Das Sackmesser
des guten Lebens
Manchmal gehört zum Glücklichsein eine Portion Selbstüberlistung. Rolf Dobelli hat das richtige intellektuelle Werkzeug zur fröhlichen Bewältigung widriger Umstände gefunden – seither beschwingt ihn sogar die eigene Steuererklärung.
Rolf, deine demonstrative Entspanntheit mag ein Charakterzug sein, der dir in die Wiege gelegt wurde, auch schreibend denkst du darüber nach, wie sich die innere Mitte finden lässt. Wie kann man in der dröhnenden und unübersichtlichen Welt unserer Gegenwart die intellektuelle Gelassenheit kultivieren?
Indirekt stellst du hier die Frage, die sich irgendwann in ihrem Leben die meisten Menschen einmal stellen: «Was macht ein gutes Leben aus?» Wem stellt man diese Frage? Vielleicht besuchst du einen Philosophen, einen Professor an der Universität Zürich, Bern oder Basel. Du klopfst an, trittst ein und fragst: Lieber Herr Professor, wie soll ich leben? Dann wird er oder sie dich völlig verwirrt angucken, weil das für die heutigen wissenschaftlichen Philosophen eine völlig weltfremde Frage ist. Die können dir zwar genau erklären, was Wittgenstein in den «Philosophischen Untersuchungen» auf Seite 43 links oben mit einem spezifischen Wort gemeint hat, aber gewiss nicht, wie man leben soll. Früher war das anders.
Der Professor der Philosophie kann also nicht helfen, wohl aber die Philosophie. Wohin musstest du zurückreisen, um eine Antwort zu erhalten?
Wenn du im Jahr 500 vor oder 100 nach Christus zu einem Philosophen gegangen bist, dann ging es ihm immer um die Frage nach der Ethik, um die Weitergabe essentieller Lebensweisheit. Die Frage nach dem guten Leben stand damals im Zentrum der Philosophie. Natürlich haben sich die Philosophen dieser Zeit auch ein bisschen damit beschäftigt, was «Realität» überhaupt ist und was die Grenzen unseres Wissens sind, aber im Kern stand immer die praktische Philosophie. Und die gibt folgende Antwort: Es gibt keinen heiligen Gral des guten Lebens, den einen Knopf, den man drücken könnte. Das gute Leben ist eine Frage von klaren Denkhaltungen. Ich nenne sie «mentale Werkzeuge». Dann kam das Christentum, mit ihm das Mittelalter, wo sich das alles verschleiert hat – und heute ist es in der Philosophie hochakademisch geworden und diese praktischen Fragen werden kaum mehr beleuchtet. Dafür hat die Psychologie in den letzten 40, 50 Jahren unheimliche Fortschritte gemacht, weg von Freud und hin zu neuen Erkenntnissen darüber, was uns guttut oder schadet: Wie können wir
toxische Situationen vermeiden oder solche, die bei uns toxische Emotionen generieren?
Ich vereinfache: Psychologische Erkenntnisse erlauben uns heute, die alte Frage der Philosophie umzudrehen, um konkretere Antworten zu erhalten. Frei nach dem Motto: «Wenn ich schon nicht weiss, wie das gute Leben konkret aussieht, so kann ich doch versuchen, das schlechte Leben zu vermeiden.» Einverstanden?
Genau. Man kann sich einen Baukasten zusammenstellen, der Fehler beim Handeln und Denken vermeiden hilft, wenn man – wissenschaftlich bestätigt – weiss, was einem zum guten Leben nicht hilft. Je nach Situation kann man dann aus diesem Kasten ein oder zwei «Tools» zücken, wie die Werkzeuge eines Sackmessers – man braucht sie nie alle gleichzeitig.
Ein Beispiel, bitte!
Parkbussen! Die haben mich immer aufgeregt. Wer zahlt schon gerne Parkbussen? Nun, ich habe ein Büro in der Altstadt von Bern, und wenn man da schnell das Auto abstellt und für eine Minute hochgeht, steht bei der Rückkehr meist schon ein Polizist daneben und schreibt einen Bussenzettel. Ich habe früher versucht, mit den Polizisten zu diskutieren. Du weisst, wie das herauskommt: Das hat nie Erfolg – und man schläft danach auch schlechter, fühlt sich klein. Meine Frau und ich haben deshalb eine andere Strategie entwickelt: Jedes Jahr am 1. Januar bestimmen wir einen fixen Betrag, den wir für einen guten Zweck spenden, und zwar minus aller Parkbussen. Wenn mir jetzt jemand 40 Franken Parkbusse aufbrummt, sage ich mir: Okay, dann bekommt diese Stiftung am Ende des Jahres die 10 000 Franken minus 40, also 9960 Franken. 40 gehen an den Staat, das ist ebenfalls ein «guter Zweck». Und alle sind zufrieden. So hast du die ganze Aufregung durch eine Uminterpretation, durch eine andere Sicht auf die Dinge, wegbekommen.
