Das Vorsorgesystem klemmt
die Digitalisierung ab
Die archaische Zwangsjacke für Pensionskassen verbannt innovative Angebote in eine kleine Nische. Das führt zu höheren Kosten und einer schlechteren finanziellen Absicherung im Alter. Die USA zeigen, dass es auch anders geht.
Die Aufgabe, etwas Lesenswertes über die Digitalisierung in der Schweizer Altersvorsorge zu schreiben, ist anspruchsvoll. Welche Digitalisierung? Viele Pensionskassen haben noch nicht einmal eine Website. Ein digital abrufbarer PK-Ausweis gilt bereits als bahnbrechend. Innovationen beschränken sich denn auch bislang auf ein paar Ideen, die das Backoffice der Pensionskassen vereinfachen könnten: Stellenwechsel per App anmelden, Kapitalvorbezug online beantragen… Gut und recht, aber das sind im grösseren Kontext betrachtet Peanuts.
Denn das technologische Potenzial in der Altersvorsorge liegt bei der eigentlichen Vermögensverwaltung. Doch hier verhindert die Struktur des Vorsorgesystems, dass die Vorteile der Digitalisierung wirklich genutzt werden. Die Altersvorsorge in der Schweiz ist weitgehend kollektiv organisiert; würde das System stärker individualisiert, wäre der Markt grösser, in dem dank Digitalisierung Grössenvorteile genutzt werden könnten. Einen kleinen Vorgeschmack dessen, was möglich wäre, geben digitale Schweizer Vermögensverwalter mit Säule-3a-Produkten wie Descartes Vorsorge oder Viac. Da unterstützt ein Robo-Advisor die Anleger bei ihren Investitionsentscheidungen nach den neuesten Erkenntnissen der Finanzwirtschaft. Die Kosten, inklusive Verwaltungsgebühren, betragen je nach Risikoprofil zwischen 0,5 und 0,8 Prozent pro Jahr auf dem investierten Kapital. Wäre der Markt grösser, ginge es noch deutlich günstiger.
Bei der Säule 3a handelt es sich um die einzige wirklich individuelle Form der Altersvorsorge, bei der digitale Lösungen bereits heute prosperieren können. Aber es ist nur eine Nische. Im Jahr 2020 beliefen sich die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an die AHV auf 12,4 Milliarden Franken (ohne Mehrwertsteuer und Bundesbeiträge), die Beiträge und Einlagen zugunsten der beruflichen Vorsorge (BVG) auf 66,4 Milliarden Franken. Die Einzahlungen in die 3. Säule betrugen im Jahr 2018 (dem letzten Jahr, für das Zahlen verfügbar sind) knapp 11 Milliarden Franken.
Und doch: Am Ende jedes Jahres hat die dritte Säule Hochkonjunktur. Jene, die ihre Altersvorsorge ernst nehmen (und sie sich auch leisten können), überweisen den steuerfreien Maximalbetrag (seit diesem Jahr 7056 Franken) auf das persönliche 3a-Konto bei einer Bank oder bei einem Vermögensverwalter.
Die erste Säule funktioniert bekanntlich als ein reines Umlageverfahren. Die AHV leidet daher unter dem Druck der Demografie und wird mit der im September 2022 beschlossenen Reform nur notdürftig wieder für zehn Jahre seetüchtig gehalten. Und die zweite Säule, die betriebliche Vorsorge, ist theoretisch als individueller Aufbau von Alterskapital innerhalb der Pensionskassen konzipiert. Mit den gesetzlich festgelegten Umwandlungssätzen, Mindestverzinsungen, Anlagevorschriften und an Stiftungsräte delegierten Anlageentscheidungen entzieht sich das Pensionskassenkapital jedoch dem Einfluss der Versicherten. So kommt es zu einer Umverteilung von den Beitragszahlern hin zu den Rentenempfängern und zu einem eigentlich nicht vorgesehenen Kapitalverzehr.
In den USA ist alles grösser
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie lebten in den USA und verhandelten mit einem neuen potentiellen Arbeitgeber. Schon während der Lohnverhandlung ist die Altersvorsorge selbstverständlich ein Thema. Viele amerikanische Firmen verfügen über 401(k)-Vorsorgepläne. Eingezahlt wird in der Regel paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die jährliche Maximaleinzahlung, die vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden kann, beträgt 22 500 Dollar, also mehr als das Dreifache des Schweizer 3a-Maximalbetrags! Die Auswahl des zulässigen Universums an Anlageprodukten obliegt dem Arbeitgeber respektive dessen Vorsorgedienstleister. Die Entscheidung für die Anlagestrategie innerhalb der zur Auswahl stehenden Instrumente liegt aber bei Ihnen, dem Arbeitnehmer.
