Das Theater um das
politische Theater
Das identitätspolitische Denken hat längst auch die Zürcher Bühnen erfasst. Die Auswirkungen sind fatal, aber erwartbar.
Dem Schauspielhaus laufe das Publikum davon, vermeldete die NZZ diesen Herbst: Die Abonnements seien nur zu 72 Prozent erneuert worden, während die Quote in den Vorjahren bei 95 Prozent gelegen habe. Doch allein mit der Sorge des zumeist älteren Theaterpublikums, sich mit dem Coronavirus anzustecken, ist dieser Rückgang nicht zu erklären. Eher schon mit dem Vermerk, den die Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann auf der Website ihrer Institution platziert haben: Es gehe darum, sowohl bei «Mitarbeiter*innen wie auch beim Publikum grösstmögliche Diversität hinsichtlich Alter, Gender, Race und Herkunft sowie anderer Kategorien systemischer Diskriminierung» anzustreben.
Um die Probe aufs Exempel zu machen, ob eine der wichtigsten Bühnen des Landes dem Zeitgeist hinterherhechelt, bietet sich eine der aktuellen Vorstellungen an: «Wilhelm Tell», den Milo Rau «frei nach Friedrich Schiller» inszeniert hat. Schon beim Buchen des Tickets wird man von einer «Triggerwarnung» begrüsst, die in die Welt des betreuten Denkens einführt: «Diese Inszenierung enthält Schilderungen und Darstellungen von Gewalt, sexualisierter Gewalt, Racial Profiling & Waffen.» Ein lächerlicher Vermerk in einem Land, in dem Wehrpflichtige nicht selten mit dem Sturmgewehr im Zug und Bus zu sehen sind.
Die Instruktionen gehen munter weiter. Am Abend der Vorführung wird das Publikum nicht einfach ins Stück gelassen, sondern zunächst unterwiesen. Im Foyer des Schauspielhauses referiert der Dramaturg Bendix Fesefeldt – studierter Politikwissenschafter, wie er hervorhebt – eine Viertelstunde lang zur Frage, was politisches Theater ausmache. «Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird». Er zitiert Milo Rau in loser Anlehnung an Karl Marx’ berühmtes Diktum, dass es nicht mehr darum gehe, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Diese revolutionäre Intonation ist nicht nur deshalb bizarr, weil die Karte für die Aufführung schlappe 89 Franken kostet, sondern weil das Drama seit der Antike darauf abzielt, den Zuschauer etwas durchleben zu lassen, das er nicht selber ist, um so über sich hinauszuwachsen und damit auch das verändern zu können, was ist. Dass Kunst jedoch primär zur Veränderung der Wirklichkeit beizutragen habe, ihre Ausdrucksformen also politischen Prinzipien zu unterwerfen seien, war eiserne Maxime des sozialistischen Realismus, von dessen Scheusslichkeiten man sich heute retrospektiv überzeugen kann. Die Schulung ist mit Fesefeldts Ausführungen – an denen alle, die das Stück sehen wollen, teilhaben müssen – immer noch nicht abgeschlossen: Ein für fünf Franken obenauf zu erstehendes Programmheftchen erläutert zwischen Einführung und Aufführung, dass Rau «Wilhelm Tell» in die Gegenwart überführe «und prüft, ob er ihr standhält: Wer ist heute Tell oder Tellin? Wer spricht in der Schweiz wie über Freiheit? Wem gehört die Freiheit?»
Tell it to the people
Der Saal füllt sich, das Publikum entspricht den Stammgästen des Schauspielhauses, Paare mittleren und höheren Alters aus dem Bürgertum plus jüngere Zuschauer, die an der Universität Zürich studieren dürften. Die folgenden zwei Stunden geht es recht konfus zu. Im «Pfauen» sind vor allem Menschen zu sehen, die sich selbst darstellen. «Wilhelm Tell» wird angedeutet und in der Schiller-Variante zitiert, es treten viele Personen auf, die miteinander in Dialog treten, sich gegenseitig filmen oder aus ihrem Leben berichten. Die Inszenierung changiert zwischen schlaglichtartigen Momentaufnahmen und fliessenden Übergängen zu den vorgenannten Fragen, die vor allem in den Raum gestellt, nicht aber beantwortet werden. Angeschnittene Themen sind das Aufwachsen in der Schweiz, Fremdheitserfahrungen und Chancenungleichheit, Polizeiwillkür und Gewalt. Manches ist aufschlussreich, so etwa, wenn die über 80jährige Pensionärin Irma Frei – keine Schauspielerin und als sie selbst auftretend – berichtet, wie sie als Heranwachsende Zwangsarbeit für Emil Bührle leisten musste – dem Fabrikanten gehörte eine Spinnerei, in der Mädchen, die in einem angeschlossenen Heim untergebracht waren, nahezu unentgeltlich schuften mussten. Erhellende Momente wie diese, die nichts mit «Tell» zu tun haben, sich dafür aber zur Dramatisierung der Schweizer Nachkriegszeit aufdrängen, werden permanent durch das identitätspolitische Gelöbnis konterkariert, auch ja alle hören zu wollen und niemanden zu vergessen. Das hat zur Folge, dass alle, die auftreten, weniger für Ideen und Konflikte stehen als vielmehr für die Gruppen, die sie jeweils repräsentieren sollen – womit das eingelöst wird, was Blomberg und Stemann ihrem Haus als Maxime übergestülpt haben.
