Das verdrängte Problem
der Pflegefinanzierung
Wegen des demografischen Wandels steigen die Pflegekosten stark an – und überfordern Kantone und Gemeinden. Es braucht einen Systemwechsel: die Einführung einer Pflegeversicherung.
Die Kosten der Langzeitpflege belaufen sich heute auf rund 12 Milliarden Franken pro Jahr1 und wachsen jährlich um rund 4 Prozent. Für die Pflegekosten im engeren Sinn, welche in Pflegeheimen (rund 4,3 Milliarden) und zu Hause (rund 2 Milliarden) anfallen, wurde die Finanzierung 2011 neu geregelt. War bis anhin die obligatorische Krankenversicherung (OKP) der Hauptkostenträger, beschränkt sich ihr Beitrag heute auf fix festgelegte, nach oben plafonierte Beiträge je Patient. Die Patienten tragen weiterhin Selbstbehalt und Franchise und beteiligen sich seit 2011 mit bis zu 20 Prozent des Krankenkassenbeitrags an den Pflegekosten. Neu hinzugekommen sind die Kantone und/oder Gemeinden, welche die verbleibenden Kosten übernehmen. Nicht Teil dieses Kostenteilers sind die mit Pflegeleistungen zusammenhängenden Kosten, insbesondere die Betreuungs- und Hotelleriekosten in Pflegeheimen. Diese belaufen sich auf rund 5,8 Mrd. Franken und sind durch die Patienten zu finanzieren.
Die Einführung der neuen Pflegefinanzierung 2011 war für die Krankenkassen weitgehend kostenneutral. In der Zwischenzeit ist ihr Finanzierungsanteil laufend gesunken. Allein zwischen 2011 und 2015 hat der Anteil der OKP von 56 auf 51 Prozent bei den stationären Pflegekosten und von 72 auf 70 Prozent bei der Pflege zu Hause abgenommen.2 Im gleichen Zeitraum kletterte der Anteil der stationären Restfinanzierung von Kantonen beziehungsweise Gemeinden von 27 auf 33 Prozent. Die Kostenverschiebung ist durch die einseitige Übertragung der Kostendynamik auf die öffentliche Hand entstanden und hat in den Kantons- beziehungsweise Gemeinderechnungen deutliche Spuren hinterlassen. Im Kanton St. Gallen etwa, wo die Restfinanzierung der Pflegekosten vollständig bei den Gemeinden liegt, belief sich der neu zu übernehmende Kostenblock 2011 auf rund 50 Millionen Franken. Bis 2019 ist dieser um durchschnittlich 7,8 Prozent pro Jahr auf über 90 Millionen angewachsen (siehe Grafik). Heute ist die öffentliche Hand nicht mehr Restfinanzierer, sondern Hauptfinanzierer der direkten Pflegekosten.
Die Beteiligung der öffentlichen Hand an den Kosten der Langzeitpflege ist derweil nicht auf die Pflegefinanzierung beschränkt. Können die Patienten ihren Anteil an den Pflegekosten nicht selber tragen oder übersteigen die Pensions- und Betreuungskosten ihre finanziellen Möglichkeiten, springt der Staat zusätzlich mit AHV-Ergänzungsleistungen (EL) ein. Auch hier ist die Zunahme erheblich: Nach Angaben des Heimverbands Curaviva sind heute rund 60 Prozent der Personen in Pflegeheimen auf EL angewiesen, bei Einführung der Pflegefinanzierung lag dieser Anteil noch bei rund 50 Prozent. Wiederum tragen die Kantone beziehungsweise die Gemeinden die Hauptlast, da sie auch bei den EL zur AHV mit einem Anteil von rund 75 Prozent die Hauptfinanzierer sind (den Rest trägt der Bund).
