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Das Über-Ich

Freiheit bedarf des Mutes.

 

Kürzlich sass ich mit einem ­alten Schweizer Richter in einem Taxi und fuhr quer über die Insel Sansibar. Der 83-Jährige hatte sich die Freiheit genommen, trotz Pandemie und trotz seines Alters hierher in die Ferien zu fliegen. Ich kannte ihn nur flüchtig: Als junge Journalistin hatte ich ein Interview mit ihm geführt, exakt am 1. November 1996 – er hat den Eintrag in einer alten Agenda gefunden. Worum es damals ging, haben wir beide vergessen. Auf jeden Fall wusste er, dass ich teilweise auf Sansibar lebe, und er fragte mich, ob er mich zum Essen einladen dürfe.

Zunächst wunderte ich mich über den alten Mann, der trotz Corona um den halben Globus in ein Land fliegt, in dem die medizinische Versorgung katastrophal ist. Doch 83 ist nicht ein Alter, in dem man die Verwirklichung von Träumen auf später verschiebt. Weil es womöglich kein «später» gibt. Das trifft zwar auf jedes Alter zu, aber mit 83 ist man sich dessen wohl bewusster, als wenn man meint, noch das halbe Leben vor sich zu haben. «Fühlst du dich frei. Jetzt, hier?», fragte ich den Richter. «Ich fühle mich freier, seit ich in Pension bin», antwortete er. «Aber mein Über-Ich hindert mich am Freisein … Ich bin zwar besser geworden, doch es hat mich noch immer im Griff.» Er erzählt mir, dass er in einem Pfarrhaus auf dem Dorf aufgewachsen ist. Vom Sohn eines Pfarrers wird ­erwartet, alles richtig und es dem Vater recht zu machen. Nach dem Gymnasium wäre er gerne Schauspieler ­geworden, sogar die Schauspielschule in Hamburg hätte ihn aufgenommen.

Er hat sich dann für ein Jurastudium entschieden. «Besser ein halbbatziger Jurist als ein halbbatziger Schauspieler», habe er sich gesagt. Der Richter zuckt mit den Schultern. Er hat sich in Justizkreisen einen Namen gemacht und eine beachtliche Karriere hingelegt. Und doch … «Was wäre wohl gewesen, wenn ich Schauspieler geworden wäre?», fragt er in diesem Moment. Wäre er doch aus dem Schatten des Vaters getreten und hätte seinem Über-Ich den Stinkefinger gezeigt. Ich bin mir sicher, er könnte dann heute sagen: Ja, ich bin frei.

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