«Das Vorgehen der EU entspricht nicht dem, was wir abgemacht haben»
Zwei Ökonomen mit unterschiedlichen Perspektiven sind sich in einer Sache einig: Der Entscheid des Bundesrats zum Abbruch der Rahmenabkommensverhandlung war überfällig. Beide plädieren für Gelassenheit.
Gehören Sie beide zu einer «unheiligen Allianz», die das Rahmenabkommen zu Fall gebracht hat?
Daniel Lampart: Es gab keine Allianzen. Die Gewerkschaften hatten von Anfang an eine klare Position: Der eigenständige Lohnschutz muss gewährleistet werden. Der Bundesrat hat das entsprechende Verhandlungsmandat erteilt und die Verhandlungen aufgenommen. Das Resultat überzeugte nicht. Dass es andere Akteure gibt, die aus anderen Gründen gegen das Rahmenabkommen sind, ist eine Tatsache. So wie bei anderen Vorlagen auch.
Ist Ihnen unwohl dabei, eine Vorlage abzulehnen, die auch von den Gewerkschaften bekämpft wird, Herr Eichenberger?
Reiner Eichenberger: Nein. Ich bin nicht parteipolitisch aktiv, sondern Ökonom. Ich habe auch keine Allianzen festgestellt, sondern eine neue Konstellation: Personen, die der FDP nahestehen, haben die Angst verloren, in die Blocher-Schublade gesteckt zu werden. Dadurch wurde ein freieres Denken möglich. Neue Gruppen wie Autonomiesuisse oder Kompass / Europa sind so entstanden.
Für die Gewerkschaften war es kein Problem, auf der Seite von Christoph Blocher zu stehen?
Lampart: Wir stehen nicht auf der Seite von alt Bundesrat Blocher, der gegen den Lohnschutz kämpft. Wir haben eine progressive, soziale Position und wünschen uns gute Beziehungen mit der EU, die den Arbeitnehmern und der Schweizer Wirtschaft nützen. Wir sind stolz auf den bilateralen Weg. Die Personenfreizügigkeit hat sozialen Fortschritt gebracht. Wir konnten die Löhne erhöhen und die Absicherung verbessern – bei einer gleichzeitigen Öffnung. Die Arbeitnehmerschaft werden wir aber nicht im Regen stehen lassen. Wenn Löhne in Richtung 3500 Franken tendieren, wie dies bei deutschen Handwerkern verbreitet ist, ist das inakzeptabel.
Teilen Sie die Analyse, dass das Rahmenabkommen eine Gefahr für die Löhne darstellt, Herr Eichenberger?
Eichenberger: Kurzfristig stimmt, dass das Rahmenabkommen den Lohnschutz geschwächt hätte. Die langfristige Katastrophe für die Schweizer Löhne ist aber die Personenfreizügigkeit in Verbindung mit zunehmenden flankierenden Massnahmen. Das eine Problem ist das starke Bevölkerungswachstum, das zu Füllungseffekten führt. Dadurch sinken zwar nicht die Einkommen, aber der Wert des Lohns: Bauland wird teurer, Mieten steigen, Pendeldistanzen werden länger, die CO2-Reduktion verteuert sich massiv und die Steuern müssen angehoben werden, um den nötigen Ausbau der Infrastruktur und Schulen zu finanzieren. Das zweite Problem ist, dass die Markteingriffe zum angeblichen Lohnschutz das Gegenteil bewirken, nämlich tieferen Wohlstand infolge, wie es Ökonomen nennen, «Insider-Outsider-Diskriminierung».
Was bedeutet das?
Eichenberger: Leute, die neu in einen Markt eintreten möchten, werden diskriminiert. Im Gegensatz zur Inländer-Ausländer-Diskriminierung ist Insider-Outsider-Diskriminierung in der EU erlaubt. Die Insider – das sind die Alten, die eine Stelle und eine Wohnung haben – werden massiv geschützt. Die Outsider – potentielle Zuwanderer sowie die eigene Jugend – werden diskriminiert. Viele erhalten keine feste Stelle und können sich kaum eine eigene Wohnung leisten. Das ist eine Katastrophe, an der die EU am Schluss sogar zerbrechen könnte. Versuchen Sie einmal, als Schweizer in Italien einen Job und eine Wohnung zu vernünftigen Bedingungen zu finden – unmöglich, so hoch sind die Hürden. Die Personenfreizügigkeit funktioniert auch innerhalb der EU nicht, sondern wird mit Lohn- und Wohnschutzmechanismen untergraben. In der offenen Schweiz sorgt sie langfristig dafür, dass die Löhne nicht so stark steigen, wie sie eigentlich sollten.
Mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt führt zu tieferen Löhnen. Teilen Sie diesen Vorbehalt gegenüber der Personenfreizügigkeit, Herr Lampart?
Lampart: In Verbindung mit den flankierenden Massnahmen hat die Personenfreizügigkeit die Konkurrenz auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sogar verringert – im Vergleich zum früheren Migrationsregime mit Kontingenten. Bis in die 1990er-Jahre wurden die Kontingente so festgelegt, wie dies die Arbeitgeber forderten. Die Zuwanderung in die Schweiz wurde damals nicht wirklich gesteuert. Wir wussten früher gar nicht, wie viel Zuwanderung wir hatten, weil ein grosser Teil schwarz erfolgte. Heute ist die Situation besser geregelt: Wer einwandern will, benötigt einen Arbeitsvertrag. Damit wurden die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt, durch eine bessere GAV-Abdeckung, höhere Mindestlöhne und einen sichereren Aufenthaltsstatus. So sind in der Schweiz, im Gegensatz etwa zu Deutschland, sogar die untersten Löhne gestiegen. Und dies bei einer starken Aufwertung des Frankens.
«Ich warne davor, das Rahmenabkommen
als Preis für den Binnenmarkt zu sehen.»
Eichenberger: Das Kontingentsregime war deshalb problematisch, weil sich keine Branche für die nationalen Probleme interessiert, die durch ein schnelles Bevölkerungswachstum entstehen. Jede Branche möchte einfach möglichst viele und günstige Mitarbeiter. Bis 1997 wurden vor allem unqualifizierte Arbeitnehmer ins Land geholt; auch Gutqualifizierte mussten oft zuerst in der Landwirtschaft oder auf dem Bau arbeiten, was die Löhne nach unten drückte. Wir sind uns also einig: Kontingente sind nicht die Lösung, sondern führen zu einer Übernachfrage. Die Schwarzarbeit hat aber nichts mit den Kontingenten zu tun.
Die bürgerliche Seite kritisierte das Rahmenabkommen primär wegen Souveränitätsbedenken. Teilen Sie diese Befürchtungen, Herr Lampart?
Lampart: Rein aus gewerkschaftlicher Sicht gibt es starke Argumente, um mit der EU zu kooperieren: Die Wirtschaft wird stärker international. Neue grosse Herausforderungen lassen sich wahrscheinlich nur im grösseren Verbund lösen. Die EU bewirkt auch Gutes.
Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) betrachten Sie aber kritisch.
Lampart: Der EuGH ist nicht einfach ein Gericht, sondern er versteht sich auch als politische Institution, die einen wichtigen Beitrag zur Expansion des Binnenmarkts leistet. Der EuGH betrachtet nationales Recht als den Unionsverträgen untergeordnet. Das ist heikel, denn es wäre wichtig, dass ein Gleichgewicht besteht zwischen der Realisierung des Binnenmarkts und sozialen Anliegen. Der Lohnschutz etwa müsste gleichwertig sein mit den Zielen des Binnenmarkts.
Ihre Kritik an der Personenfreizügigkeit ist noch grundsätzlicher, oder?
Eichenberger: Die EU ist nicht ehrlich. Sie behauptet, die Personenfreizügigkeit sei heilig, «die vierte Freiheit». Aber sie will die freien Märkte mit Lohnschutz kombinieren, etwa über die Entsenderichtlinie, die den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit am gleichen Ort fordert. Das veranlasst Politiker, die Mindestlöhne hochzuschrauben, um so schlecht qualifizierte Zuwanderer fernzuhalten. Allerdings steigt die Attraktivität für gut ausgebildete Leute aus armen EU-Ländern. Also schützt man die Insider noch stärker mit einem Kündigungsschutz. Der angeblich freie EU-Markt führt am Schluss zu schrecklichen Regulierungen, die langfristig allen schaden. Man kann es sich nicht leisten, die alte Wohnung mit Mietschutz zu verlassen, und man kann den Job nicht mehr wechseln, hat dort aber einen Kündigungsschutz. Am Schluss ist die Politik völlig reformunfähig. Wo liberalisiert wird, werden viele der freiwerdenden und neuen Jobs und Wohnungen durch Zuwanderer besetzt. Es entsteht kein symmetrischer Wettbewerb, sondern einseitige Wanderung.