Der Anspruch, dass es sich bei der Aufführung trotz Freis eindrücklicher Rede um Fiktion handle, darf bezweifelt werden. Alles in allem macht Raus Inszenierung den Eindruck, als hefte sich Einfallslosigkeit ans Reale. Die Show – und dieser US-amerikanische Unterhaltungsbegriff trifft es am ehesten – gipfelt schliesslich in vorhersehbarer Publikumsbeteiligung. Als zum gemeinsamen Singen der Nationalhymne aufgerufen wird, lässt sich das gefühlslinke Zürcher Bürgertum ohne zu zögern und so gut wie ausnahmslos zum Mitschunkeln animieren, steht auf und trällert los. Dabei setzt revolutionär zu sein eigentlich voraus, derartige Aufforderungen zu verweigern. Die Zuschauer im «Pfauen» benötigen offenkundig eher gründliche Nachhilfe in Sachen «Tell» als eine «Zerhackstückelung» (O-Ton Fesefeldt) des Schiller-Stücks.
Was «Wilhelm Tell» in der Gegenwart sein könnte, wurde an diesem Herbstabend nicht geklärt. Wohl aber ist mit Nachdruck gezeigt worden, dass das Schauspielhaus das Fenster zu dem, was sein könnte, lieber schliesst, als es weit aufzureissen; die Darsteller auf der Bühne bleiben weitgehend mit sich selbst identisch. Entsprechend hat Rau in einem NZZ-Interview betont, es müsse kulturpolitisch auch darum gehen, «Leute mit Migrationshintergrund» ins Theater zu holen. Dort, auf der Bühne und auf den Plätzen, dürfen diese dann sie selbst bleiben. Das soll zwar die Häuser wie das Publikum ein bisschen bunter machen, ihre Botschaften aber umso monotoner. Raus Einbindung zahlreicher Personen, die keine Schauspieler sind, befriedet auf ihre Weise den identitätspolitischen Trend, demzufolge alle nur noch das darzustellen haben, was sie ohnehin sind. Vielleicht sollte einmal jemand denjenigen, die das Schauspielhaus grosszügig subventionieren, Bescheid sagen, dass es Schauspieler bald nicht mehr braucht, denn wenn auf der Bühne alle mit sich selbst identisch sind, gibt es keine Rollen mehr, weswegen es langfristig auch keines Theaters mehr bedarf. Ohnehin scheint dem Kulturbetrieb zunehmend die Schule als Idealbild standesgemässer Unterhaltung vorzuschweben.
«Die Darsteller auf der Bühne bleiben weitgehend
mit sich selbst identisch.»
Der Estrich als mentaler Bunker
Übertroffen werden die identitätspolitischen Ambitionen des Schauspielhauses von einer anderen Zürcher Bühne, der Gessnerallee. Dessen Leitung übernahmen im Sommer 2020 Michelle Akanji, Rabea Grand und Juliane Hahn, die mit dem Anspruch antraten, das Programm «diverser» zu machen. Das Trio setzte auch auf eine Zusammenarbeit mit einem Zusammenschluss, der mit antirassistischem Anspruch auftritt. Das Experi-Theater, das bereits auf eine Reihe an Inszenierungen und Performances zurückschaut und 2021 vom Regierungsrat des Kantons Zürich mit einem Förderpreis in Höhe von 30 000 Schweizer Franken ausgezeichnet worden ist, hält seit September das Dachgeschoss des Hauses besetzt. Verstanden wird die Aktion als radikale antirassistische Praxis, die sich, wie das Statement zur Sache erklärt, gegen «weisse» Herrschaft richte und darum bedacht sei, ein «nichtweisses Theaterhaus» zu errichten. Das sei «ein historisch wichtiger Moment in Zürich».
