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Das totale Glück ist eine Illusion

Kürzlich habe ich zufällig festgestellt: nach einer gewissen Zeit der Anpassung, der anfänglichen Aufregung oder des Ärgers über eine neue Lebenssituation pendelt sich die Stimmung an jeder neuen Station meines Lebens wieder auf einem bestimmten Niveau ein. Ich habe diesem «automatischen Ausgleich» meines Gemütszustandes früher nie viel Beachtung geschenkt. Ich dachte: Glück und Stabilität sind Dinge, […]

Kürzlich habe ich zufällig festgestellt: nach einer gewissen Zeit der Anpassung, der anfänglichen Aufregung oder des Ärgers über eine neue Lebenssituation pendelt sich die Stimmung an jeder neuen Station meines Lebens wieder auf einem bestimmten Niveau ein. Ich habe diesem «automatischen Ausgleich» meines Gemütszustandes früher nie viel Beachtung geschenkt. Ich dachte: Glück und Stabilität sind Dinge, die eher im höheren Alter erreicht werden können – was ja auch bestätigt wird durch die starke Volatilität der Stimmung junger Leute, die weniger Erfahrung haben als die Alten. Ich meinte, mein Wohlbefinden sei eher von den externen Faktoren meiner momentanen privaten oder beruflichen Situation abhängig als von mir selbst. An einem bestimmten Punkt jedoch erkannte ich, dass es egal ist, ob ich über einen Laufsteg gehe oder während meiner Arbeit auf der Bank den ganzen Tag nur Zahlen sehe: irgendwann stellt sich wieder eine Art innerer Zufriedenheit ein.

Der als Pessimist bekannte Philosoph Arthur Schopenhauer sagte, dass der individuelle Kampf «Glück gegen Schmerz» in unserer Natur liege und dass wir das über Sinneseindrücke wahrgenommene Unglück ständig zu kompensieren suchten. Es gibt also kein vollkommenes Glück, sondern nur relatives. Glück erscheint aus dieser Warte als etwas, das wir nur erreichen können, wenn wir das eigene Leid mindern. In seinem Spätwerk «Aphorismen zur Lebensweisheit» empfiehlt Schopenhauer unterschiedliche Strate-gien zur Vermeidung des Unglücks. Sein Hauptanliegen ist die Ermutigung zur Nutzung menschlichen Erfindungsreichtums und praktischer Klugheit.

Dem eigenen Selbstwertgefühl zuträglich, aber schwieriger zu erreichen dürfte die Selbsterkenntnis sein: was sind meine Fähigkeiten, wie verhält es sich mit meinem Geschmack, wo liegen meine Fehler? Um Enttäuschungen im privaten wie im beruflichen Leben zu vermeiden und um zu wissen, was man eigentlich erreichen will, ist die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten und Einschränkungen unerlässlich. Diese Selbsterkenntnis kommt, je länger wir uns mit uns selber beschäftigen und Erfahrungen sammeln. Der Trick dabei: wir können zahlreiche Optionen a priori ausschliessen und uns stattdessen auf jene konzentrieren, mit denen wir uns selber belohnen. Wir konzentrieren uns auf jene Punkte des Ich, an denen wir arbeiten können. Damit vermeiden wir Erfahrungen, die Frustration und Schmerz verursachen, weil wir die Dinge ohnehin nicht ändern können.

Das absolute, totale Glück ist indessen eine Illusion. Illusionen spielen bei unseren Gemütsschwankungen eine grosse Rolle: wir neigen stets dazu, zu glauben, dass das Gras hinter dem Zaun grüner wachse. Sobald wir aber auf der anderen Seite des Zauns ankommen, passen wir uns an, gewöhnen uns an das ehemals Neue und machen uns wieder auf die Suche nach Neuem – so wirken
Motor und Natur des Fortschritts.

Meine persönliche Erfahrung ist, dass sich meine eigene, relative Glückseligkeit dann einstellt, wenn ich mich bewusst dazu entschieden habe, in einem bestimmten Moment zufrieden zu sein – und diesen Moment so annehme, wie er ist. «Willig tun, was man kann, und willig leiden, was man muss», hat Schopenhauer das genannt. Und noch einer seiner Ideen kann ich bedingungslos zustimmen: die «Heiterkeit des Gemüts» ist ein existenzieller Bestandteil eines glücklicheren Lebens.

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