«Ich habe mich früher aufgeregt, wenn ich drei Minuten
an der Migros-Kasse warten musste. Heute sage ich mir:
Alles unter zehn Minuten ist okay, Stress verkürzt nur das Leben.»
Hm. Klingt natürlich gut. Aber gelangst du so tatsächlich zur Ataraxie, zur inneren Ruhe, die die alten Griechen sich zum Ziel gesetzt haben?
Immer mehr und mehr, ja. Denn ich weiss: An sich wurzelt die Unruhe über die Parkbussen in einem klassischen Denkfehler, den man mental accounting nennt, mentale Buchhaltung. Je nachdem, woher Geld kommt oder wohin es geht, haben wir andere Kassen im Kopf. Wenn wir beispielsweise eine Hunderternote auf der Strasse finden, tendieren wir dazu, sie schneller, frivoler auszugeben, als wenn wir sie hart erarbeitet hätten. Das macht aber gar keinen Sinn, weil es dieselbe Summe ist. Ein anderes Beispiel zum selben mentalen Buchhaltungstrick: Mich hat es früher immer aufgeregt, wenn ein Espresso oder eine Stange Bier im Lokal wieder einen Franken teurer wurde.
Lass mich raten: Heute trinkst du weniger, damit du dich nicht aufregen musst?
(lacht) Nein! Ich habe für mich selbst einen Betrag festgelegt, unter dem ich mich nicht mehr aufrege. In meinem Fall sind das zehn Franken.
Egal ob ein Espresso zehn Franken kostet oder nur einen Franken…
…alles unter zehn ist weisses Rauschen für mich. Du kannst die Grenze auch bei fünf oder fünfzig Franken ziehen, es ist völlig egal. Wenn du sie einmal festgelegt hast, führt das zu einer
unheimlichen Beruhigung. Ich trinke nicht mehr oder weniger Espresso dadurch. Ich gebe auch nicht mehr oder weniger Geld für Espresso aus. Ich spare mir die negativen Emotionen, und das ist ein Gewinn. Ein zusätzlicher Vergleich macht klar, warum: Mein Anlageportfolio schwankt jede Sekunde um diese zehn Franken, da muss ich mich doch bei Schwankungen in der Beiz nicht gesondert aufregen. Übrigens betrifft das nicht nur das Geld, sondern auch die Zeit: Ich habe mich früher aufgeregt, wenn ich drei Minuten an der Migros-Kasse warten musste. Heute sage ich mir: Alles unter zehn Minuten ist okay, Stress verkürzt nur das Leben.
Machen wir die Probe aufs Exempel. Hier und jetzt stehst du sozusagen unter Beobachtung – eines Journalisten und vieler Interessierter.
Die Leute unterstellen dir Wissen, sie wollen von dir etwas lernen.
Du musst also liefern. Spürst du in diesem Moment Stress?
Nein, nur eine gewisse Aufregung, denn hier und jetzt spiele ich vor allem ein Spiel gegen mich selbst.
Ein Spiel – wie meinst du das?
Wann immer ich eine Aufgabe zu lösen habe, und darunter fallen auch Gespräche mit Philosophen und Journalisten, geht es mehr darum, ob ich mir selbst gerecht werde, und nicht, ob ich dir oder sonst jemandem gerecht werde. Ich habe in Sachen Kommunikationsfähigkeit gewisse Erwartungen an mich, aber es sind meine. Viele Menschen haben äusserliche Ziele: ein gewisses Einkommen zu erzielen, einen gewissen Status zu erlangen, einen Tennismatch zu gewinnen. Ich versuche äussere immer in innere Ziele zu übersetzen. Mein Konkurrent ist mein innerer Feind: der faule Rolf, der unprofessionelle, feige Rolf, und ich versuche gegen ihn anzuspielen. Jedes Mal. Nimm zum Beispiel einen Tennismatch. Da hast du sehr wenig unter Kontrolle, insbesondere die Tagesform deines Gegners nicht. Unter Kontrolle hast du aber, wie gut du trainierst und wie viel Energie du auf den Platz bringst. Genau deshalb ist es wichtig, äussere Ziele in innere zu übersetzen. Um unabhängiger zu werden von dem, was aussen ist.
«Es ist idiotisch, sich über Dinge aufzuregen,
die man nicht beeinflussen kann.»
Stimmt. Du peilst den Erfolg also nicht direkt an, sondern betrachtest ihn gleichsam als «Nebenwirkung». Ist das dein Trick?