Weil es in dieser Saison noch keine Inszenierung bzw. Performance der Gruppe zu sehen gibt, bleibt nur ein Gespräch als Option, um mehr über ihr Anliegen zu erfahren. Keinerlei Vorgaben machend und bereit, mir unvoreingenommen anzuhören, was sie zu sagen haben, begebe ich mich zum Termin an die Gessnerallee. Nach der Suche der richtigen Treppe, die zum okkupierten Teil des Gebäudes hinaufführt, trete ich durch eine Tür, auf der lediglich «Experi-Werkhalle» steht. Dahinter werde ich freundlich empfangen, ein paar Leute sitzen verstreut auf Sofas und an Tischen. In den Räumlichkeiten sieht es im Gegensatz zu den besetzten Häusern in Berlin geradezu einladend aus, und zum Kaffee wird wie selbstverständlich Hafermilch gereicht. Es macht den Eindruck, als seien ein paar Wohlfühlecken entstanden, nichts weist auf politischen Charakter dieser Umgebung hin.
In einem der Räume nehmen drei Individuen mir gegenüber Platz. Alle kommen aus dem Theaterkontext, zwei von ihnen sind bereits mit Performances und Dramaturgie in Zürich in Erscheinung getreten, eine dritte Person arbeitet hinter der Bühne. Niemand von ihnen ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen, und zwei der drei stammen aus Deutschland. Von Konversationsbeginn an ist die Stimmung dann grundsätzlich misstrauisch. Die naheliegende Eingangsfrage, wie sich die Gruppe zusammengefunden habe und was etwaige individuelle Erfahrungen mit Rassismus im Theaterkontext gewesen seien, wird scharf abgewiesen. Es gehe doch nicht um die individuelle Erfahrung, sondern um «Strukturen», lautet der erste Einwand: Schon die Annahme, rassistische Erfahrung sei Anlass für eine Gruppengründung, sei ein Effekt des Rassismus, denn dieser wolle verschleiern, dass er die Gesellschaft strukturiere. Stichhaltige Argumente: keine.
Alles ist rassistisch
In diesem Stil geht es eine Stunde lang weiter. Auch Alternativstrukturen seien Teil des rassistischen Systems, wird mir erklärt, verharrten diese doch in einem sozialen Gefüge, das es der Mehrheit erlaube, mit dem Finger auf den Ort der «anderen» zu zeigen und diese damit zu befrieden, schon ein Plätzchen für sich zu haben und deshalb nicht mehr zu benötigen. Der Gedanke ist nachweislich falsch: Alles, wirklich alles Neue entstand aus den Regungen einzelner, die sich an einem bestimmten Punkt entschlossen, «Nein» zu sagen, oder aber etwas unternahmen und taten, was zuvor noch niemand gewagt hatte. Das gilt selbst für Kollektive – auch ihnen gingen stets ebenjene Regungen einzelner voraus. Es sind Individuen, die neue Pfade beschreiten, welche später für viele andere zu komfortablen Wegen werden können, mitunter auch zur Normalität. Wer dem Experi-Theater diesbezüglich widerspricht, darf sich anhören, von einer rassistischen Logik geblendet zu sein; wer ihm zustimmt, bejaht sein Weltbild ohnehin. Mit anderen Worten: Alles ist rassistisch, egal, wie man sich entscheidet. Die US-amerikanische Autorin Robin DiAngelo hat aus diesem Trick einen Kassenschlager gemacht und verdient an der Dummheit von Firmen, die sie für diese Unverschämtheit auch noch reihenweise buchen, seit einigen Jahren stattliche Summen.
Was angesichts der identitätspolitischen Vorstellungswelt der Besetzer im besonderen Masse auffällt: Sie haben keinen Begriff von Gesellschaft und keinen von Macht. Ihr gesamtes Denken wird von US-amerikanischem Modejargon getragen: «white supremacy», «colonial structures», «structural racism» und «resistance» sind Formeln, die in ihren Formulierungen unentwegt fallen. Mit dem Widerstand kann es aber nicht so weit her sein, denn dasselbe Gequassel ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften rauf und runter zu vernehmen – man muss sich nur in die einschlägigen Kurse setzen und die zugehörigen akademischen Journale durchblättern. Die Fachgesellschaft Geschlechterstudien, der Zusammenschluss der Gender-Studies-Institute und -Fachbereiche in Deutschland, widmete ihre Jahrestagung 2022 ganz offiziell dem Thema «Decolonizing Gender Studies». Die angeblich hehre Auflehnung gegen die Verhältnisse ist nicht nur herrschaftskonform, sondern basiert auf Herrschaftswissen, das sich als Gegenteil darbietet. Wer eine andere Auffassung von Rassismus vertritt, hat in weiten Teilen der Wissenschaft keine Chance, im Kulturbetrieb ohnehin nicht.