Innerhalb der Schweiz oder der USA funktioniert die Personenfreizügigkeit jedoch.
Eichenberger: In diesen Räumen besteht eine institutionelle Äquivalenz, also etwa gleich leistungsfähige Institutionen. Damit haben die Bewohner die Gewissheit, dass die Situation an einem Ort langfristig nicht systematisch besser ist. Sonst wandern alle von den schlechten zu den guten Orten, und es kommt dort zu Überfüllungseffekten. Es braucht eine Symmetrie der Wanderungen. In der EU fehlt diese. Schwache Länder wie Bulgarien oder Rumänien sind derart unattraktiv, dass die Wanderungen nur in eine Richtung gehen. Attraktive, sprachlich zugängliche Länder mit funktionierenden Arbeits- und Wohnraummärkten müssen diese auch verregulieren – oder aus der EU austreten, so wie Grossbritannien. Die EU hat ein riesiges Problem.
Zurück zum Rahmenabkommen: Die EU erwartet oder droht, dass die bestehenden bilateralen Abkommen zwangsläufig veralten. Erodieren nun unsere Beziehungen zur EU schleichend?
Lampart: Ich bin kein Politprognostiker, sondern Akteur. Klar ist, dass die bilateralen Verträge weiterhin gelten. Es hat mich überrascht, dass die EU im bestehenden Abkommen über die technischen Handelshemmnisse plötzlich Teile zu Medtech rausgeworfen hat. Das ist eigentlich unzulässig, aber nun eine politische Realität. Die EU-Kommission hat spekuliert, dass die Schweiz in den Verhandlungen einknickt. Nach dem Abbruch gibt es nun Racheaktionen. Ich warne jedenfalls davor, das Rahmenabkommen als Preis für den Binnenmarkt zu sehen. Denn der Binnenmarkt ist für unsere Beziehung zur EU gar nicht so wichtig. Vieles ist bereits über die WTO geregelt. Viel wichtiger ist die Innovationskraft der Schweiz.
Eichenberger: Ja, die Bedeutung des Binnenmarkts wird stark übertrieben. Freihandel ist wichtig. Aber die Bedeutung der Bilateralen I ist gering – das zeigen auch die Studien des Bundes. Die wichtige Simulationsstudie von Ecoplan von 2015 zeigt, wie klein die Wirkungen der Bilateralen I sind: Bis 2035 bringen sie nur total 0,7 Prozent Pro-Kopf-Wachstum – trotz wachstumstreibenden Annahmen und ohne Überfüllungskosten!
«Freihandel ist wichtig. Aber die Bedeutung
der Bilateralen I ist gering – das zeigen
auch die Studien des Bundes.»
Avenir Suisse schätzt den jährlichen Nutzen des Abkommens über technische Handelshemmnisse auf knapp 2 Milliarden Franken.
Eichenberger: Das sind nicht einmal 0,3 Prozent des BIP – und trotzdem massiv übertrieben. Ohne Abkommen gingen die 2 Milliarden nicht verloren, sie würden nur anders erwirtschaftet. Die Schweiz ist eine Vollbeschäftigungswirtschaft. Wenn wir das eine tun, können wir das andere nicht machen. Man muss also auf die viel kleinere zusätzliche Wertschöpfung schauen, die durch eine Handelserleichterung entsteht.
Ganz konkret: Die gegenseitige Anerkennung für Medizinprodukte zwischen der EU und der Schweiz gilt seit dem 26. Mai nicht mehr. Wie damit umgehen?
Eichenberger: Schweizer Firmen können zumeist leicht in der EU zertifizieren. Je nach Branche läuft es unterschiedlich. Zum Teil können Firmen ihre Produkte selber zertifizieren, zum Teil kann man in Schweizer Zertifizierungsinstitutionen direkt EU-Normzeugnisse lösen. In anderen Fällen können EU-Zertifizierungsstellen helfen. Im Medtech-Bereich ist die Situation kompliziert, weil auch die Prozeduren innerhalb der EU verändert wurden. Aber auch hier wurden die Probleme überhöht, weil offensichtlich gewisse Leute die Bilateralen schönreden wollen.
