Das Wesen mit den
1000 Gesichtern
Jede Krise ist anders. Eine Zeitreise durch die Wirtschaftsgeschichte.
Aus der griechischen Mythologie kennt man den «Proteus», ein Meeresungeheuer, welches sein Äusseres stets zu verändern vermochte. Ist es mit den Krisen nicht ähnlich? Über Wahrnehmung, Bedeutung und Interpretation gehen die Meinungen oft erheblich auseinander. Jeder scheint etwas anderes zu sehen. Während Krisen einem gewissen Muster folgen, unterliegt deren Einordnung einer Mode. Und doch hat jede Krise am Ende ihr eigenes Gesicht, welches sich jedoch erst später herauskristallisiert. Dieser Wechsel ist schnell erklärt: Wie wir Krisen wahrnehmen und interpretieren, reagieren wir auch auf sie. Je schwerer die Krise ist oder den Betrachtern zumindest erscheint, umso alarmistischer sind ihre Beobachtungen und umso drängender die Aufforderung, doch etwas zu tun. Aber das ist es nicht allein.
Krise als Reinigung
Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es tiefe wirtschaftliche Einschnitte: die erste Weltwirtschaftskrise von 1857, den Gründerkrach von 1873 oder die Banker’s Panic von 1907 in New York. Doch die zeitgenössischen Beobachter waren sich in der Bewertung der Bedeutung und der Folgen dieser Krisen zumeist einig, wenn sie auch jeweils andere Ursachen annahmen. Der Gründerkrach und die sich anschliessende Grosse Depression, eine fast zwanzigjährige Phase gedrückter Stimmung vor dem Hintergrund einer deflationären Entwicklung, liessen zugleich, so sah das jedenfalls Joseph Schumpeter, das Totenglöcklein des Wirtschaftsliberalismus läuten: Eine Periode des Neomerkantilismus begann, in der viele Staaten vor allem ihre nationalen Märkte und ihre jeweiligen Gewerbezweige schützen wollten, allen voran die USA. Doch die Krise selbst führte 1873 keineswegs zu unmittelbaren Interventionen; auch in den kommenden Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lösten die wiederkehrenden zyklischen Einbrüche kaum staatliche Reaktionen aus, die sich mit der modernen Wirtschaftspolitik vergleichen liessen.
«Den Staaten und Zentralbanken, die ihr Pulver verschossen haben, ist wenig geblieben, sollte es zu einer neuen ernsthaften Krise kommen.»
Das zeitweilig modische Reden mancher Historiker vom entstehenden Interventionsstaat oder gar einer Art organisiertem Kapitalismus, der sich des Staates im eigenen Interesse bediene, hat sich empirisch nicht bestätigen lassen. Noch überwog eine verbreitete Skepsis gegenüber den Möglichkeiten staatlichen Handelns und dessen möglichen Folgen. Nicht zuletzt aus der Angst heraus, eine zentralbankliche Absicherung des Finanzmarktes begünstige spekulatives, unverantwortliches Handeln einzelner Finanzhäuser, war die erste Zentralbank in den USA in den 1830er Jahren wieder abgeschafft worden, und die endgültige Gründung der Fed 1912 war erst nach erheblichen Auseinandersetzungen möglich. Zuvor hatten die Union und die einzelnen Staaten lieber die Pleite vieler Bankhäuser in Kauf genommen; erst die Banker’s Panic von 1907 brachte den Anstoss, das zu ändern. Aber der vorherrschende Eindruck vor 1914 war doch der, dass schwere Krisen eine Art Kinderkrankheit des Kapitalismus seien, die zudem auch ganz nützliche Seiten hätten. Denn durch das Ausscheiden der schwächeren Unternehmen komme den Krisen eine Reinigungsfunktion zu; nach ihrer Überwindung könne sich der wirtschaftliche Strukturwandel umso dynamischer vollziehen, während die sozialen Folgen dieser Krisen zumindest in den Augen der Regierungen weniger ins Gewicht fielen. Angesichts der Tatsache, dass in der Belle Epoque vor 1914 lange Vollbeschäftigung herrschte – in Nordwesteuropa und Nordamerika war zwischen 1890 und 1914 Arbeitslosigkeit ein überaus seltenes Phänomen –, hatte diese Gelassenheit zweifellos auch ihre Berechtigung.