Widerstand, der nichts kostet
Das macht die Rede vom «Widerstand» gegen den Rassismus auch so konventionell, unoriginell und angepasst. Im Gespräch führt sie zudem zur wahrlich skurrilen Situation, dass eine sehr weisse Deutsche mit sehr christlichem Vornamen und ohne Rassismuserfahrung felsenfest davon überzeugt ist, einem migrantischen Journalisten – zugleich Herausgeber und Autor mehrerer Bücher über Rassismus – erklären zu müssen, was Rassismus sei. Dass ihr Monolog auf sehr beschränktem Vokabular basiert und wiederholende Schleifen dreht, bemerkt sie nicht. Dieses Unvermögen, der grundaggressive Tonfall und der lehrerinnenhafte Habitus sind mir gut bekannt, sind doch die deutschen und schweizerischen Hochschulen mittlerweile zu Tummelplätzen für ähnliche Gestalten geworden. Sie wirken, als seien sie direkt dem protestantischen Biedermeier des 19. Jahrhunderts entsprungen. Dass ihr missionarisches Gehabe den kolonialen Habitus eher fortführt als ihn zu kritisieren, fällt ihnen nie auf.
Ob das Experi-Theater angesichts der von ihm postulierten Allgegenwart des Rassismus eine Vision oder zumindest die Idee eines besseren Zusammenlebens vorzuweisen habe, möchte ich wissen. Nein, lautet die barsche Antwort, schon die Frage sei Flucht vor der Realität. Diese Reaktion ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sich an einer solchen Perspektive beweisen müsste, wohin die Gründung eines «nichtweissen Theaterhauses» zukünftig führen müsste. Wie rückwärtsgewandt dieses Denken tatsächlich ist, verdeutlicht indes die Bezugnahme auf die Vergangenheit, die merkliche Ähnlichkeit mit den Aufmärschen der historisch Unverbesserlichen in Deutschland aufweist, die unter umgekehrten Vorzeichen argumentieren.
So heisst es im Statement der Gruppe, ihre Besetzung drücke die «tiefe und innige Dankbarkeit gegenüber unseren Vorfahren» aus, hätten diese doch «die Bewegungen gegen die globale weisse Vorherrschaft (white supremacy) initiiert und getragen» und obendrein «diese Möglichkeit zu einer realen Einrichtung gemacht». Am Ende bemüht einer der Gesprächspartner dann doch noch eine Definition des eigenen Anliegens: Es gehe darum, «safer spaces for BIPOC artists» zu schaffen, «to live their lives, be with others, hear their voices». Für einen besetzten Dachstuhl und eine öffentliche Stellungnahme, die von sich behauptet, «eine historisch bedeutsame Bewegung» zu sein, und die einen «historisch wichtige[n] Moment in Zürich» reklamiert, ist das wahrlich bescheiden.
Die Räumlichkeiten der Gessnerallee, die das Experi-Theater beansprucht, sind bereits zweckdienlich umfunktioniert worden. Die Gruppe hat eine kleine Bibliothek eingerichtet, die ebenjenen «kämpfenden Leuten» zur Inspiration dienen soll. Die allermeisten Titel, die es dort zu lesen gibt, sind identitätspolitischer Art und spiegeln die fixe Vorstellung von Rassismus und Antirassismus wider, die im Gesprächsverlauf dargelegt wurde. Im Regal findet sich allerdings auch ein Buch der Journalistin Ida B. Wells (1862–1931), die noch als Sklavin geboren worden war und später zu einer der wichtigsten Bürgerrechtlerinnen der Vereinigten Staaten wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb sie: «Let a man be Democrat, Republican or Independent as his judgment dictates, if he is obeying honest and intelligent convictions.» An Zeilen wie diesen offenbart sich, dass die antirassistische Attitüde der Gegenwart, die nur noch eine politische Meinung zulässt, eher schon dem Verfall des Kulturlebens entspricht als seiner Demokratisierung.
Die Zeiten, in denen Theater gespielt wurde, um etwas Erhabenes zu erleben und über sich selbst hinauszuwachsen, scheinen jedenfalls vorbei. Glücklicherweise zahlt sich in dieser Situation eine komfortable Option des Kapitalismus aus: Da man selbst entscheiden kann, wem man Geld geben will, muss man zu dieser ohnehin schon staatlich subventionierten Entwicklung nichts beisteuern, man kann sich ihr sogar bestens entziehen. Nicht erneuerte Abonnements sprechen für sich selbst – und sind selbst effektiver Widerstand gegen eine Logik, die zu einem Denken in rassistischen Kategorien nötigen will.