In diesem US-Vorsorgekosmos tut sich in Sachen Digitalisierung einiges. Die führenden Robo-Advisors Betterment und Wealthfront verzeichnen zwei- bis dreistellige Wachstumsraten. Viele Firmen haben nämlich gemerkt, dass das grosse Anlageuniversum dieser grossen Player, verbunden mit minimalen Verwaltungskosten von 0,25 Prozent pro Jahr, ein schlagendes Argument bei der Gewinnung und Bindung von Mitarbeitenden ist.
Individuell optimierte Strategie
Die Potenziale der Digitalisierung in der Altersvorsorge sind theoretisch beträchtlich. Erstens summieren sich die tieferen Verwaltungskosten, die dank Grössenvorteilen und automatisierten Investitionsentscheiden möglich sind. Wer mit 30 Jahren das Alterssparen beginnt und jährlich 10 000 Dollar einzahlt, erreicht mit 65 Jahren ein deutlich höheres Alterskapital. Geht man von einer durchschnittlichen Portfoliorendite von 5 Prozent aus, liegt am Schluss bei 0,25 Prozent Verwaltungskosten ein Betrag von 908 529 Dollar auf dem Konto, im Unterschied zu 775 983 Dollar bei konventionellen Verwaltungskosten von 1 Prozent. Die «Digitalisierungsrente» beträgt in diesem Beispiel 132 456 Dollar.
Der zweite Vorteil ergibt sich aus der Möglichkeit, die Anlagen den individuellen Charakteristiken des Anlegers anzupassen, insbesondere seinem Alter. Die meisten Menschen, die auf den Ruhestand hinsparen, sind aus finanzwirtschaftlicher Sicht am besten bedient mit einem einfachen Portfolio aus breitdiversifizierten Indexfonds auf Aktien und Obligationen. Allerdings verändert sich mit zunehmendem Alter die Risikofähigkeit: In jungen Jahren ist es vorteilhaft, mit einer hohen Aktienquote zu fahren. Je näher der Ruhestand rückt, desto gefährlicher werden die starken Schwankungen der Aktienmärkte, was eine gleitende Umschichtung von Aktien hin zu Obligationen erfordert. Mit digitalen Lösungen lässt sich eine solche Optimierung des Portfolios hinsichtlich Lebensphase und Alter kostengünstig und effizient bewerkstelligen. Es ist keine Rocket Science, die man nicht einem Computer anvertrauen könnte.
Milliarden werden verschwendet
In dieser Hinsicht ist das Schweizer Pensionskassensystem ein ziemlicher Horror. Finanzwirtschaftlich gesprochen: Die Stiftungsräte oder ihre Beauftragten maximieren nicht den Erwartungswert des Alterskapitals eines 30-Jährigen bei der Pensionierung. Sie maximieren den Erwartungswert des Alterskapitals des durchschnittlichen Versicherten ihrer Pensionskasse. Und zwar unter drei Nebenbedingungen, die auf Kosten der Rendite gehen: Erstens rigide gesetzliche Vorschriften, was zum Beispiel die Aktienquote anbelangt. Zweitens die Vorhaltung ausreichender Liquidität, etwa um die Babyboomer auszuzahlen. Und drittens die Minimierung des persönlichen Risikos, das sich aus der Organhaftung ergibt. Wer also als jüngerer Angestellter das Pech hat, einer relativ überalterten Pensionskasse anzugehören, kann sich selbst ausmalen, dass ihn dieses institutionelle Set-up sehr viel Geld kostet.
Auch die Vermögensverwaltung bewerkstelligen die Pensionskassen nicht besonders effizient oder kostengünstig. Die Administrations- und Verwaltungskosten betragen gut 0,55 Prozent. Das ist ein sehr hoher Wert, wenn man das Anlagevolumen von über 1 Billion Franken und die nicht vorhandene Individualisierung bedenkt. Im Vergleich zur Benchmark von Betterment (0,25 Prozent all inclusive) verschwendet das BVG-System jedes Jahr mehr als 2,5 Milliarden Franken, knapp 600 Franken pro Versicherten. Und diese summieren sich über ein Arbeitsleben von 45 Jahren bei einer Portfoliorendite von 5 Prozent auf gut 57 000 Franken. Grund für die Verschwendung ist die fehlende Individualisierung, die wiederum mit der fehlenden Digitalisierung zusammenhängt.
Richtig skalieren
Eine konsequente Digitalisierung der Schweizer Altersvorsorge würde die finanzielle Lage der meisten Arbeitnehmer im Alter massiv verbessern. Insbesondere die Jungen würden im Rahmen von Zehn- bis Hunderttausenden von Franken profitieren. Das aktuelle Pensionskassensystem verunmöglicht das Heben dieses Schatzes. Denn wie das Beispiel USA zeigt, braucht es für eine wirkungsvolle digitale Skalierung einen grossen Markt. Dieser ist in der Schweiz nicht gegeben, solange die archaische Zwangsjacke der Pensionskassen das Vorsorgekapital abschnürt.