Aus gewerkschaftlicher Sicht: Wie gravierend sind die Probleme rund um das Abkommen über technische Handelshemmnisse?
Lampart: Es ist mühsam. Das Vorgehen der EU entspricht nicht dem, was wir abgemacht haben. Deswegen geht die Schweiz aber nicht unter. Die Firmen müssen ihre Zulassungen jetzt halt beim TÜV Süd oder sonst wo holen. Ich finde das daneben, aber es ist halt so.
Eichenberger: Man könnte den TÜV Süd einladen, in der Schweiz eine Niederlassung zu eröffnen. Oder eine Schweizer Firma könnte im Auftrag des TÜV Süd zertifizieren. Man muss hier etwas innovativ sein. Der EU-Markt ist jedoch nicht abgeschottet. Die Amerikaner, Chinesen und Koreaner können ihre Medtech-Produkte auch in Europa verkaufen.
Über ein Strommarktabkommen verhandelt die Schweiz seit 2007. Kann die Schweiz ohne Abkommen eine stabile Versorgung sicherstellen und die Energiewende umsetzen?
Lampart: Das Abkommen war ja als Marktöffnungsabkommen angedacht. Es hätte den Strommarkt bis zum letzten Endverbraucher öffnen sollen. Das ist inzwischen veraltet. Zur Kernfrage wird die anspruchsvolle Verbrauchssteuerung im Stromnetz, und dort wird es künftig noch stärker in Richtung Service public gehen. Wenn die individuelle Mobilität wirklich stark elektrifiziert wird, dann ändern sich die Lastkurven grundlegend. Soll es ein Stromabkommen geben, dann muss es inhaltlich um völlig andere Themen gehen. Diese muss man allerdings erst evaluieren. Und erst dann mit neuen Verhandlungen beginnen.
Braucht es einen neuen Anlauf für ein Rahmenabkommen?
Eichenberger: Nein. Die Schweiz muss ehrlich sein mit der EU und klar kommunizieren, dass ihr die Bilateralen I nicht viel nützen, aber die Personenfreizügigkeit enorm schadet. Das zuwanderungsbedingte, hohe Bevölkerungswachstum bringt sehr hohe, über die Jahre stark anwachsende Kosten, etwa bei der Raumplanung. Man kann ja schon noch etwas weiter verdichten. Bald einmal aber würde sich das Leben stark verändern. Eine 10-Millionen-Schweiz ist schnell eine 11-Millionen-Schweiz, und wie stoppt man dann die Bevölkerungsentwicklung? Wir machen Klimapläne bis 2100. Bei der Bevölkerungspolitik tun wir aber so, als ob die Konsequenzen der Personenfreizügigkeit trivial wären. Die Füllungseffekte sind jetzt schon da.
Lampart: Im Moment geht es darum, die Wogen zu glätten und die negativen Effekte einzugrenzen. Die Schweiz hat sich zum Teil ja selber in diese Situation hineinmanövriert. Das Rahmenabkommen war keine Erfindung der EU-Kommission, sondern entstammt primär der Partei, die sich heute «die Mitte» nennt. Das Ziel war es, mit dem Rahmenabkommen endlich das EU-Beitrittsdossier zu beerdigen. Kurios ist, dass sich die EU-Beitritts-Befürworter plötzlich als Fans des Rahmenabkommens gebärdet haben – obwohl das Rahmenabkommen ja ein Weg ohne EU-Beitritt darstellt. Das alles zeigt, dass es eine vertiefte Reflexion rund um die EU-Frage braucht. Klar ist aber: Sowohl auf Seite der Schweiz wie auch bei der EU besteht ein grosses Interesse, in den zentralen Fragen gegenseitig zu kooperieren. Die Welt wird sich weiter verändern, es werden neue Themen aufkommen. Wenn diese Gelegenheiten kommen, dann muss man die Verhandlungen gut führen. Eine Neuauflage des Rahmenabkommens unter den bisherigen Bedingungen sehen wir im Moment nicht. Eine Annäherung an Europa bleibt für uns aber wichtig.