Die Folgen sind klar: Sowohl die Pflegefinanzierung als auch die Ergänzungsleistungen führen dazu, dass die Langzeitpflege zusehends über kantonale und kommunale Steuergelder finanziert wird. Dabei steht die eigentliche Kostenexplosion erst bevor – die zahlreichen Babyboomer, die nun in Rente gehen, sind in rund 20 Jahren jene, die pflegebedürftig sind. Der Bundesrat schätzte 2016, dass die Kantone und Gemeinden bis 2045 ihre Steuern um 12 Prozent anheben müssten, damit sie im heutigen System die Kosten der Langzeitpflege tragen könnten.3
Während auf Bundesebene aufgrund der geringen Betroffenheit derzeit wenig Bereitschaft erkennbar ist, die Probleme der Pflegefinanzierung anzugehen, können sich Kantone und Gemeinden ein weiteres Zuwarten kaum leisten. Gelingt es nicht, die Finanzierungslasten der Pflege breiter abzustützen, droht eine massive Verdrängung anderer Aufgaben. Rasches Handeln ist aber auch deshalb geboten, weil die Herausforderungen der Pflegefinanzierung kaum durch eine einfache Nachjustierung des bestehenden Systems – etwa eine höhere Beteiligung der Krankenkassen – gelöst werden können. Die Dynamik verlangt vielmehr einen grundlegenden Systemwechsel, der aufgrund der Komplexität und der vielen Beteiligten eine lange Vorlaufzeit erfordert.
Wie könnte ein Systemwechsel aussehen? Eine nachhaltige Lösung könnte eine obligatorische Pflegeversicherung zusätzlich zur Kranken- und Unfallversicherung bringen. Die Pflegebedürftigkeit im Alter ist ein klassisches «Schadensereignis», das nicht alle treffen wird, aber jeden – unabhängig vom Gesundheitszustand und Lebenswandel – treffen kann. Die Schadenssumme aus Kosten von Pflege und damit verbundenem Heimaufenthalt ist derart hoch, dass ein Grossteil der Bevölkerung bis hin zum oberen Mittelstand nicht in der Lage ist, diese selbst zu tragen. Die gängige Lösung in einer solchen Konstellation ist eine Versicherung, in der das Kollektiv den individuellen Schaden trägt.
Ein Ansatz in diese Richtung ist das von Avenir Suisse vor einigen Jahren vorgeschlagene kapitalgedeckte Pflegeversicherungssystem. Darin bauen Haushalte ab 55 Jahren obligatorisch ein individuelles Pflegekapital auf, das im Fall von nachgewiesener Pflegebedürftigkeit für Pflege und Betreuung, stationär oder ambulant, bezogen werden kann. Der Sparpfad ist so ausgestaltet, dass die durchschnittlichen Pflege- und Betreuungskosten (nicht aber Hotelleriekosten) in einem Heim gedeckt werden können. Wird das Pflegekapital zu Lebzeiten nicht aufgebraucht, wird es vererbt. Reichen umgekehrt die Mittel nicht aus, springt der Staat weiterhin mit Ergänzungsleistungen ein.
Eine Alternative wäre eine Sozialversicherung im Umlageverfahren, bei der die eingezahlten Beiträge laufend an die Leistungsbezüger ausbezahlt werden. Grundsätzlich drängt sich ein Umlageverfahren umso mehr auf, je stärker das kapitalgedeckte System durch Solidaritätselemente ergänzt wird. So führt ein Umlageverfahren für Pflege- und Betreuungskosten im Vergleich zum vorgeschlagenen Pflegekapital tendenziell zu tieferen Versicherten- und Staatsbeiträgen, da individuelle Fehlbeträge und Überschüsse in der Versicherung verbleiben – dies im Gegensatz zum vererbbaren Pflegekapital, bei dem der Staat zwar über die EL für Fehlbeträge aufkommen muss, wenn die individuellen Ersparnisse nicht ausreichen, aber umgekehrt überschüssiges Pflegekapital als Erbmasse stehen lässt. Könnten die Pflegekosten mit tieferen Beiträgen abgesichert werden, liesse dies insbesondere Raum, auch die Hotelleriekosten in den Leistungsumfang der Pflegeversicherung einzubeziehen, welche mit dem Heimeintritt automatisch anfallen und seitens der Patienten kaum steuerbar sind. Umgekehrt wäre bei einer Umlagefinanzierung darauf zu achten, dass eine anfänglich zahlenmässig starke Generation von Beitragszahlern nicht nur für die zahlenmässig schwache Bezügergeneration aufkommt, sondern – via Reservenbildung – auch die eigenen erwarteten Kosten trägt.