Der Interventionsstaat schlägt zurück
Mit dem Ersten Weltkrieg wurde dann allerdings vieles anders, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen fingen Regierungen an, sich als Sachwalter ihrer Wählerschaft zu begreifen – ein Zugeständnis an die aufkommende Massendemokratie. Zum anderen schien eine passive Rolle des Staates nach den schweren sozialen und wirtschaftlichen Einschnitten durch den Krieg nicht länger in Frage zu kommen. Hinzu kam noch chronische Unterbeschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit. Vor allem in Grossbritannien und in Deutschland spitzten sich dadurch die sozialen Auseinandersetzungen zu, die der Staat durch den Ausbau entsprechender wirtschafts- und sozialpolitischer Instrumente zu mildern, wenn nicht zu pazifizieren suchte. Dort, wo es wirtschaftlich günstiger stand, etwa in den USA, war das nicht der Fall; aber in Europa entstanden doch nach und nach sozialstaatliche Strukturen mit dem erklärten Ziel, die breite Masse der Bevölkerung auch vor ökonomischen Krisen zu schützen. Entsprechend aufwendiger wurde das Staatshandeln. Hatten die Staaten vor 1914 weniger als 15 Prozent des Sozialprodukts für sich in Anspruch genommen, stiegen die Ausgaben nun rasch an und erreichten etwa in Deutschland Ende der 1920er Jahre die Marke von 30 Prozent.
Neben der Rolle des Staates änderte sich auch das Wissen von den Krisen, wobei die Krise von 1929 bis zum Ende der dreissiger Jahre die eigentliche intellektuelle Herausforderung war. Das 19. Jahrhundert hatte akademisch und pragmatisch die Vorstellung sich automatisch einstellender wirtschaftlicher Gleichgewichte gepflegt, eine Vorstellung, von der letztlich nur die marxistische politische Ökonomie abwich, für die die Wirtschaftskrise vielmehr der wiederkehrende Normalzustand der kapitalistischen Wirtschaft war. Zwar hatte bereits Joseph A. Schumpeter mit seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung das gleichgewichtige Wachstum in den Bereich eines nur konzeptionell hilfreichen Mythos verwiesen, aber Schumpeter plädierte keineswegs für eine politische Gestaltung der zyklischen Entwicklung, was er vielmehr jetzt und auch später für ziemlich aussichtslos hielt. Im Grunde gab es diesseits marxistischer Auffassungen eine Art liberalen Konsens sich automatisch einstellender Fliessgleichgewichte im wirtschaftlichen Wandel, wenn ihn nicht gravierende politische Fehler ins Ungleichgewicht brachten. Die Weltwirtschaftskrise von 1929, mit Einbrüchen des Sozialproduktes in den USA und in Deutschland von mehr als 35 Prozent, die Massenarbeitslosigkeit und das Massenelend, die damit verbundene Destabilisierung der politischen Ordnungen liessen derartige Vorstellungen als illusionär erscheinen; ein liberales Zuwarten war weder praktikabel noch politisch klug. Nur was konnte, was sollte, was durfte der Staat tun?
Pfusch am Bau: Wenn die Lösung das Problem ist
Wenn man mal nicht weiterweiss, gründet man einen Arbeitskreis. Bevor die Konjunktur blühte, blühte erst mal die Konjunkturforschung. In den USA war 1920 mit dem National Bureau of Economic Research das erste einschlägige Forschungsinstitut errichtet worden, dem einige Jahre später das Institut für Konjunkturforschung in Berlin folgte. Doch brachte die Verbesserung der statistischen Erfassung der Wirtschaft noch keine neuen Kriseninterpretationen, die einem zielgerichteten politischen Handeln den Weg hätten weisen können. Nach und nach aber breitete sich die Überzeugung aus, im Zweifelsfalle müsse der Staat aktiv eingreifen und mit seinen Mitteln eine Lösung von wirtschaftlichen Problemlagen herbeiführen, wenn diese spontan nicht eintrat oder zu lange auf sich warten liess. Doch schon die ersten einschlägigen Erfahrungen zeigten, dass derartiges Handeln erhebliche, unerwünschte Nebenfolgen haben konnte. So betrieb der deutsche Staat in der kurzen Krise des Jahres 1925 eine Art antizyklische Politik avant la lettre, sah sich aber wegen der Mehrausgaben in der Folge mit einem chronischen Haushaltsdefizit konfrontiert, das ihm in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 erhebliche Restriktionen auferlegte.
