, wie gut die zuständigen Behörden in der Schweiz eigentlich auf ein derartiges Ereignis vor­bereitet waren. Anlass dazu gaben nicht nur die offensichtlichen Engpässe an Schutzmaterial und Testkapazitäten. Auch die Fragen, welche Massnahmen zur Krisenbewältigung sinnvoll seien, ob der Bund oder die Kantone diese anordnen sollen und wer wie weit gehen darf, standen wiederholt im Raum. Hier zeigten sich die Auswirkungen systemischer Rahmenbedingungen der Krisenbewältigung: In der Schweiz sind das Staatsverständnis, die politische Kultur und damit auch das Gesundheitswesen stark von Föderalismus, Subsidiarität und einer hohen Bedeutung der Eigenverantwortung geprägt. Diese Eigenheiten bringen Zuständigkeitsfragen mit sich, begünstigen Verantwortungsdiffusion, erschweren eine zentrale Führung und die rasche Entscheidungsfindung. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach situationsspezifischem, eigenverantwortlichem Handeln und der Erwartung an ein koordiniertes, national einheitliches Vorgehen unter klarer Führung.

Vorbereitung auf hypothetischen Fall

Der Möglichkeit des Auftretens einer Pandemie waren sich die ­Behörden bewusst: Im Risikobericht des Bundesamts für Bevölkerungsschutz von 2015 figurierte eine Pandemie als zweitgrösstes Risikoszenario1 nach einer Strommangellage. Als gesamtschweizerische strategische Grundlage zum Umgang mit einem solchen Ereignis verfügt der Bund seit 2004 über einen Influenza-Pandemieplan, der mehrfach überarbeitet wurde – letztmals 2018. Das BAG verfügt zudem über ein internes Krisenhandbuch zur Re­organisation und Sicherstellung des internen Betriebs. Die Strategien und Massnahmen im Pandemiefall sowie die Zuständig­keiten dafür waren somit grundsätzlich vorbereitet.

Die zuständigen Behörden und Akteure konnten in den letzten rund 20 Jahren mehrfach Erfahrungen mit potenziellen Pandemiesituationen sammeln. Diese wurden jeweils nachträglich aufgearbeitet, unter anderem mit wissenschaftlichen Evaluationsstudien, und führten zu Anpassungen der strategischen und rechtlichen Grundlagen. So revidierte der Bund per 2016 das Epidemiengesetz (EpG), welches die Zuständigkeiten und die Massnahmen zur Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten definiert. Diese Revision beinhaltete unter anderem eine klarere gesetzliche Kompetenz- und Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Kantonen bei der Krisenbewältigung. Dazu wurde das neue Konzept der besonderen Lage eingeführt: Normalerweise sind die Kantone dafür zuständig, Massnahmen zur Verhütung und ­Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten anzuordnen. Neu erhielt der Bundesrat die Kompetenz, in einer besonderen Lage ­gewisse dieser Massnahmen nach Anhörung der Kantone selbst anzuordnen. Wie bisher kann der Bundesrat zudem in einer ausserordentlichen Lage gestützt auf Notrecht die notwendigen Massnahmen direkt anordnen. Dies sollte die Führung in besonderen oder ausserordentlichen Lagen erleichtern, ein einheitliches Vorgehen ermöglichen und die Kantone entlasten.

Im Hinblick auf eine allfällige Anwendung der neuen EpG-Bestimmungen liess das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2018 eine Studie erstellen. Diese untersuchte, welche Herausforderungen Bund und Kantone in einem konkreten Ereignisfall erwarteten und ob das BAG über die nötigen Fähigkeiten und fachliche Expertise verfügt, um die allfälligen neuen Aufgaben im Krisenfall übernehmen zu können. Die zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene bereiteten sich somit auf konzeptioneller Ebene durchaus auf den Umgang mit einer Pandemie vor. Sie versuchten, Lücken und Klärungsbedarf zu identifizieren und gemeinsam ­anzugehen, um im Ereignisfall gerüstet zu sein. Eine Schwierigkeit dabei war allerdings, dass ein solcher Fall noch ziemlich hypothetisch schien und niemand wissen konnte, welche konkreten ­Fragen und Herausforderungen sich stellen würden.

Bewährungsprobe für das neue Krisendispositiv

Wie gut war die Schweiz nun auf Covid-19 vorbereitet? Wie gut haben sich diese Vorbereitungen und das neue Krisendispositiv im Fall von Covid-19 bewährt? Der Katalog der möglichen gesundheitspolitischen Massnahmen (Hygiene- und Abstandsregeln, Testen, Contact Tracing, Veranstaltungsverbote, Schulschliessungen, Maskenpflicht etc.) und die Zuständigkeiten dafür sind im EpG und im Pandemieplan Influenza vordefiniert. Im wesentlichen ging es somit darum, aufgrund der Lagebeurteilung im richtigen Moment die geeigneten Massnahmen anzuordnen und umzusetzen. Eine Schwierigkeit dabei war, dass zum Zeitpunkt des Auftretens noch wenig gesichertes Wissen über das Virus vorhanden war, auf das man die zu treffenden Massnahmen hätte abstützen können. Covid-19 war deshalb ein Beispiel für «Krisenbewältigung im Blindflug». Zusätzlich galt es die Vorbereitung der Bevölkerung auf den Umgang mit einer Pandemie zu beachten. Diese muss die beschlossenen Massnahmen verstehen, mittragen und umsetzen, damit sie überhaupt wirken. Zu früh, ohne eine für die Bevölkerung erkennbare Gefährdung, Massnahmen wie Veranstaltungsverbote, Schulschliessungen oder eine Maskenpflicht anzuordnen, hätte deren Akzeptanz geschwächt.