Neben der Frage, ob ein kapital- oder umlagefinanziertes Verfahren mit den je eigenen Vor- und Nachteilen gewählt werden soll, ist insbesondere zu klären, wie für die grosse Mehrheit der Haushalte die Finanzierbarkeit der Versicherungsbeiträge sichergestellt werden kann und nicht verbreitet Ausgleichsmechanismen über individuelle Prämienverbilligungen oder Ergänzungsleistungen notwendig werden. Zweifelsohne ist es zweckmässig, die Versicherungspflicht für eine Pflegeversicherung erst im fortgeschrittenen Alter festzuschreiben. Damit wird vermieden, dass die jüngeren Generationen, die aufgrund von Familienpflichten, aber auch der demografischen Alterung bereits stark unter Druck sind, zusätzlich belastet werden.
Trotzdem dürften weitere Finanzierungsquellen notwendig sein. Zwei Möglichkeiten sind in Betracht zu ziehen:
- Obligatorische Mindesteinlage aus dem beruflichen Vorsorgekapital in die Pflegeversicherung:
Zum Zeitpunkt der Pensionierung wird ein Teil des Pensionskassenkapitals in individuelles Pflegekapital umgewandelt (bei einer kapitalgedeckten Pflegeversicherung) beziehungsweise an die Pflegeversicherung zur Reduktion der künftigen Beiträge an die Pflegeversicherung überwiesen (beim Umlageverfahren). Der Rückgriff auf die Pensionskassengelder führt zu einer umfassenderen Auslegung der obligatorischen Altersvorsorge, welche die Möglichkeit einer Pflegebedürftigkeit neu miteinschliesst. Damit wird vermieden, dass das über einen langen Zeitraum aufgebaute Alterskapital – gewollt oder ungewollt – im jüngeren Pensionsalter zu stark aufgebraucht wird. - Mitfinanzierung der Pflegeversicherung durch Erträge einer nationalen Erbschaftssteuer:
Im Zuge des kantonalen Steuerwettbewerbs ist die Erbschaftssteuer in den letzten Jahren stark zurückgefahren worden (ohne dass dies durch eine höhere Vermögenssteuer kompensiert worden wäre). Marius Brülhart von der Universität Lausanne hat jüngst errechnet, dass mit einer Erhöhung des Steuersatzes von heute durchschnittlich 1,4 Prozent auf 4,1 Prozent, dem Niveau von 1990, heute rund 2,5 Milliarden Franken Steuereinnahmen generiert werden könnten – ohne wesentliche Verschiebungen des Steuersubstrats auszulösen.4 Wenn die Pflegeversicherung über Steuermittel mitfinanziert werden muss, hat die Erbschaftssteuer das Potenzial, substanziell Mittel zu generieren, ohne starke ökonomische Verzerrungen hervorzurufen.
Sowohl die Beschränkung des Kapitalbezugs in der zweiten Säule wie auch die nationale Erbschaftssteuer hatten in der Vergangenheit politisch einen schweren Stand. Im Rahmen einer Pflegeversicherung haben sie allerdings das Potenzial, der nachhaltigen Lösung des Pflegekostensystems (einschliesslich Entlastung der Krankenkassenprämien) zum Durchbruch zu verhelfen. Daran haben wir alle ein Interesse. Es lohnt sich, die Diskussion und Arbeiten zur erneuten Neuordnung der Pflegefinanzierung ohne Tabus wieder aufzunehmen.
Bundesamt für Statistik, Somed- und Spitex-Statistik, Zahlen 2018. ↩
INFRAS, Landolt Rechtsanwälte und Careum-Forschung (2018): Evaluation der Neuordnung der Pflegefinanzierung. Bericht im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit, S. 60. ↩
Bestandesaufnahme & Perspektiven im Bereich Langzeitpflege, Bericht vom 25. Mai 2016, S. 61. ↩
Marius Brülhart (2019): Erbschaften in der Schweiz: Entwicklung seit 1911 und Bedeutung für die Steuern. Social Change in Switzerland, N°20. ↩