Die noch von der grossen Inflation her bestehende Angst vor der Geldentwertung durch Staatsverschuldung verhinderte zudem Kreditaufnahmen, die gesetzlich allerdings ohnehin sehr schwierig waren. Auch in anderen Ländern, namentlich in den USA, experimentierte man mit entsprechenden Massnahmen; selbst unter der Regierung Hoover finden sich keynesianische Schritte, die aber nicht ausreichten, das Desaster der Krise auch nur zu mindern. In dieser Konstellation war das Erscheinen des Buches von John Maynard Keynes, seine «General Theory», eine regelrechte Erlösung, und so wurde es auch begierig aufgegriffen. Wenn die Krise, wie Keynes annahm, die Folge pessimistischer Zukunftserwartungen von Haushalten und Unternehmen war, die lieber ihr Geld horteten, als zu konsumieren und zu investieren, dann war es nur sinnvoll, wenn der Staat von sich aus (mit Krediten) intervenierte und dadurch die Blockade auflöste. Dieses Szenario eines intervenierenden Staates in den ökonomischen Prozess erfüllte zwar in der Krise die Erwartungen nicht mehr, wurde aber für die gesamte Wirtschaftspolitik der westlichen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger eindeutig zur Leitlinie. Das Konzept feierte als Globalsteuerung weltweite Anerkennung, kombinierte dabei eine Art keynesianisches ökonomisches Finetuning mit einer verbesserten statistischen Erfassung wirtschaftlicher Aktivitäten, so dass die neue Wirtschaftspolitik schliesslich als eine Art theoretisch geadelte Pragmatik daherkommen konnte, geradezu mustergültig verkörpert durch den deutschen Ökonomieprofessor und Wirtschaftspolitiker Karl Schiller. Aber schon zuvor, verankert im sog. Stabilitätsgesetz von 1967, hatte sich eine derartige Auffassung auch im scheinbar ordoliberalen Westdeutschland nach und nach ausgebreitet; in den anderen westlichen Staaten war es ohnehin selbstverständlich, dass der Staat in der Pflicht war, das «magische Viereck» aus Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, aussenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Preisstabilität angemessen zu managen.
Ordnung ist das halbe Leben… Geldpolitik die andere Hälfte
Dabei war die keynesianische Krisenkonzeption und das von ihr hergeleitete Konzept eines umfassenden staatlichen Steuerungsanspruchs keineswegs die einzige Erklärung der grossen Wirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre. Schon zeitgenössisch hatten jüngere Ökonomen, die später als Ordoliberale bezeichnet wurden, die Tiefe der Krise als Folge einer Art Marktversagens diagnostiziert, das durch deren Vermachtung durch organisierte Interessen (Trusts, Kartelle, Gewerkschaften) und die fatale Schwäche des Staates, den Markt vor den Interessenten zu schützen, verursacht worden sei. Die sich hier entwickelnde Therapie setzte auf den starken Staat als «Hüter des Marktes», der, über den Interessenten stehend, die Marktfunktionen vor den egoistischen Verhaltensweisen der grossen Akteure schützen sollte, eine Auffassung, die dann für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft massgeblich wurde.