Bereits Ende Januar setzte das BAG eine regelmässig tagende Taskforce und diverse Arbeitsgruppen ein, die u.a. im Austausch mit den Kantonsärzten Empfehlungen für Massnahmen und zur Kommunikation vorbereiteten. Auch der Bundesstab Bevölkerungsschutz wurde aktiviert. Wie gut diese Organe die Situation erfassten, bevor die ersten Fälle in der Schweiz auftraten, lässt sich von aussen schwer beurteilen. Der Übergang in eine besondere Lage lief jedoch offenbar wie in einer solchen Situation vorgesehen ab. Die Kommunikation des BAG in dieser Phase erweckte den Eindruck einer klaren Strategie gemäss den bestehenden Grundlagen, allerdings mit teilweise fehlendem Wissen über das Virus und dessen Verhalten. Hier schien das BAG nicht optimal vorbereitet. Es war sich bereits aufgrund der vorbereitenden Studie 2018 bewusst, dass ihm der Zugang zu wissenschaftlicher Fachexpertise in gewissen Bereichen fehlte. Es hatte diesen jedoch anscheinend nicht frühzeitig zu verbessern versucht. Eine wissenschaftliche Taskforce setzte der Bund erst Ende März ein.

Eine erwartbare Schwierigkeit war, dass der Bund plötzlich in Themenbereichen verbindliche und für alle Kantone gültige Entscheidungen treffen sollte, in denen er normalerweise keine Zuständigkeiten und somit auch kein Fachwissen hat – beispielsweise über die Schliessung von Schulen oder Kindertagesstätten. Dies ergibt sich aus der föderalistischen Kompetenzordnung und kann nicht als Versäumnis gesehen werden.

Eine Herausforderung der Krisenbewältigung im Föderalismus zeigte sich, als einzelne Kantone weitergehende Massnahmen wie Ausgangsverbote oder die Schliessung von Baustellen anordneten, der Bund dies jedoch zunächst nicht zuliess. Bund und Kantone mussten sich in solchen Fragen finden. Es war unklar, welchen Spielraum das neue rechtliche Dispositiv den Kantonen lässt. Diese wünschten sich weiterhin lokale Entscheidungsbefugnis und die Möglichkeit für situatives Handeln.

Relativ rasch stellte sich heraus, dass das vermeintlich gut etablierte Meldesystem zur Erfassung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten Schwächen aufweist. Die Datenübermittlung von Arztpraxen an das BAG und die Verarbeitung dieser Daten im BAG erwiesen sich als technologisch nicht auf der Höhe der Zeit und fehleranfällig. Kantonale Stellen sprangen deshalb ein und etablierten ein eigenes Monitoringsystem. Dies unterlief zwar die vorgesehenen Zuständigkeiten, zeigte aber zugleich eine Stärke föderalistischer Strukturen.

Aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Arzt- und Spitalbettendichten war die Schweiz in bezug auf Versorgungskapazitäten sicherlich besser auf Covid-19 vorbereitet als andere Staaten. Je nach Ausbreitungsdynamik war eine Überlastung dieser Strukturen zunächst nicht völlig auszuschliessen. Die Spitäler zeigten eine grosse Anpassungsfähigkeit und waren teilweise stark gefordert, aber offenbar nie überfordert.

Abseits der gesundheitspolitischen Herausforderungen war die Schweiz grundsätzlich gut vorbereitet, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdowns abzufedern. Bund und Kantone konnten hierfür auf das etablierte Instrument der Kurzarbeit setzen und dieses rasch und pragmatisch anpassen. Auch die vergleichsweise gute finanzielle Situation der öffentlichen Hand und die pragmatische Zusammenarbeit zwischen Behörden und Banken erlaubten rasches Handeln.

Lehren für die Zukunft

Bund und Kantone waren sich nicht immer einig, zeigten aber eine ausgeprägte Dialogbereitschaft und eine steile Lernkurve in der pragmatischen Anwendung der neuen Zuständigkeitsregelungen. Diese haben höchstwahrscheinlich geholfen, die Situation besser zu bewältigen, als dies vor der EpG-Revision möglich gewesen wäre. Eine fundierte Bilanz steht noch aus, aber Covid-19 hat aufgezeigt, dass weiterhin Schwachpunkte, Lücken und unklare Schnittstellen bestehen.

Die Vorratshaltung und Beschaffung von Schutzmaterial muss kritisch hinterfragt und dürfte neu organisiert werden. Das bisherige Regime, dass Gesundheitseinrichtungen und Unternehmen selbst dafür verantwortlich sind, hat sich im Ernstfall offensichtlich nicht bewährt. Auch das Überwachungs- und Meldesystem und die Organisation der Wissensbeschaffung im Austausch mit Fachkreisen dürften Gegenstand von Anpassungen sein.

Die epidemiologischen Herausforderungen im Zusammenhang mit Covid-19 werden noch länger bestehen. Es ist anzunehmen, dass der Lernprozess zwischen Bund und Kantonen weiter andauern wird und sich die Entscheidungsprozesse und Zu­sammenarbeitsformen klären und besser einspielen werden. Es scheint sinnvoll, im Hinblick auf künftige Ereignisse auch die Strukturen und Mechanismen zur Koordination zwischen den beiden Staatsebenen bei der Pandemiebekämpfung anhand der gemachten Erfahrungen weiterzuentwickeln.

  1. Gemessen an der Kombination der Kriterien «Häufigkeit» und «monetarisiertes Schadenspotenzial».

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