Sehr viel einflussreicher war die Krisenerklärung durch Milton Friedman und Anna J. Schwartz, die in einer Geschichte des amerikanischen Zentralbankwesens bereits in den 1960er Jahren darauf hinwiesen, eine fehlerhafte Geldpolitik hätte die Krise herbeigeführt und schliesslich zu ihrer dramatischen Verschärfung beigetragen; der deflationäre Ansatz der seinerzeitigen Regierungen und der Zentralbank trage mithin die Schuld an der Tiefe der Krise. Ihre Schlussfolgerung hieraus war so einfach wie handlungsanleitend: Wenn wirtschaftliche Entwicklung und Geldmengenwachstum im Gleichgewicht seien, funktionierten die Märkte reibungslos; Krisen waren (und sind) in dieser Sicht also Folgen einer fehlerhaften Geldpolitik von Regierungen und Zentralbanken, die entweder die Geldmenge zu knapp halten oder zu stark ausdehnen. Das Konzept der Geldmengensteuerung bei gleichzeitiger Zurückhaltung des Staates gegenüber direkten (keynesianischen) Eingriffen wurde freilich erst im Kontext der Krisen der 1970er Jahre wirklich einflussreich, als die keynesianische Wirtschaftspolitik im Dilemma hoher Inflationsraten, wachsender Arbeitslosigkeit, niedriger Wachstumsraten und stark zunehmender Staatsverschuldung regelrecht zerbrach. Die Hoffnung, durch staatliches (kreditfinanziertes) antizyklisches Handeln eine gleichgewichtige wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen, wurde grandios enttäuscht, keynesianische Annahmen (Philipps-Kurve) in Frage gestellt, die sozialdemokratischen Parteien, die für dieses Programm stets auch aus sozialpolitischen Gründen eingetreten waren, bei Wahlen abgestraft. Der wirtschaftspolitische Neuanfang, Angebotspolitik mit Geldmengensteuerung und schlankem Staat bei gleichzeitiger Deregulierung, war ein zum Teil harter Bruch mit der Vergangenheit; man sprach in Grossbritannien unter Thatcher gar von einer Art «neoliberaler Revolution», doch waren derartige Qualifizierungen von Anfang an auch polemische Zuschreibungen aus dem Lager derjenigen politischen Kräfte, die wie die Gewerkschaften nun ihre Felle wegschwimmen sahen.
Interventionsland ist abgebrannt
Doch dieser Kurs setzte sich durch: Tony Blair und Bill Clinton, obgleich politische Kontrahenten von Thatcher und Reagan, hielten im Kern an der Politik ihrer Vorgänger fest, die erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 einen dann allerdings harten Schlag erhielt. So wie dem «Keynesianismus» erging es nun dem «Neoliberalismus»; die erste grosse Krise liess die Steuerungsillusionen rasch zerplatzen. Die «Ismen» haben seither ausgedient, nicht aber die Hoffnung, der Staat werde es schon richten. Vielmehr gibt es gegenwärtig einen Mix aller möglichen Interventionen von direkten Eingriffen (Abwrackprämien, Subventionen, Kreditaktionen, Bankenrettung) über allerdings ziemlich diffuse Regulierungen bis hin zu einer Politik des billigen Geldes und der Niedrigzinsen. Die Folge davon, nämlich überschuldete Staaten und Haushalte sowie Zombiebanken bei gleichzeitigem anämischem Wachstum, könnte der Stoff sein, aus dem die nächste Krise gemacht wird. Die Kollateralschäden der Antikrisenpolitik werden immer sichtbarer: Den Staaten und Zentralbanken, die ihr Pulver verschossen haben, ist wenig geblieben, sollte es zu einer neuen ernsthaften Krise kommen.
Die heutige Lage ist vor allem das Ergebnis der fatalen Politisierung der Ökonomie, deren Krisen und Strukturprobleme als Nachteile hingestellt wurden und werden, die bei der richtigen Politik leicht zu vermeiden wären. Was Joseph Schumpeter sagte, dass nämlich der strukturelle Wandel die Form ist, in der sich die wirtschaftliche Entwicklung vollzieht, dass, wenn man ökonomische Dynamik will, «schöpferische Zerstörung» ebenso dazugehört wie wiederkehrende Krisen, all das wurde und wird nicht gehört, weil es sich schlecht für politische Parolen eignet. Dabei wäre ein Umgang mit Krisen, der ihre Existenz ebenso akzeptiert wie ihre sozialen Folgen ernst nimmt und bei unverschuldeter Not hilft, nicht nur sehr viel preiswerter und hätte deutlich weniger Kollateralschäden wie die hohe Staatsverschuldung und das Setzen eklatanter Fehlanreize; er wäre nicht einmal riskanter, denn das ganze Feuerwerk staatlicher Wirtschaftssteuerung hat die Wirtschaftskrisen und ihre Wiederkehr ja gerade nicht verhindert.