So ist es. Als Schriftsteller versuche ich, das beste Buch zu schreiben, das ich mit meinen beschränkten Möglichkeiten schreiben kann. Aber ob es sich zehntausendmal oder zehn Millionen Mal verkauft, kann ich kaum beeinflussen. Also versuche ich es erst gar nicht. Es gibt so viel Randomness, so viele Zufälligkeiten, die mitspielen – da ist es falsch, sich an den Erfolg zu klammern. Richtig hingegen ist es, sich der eigenen Leistungen und Beschränkungen bewusst zu sein. Die Stoiker hatten ein hervorragendes Bild dafür, nämlich das des Bogenschützen: Er kann kontrollieren, welchen Bogen er wählt, welchen Pfeil, wie stark er den Bogen spannt und wie stabil er ihn hält – aber in dem Moment, da er den Pfeil loslässt, hat er gar nichts mehr unter Kontrolle: Das Ziel kann sich verschieben, ein unerwarteter Windstoss kann den Pfeil von seiner ursprünglichen Bahn abbringen. Deshalb sollte man eine Linie ziehen zwischen den Dingen, die man unter Kontrolle hat – und allen anderen: Über sie sollte man sich nicht den Kopf zerbrechen. Es ist idiotisch, sich über Dinge aufzuregen, die man nicht beeinflussen kann.
Anders formuliert: Du schraubst einfach die Erwartungen nach unten – und wirst deshalb seltener enttäuscht.
Hohe Erwartungen sind ein klassischer Happiness-Killer.
Halt, ich orte einen Widerspruch. Auf der einen Seite sagst du, du konzentrierst dich auf deinen inneren Feind, möchtest aber selbstverständlich gewinnen und Leistung erbringen; auf der anderen hegst du möglichst tiefe Erwartungen, um dich nicht zu enttäuschen.
Der Trick ist es, Wünsche von Erwartungen zu trennen. Die meisten Leute werfen beides in denselben Topf. Dann werden sie meistens enttäuscht. Ich trenne: Natürlich habe ich den Wunsch, dass alles bestens läuft, dass ich meine Kinder optimal erziehe oder das nächste Buch auf der Bestsellerliste landet. Aber meine Erwartungsbildung findet anders statt: Ich bilde mir eine realistische Erwartung zwischen 0 und 10 Punkten, also zwischen miserabel und hervorragend, und ziehe dann jeweils von vornherein zwei Punkte ab. So stelle ich sicher, dass ich meistens positiv überrascht werde.
Du weisst also, dass du dich selbst überlistest – und fällst trotzdem darauf herein?
Es ist ein bisschen wie beim Fussball: Wenn du zu einem Match gehst, bist du davon überzeugt, dass das etwas Wichtiges ist. Du fieberst mit dieser Mannschaft mit. 22 Menschen spielen nach gewissen Regeln, die irgendwann gemacht wurden und an die man sich hält – und doch weiss man, dass es einfach nur arbiträre Regeln sind. Oder wenn man einen Film ansieht, weiss man, dass es Schauspieler sind. Aber man vergisst es gerne, um ein Vergnügen daraus zu ziehen. Und ich versuche auch zu vergessen, dass ich mich selbst überliste. Wollen wir ein gutes Leben führen, müssen wir neue und bessere Interpretationen für die schlimmen Dinge im Leben finden. Sonst wären wir zum Verzweifeln verurteilt.
Du reagierst also auf den Selbstbetrug mit Selbstüberlistung?
Wir betrügen uns ja eh ständig, warum sollten wir uns also nicht so betrügen, dass es für uns gut herauskommt und wir damit die toxischen Emotionen loswerden? Wenn du am Morgen eine To-Do-Liste aufstellst, die du am Abend abgearbeitet haben möchtest – wie oft kommt es vor, dass das auch wirklich passiert?
Die Antwort ist einfach: nie.
Siehst du? Wir betrügen uns täglich, indem wir uns selbst überschätzen hinsichtlich dessen, was wir leisten können. Wenn schon Selbstbetrug, dann aber doch so, dass man eine positive Emotion daraus zieht.
Aber kann ein solcher sich selbst überlistender Stoiker von sich dann noch sagen, er habe Spass am Leben?
Natürlich! Wenn man heute von jemandem sagt, er sei stoisch, denkt man bei diesem Adjektiv an verbitterte Leute ohne Gefühle. Die alten Stoiker waren das genaue Gegenteil von verbittert oder gefühlslos. Sie waren freudige Menschen, denn es gelang ihnen, die negativen Emotionen möglichst auszuschalten. Neid, Wut und Aufregung konnten sie durch mentale Tricks und durch ihr Verhalten ausschalten. Positive Emotionen wie Freude haben sie natürlich zugelassen. Da mache ich gern mit: Ein gutes Leben hängt zu grossen Teilen damit zusammen, dass man die toxischen Emotionen aus dem persönlichen Repertoire streicht. Dann kommt das Upside automatisch.
Eine toxische Emotion ist zum Beispiel Neid. Wie hältst du’s damit?
Neid ist die idiotischste Emotion. Sie entsteht, wenn wir uns mit anderen Menschen vergleichen. Das läuft heute zuvorderst über soziale Netzwerke und Werbung. Je mehr Menschen mit «schönen Leben» wir sehen und kennen, desto stärker wird dieser toxische Neid. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Wenn du den Neid besiegst, hast du schon gewonnen.
Das musst du jetzt erläutern, denn das betrifft die meisten Menschen. Wie zum Teufel kann man den Neid aushebeln?
Wir vergleichen uns mit Menschen, die ungefähr dasselbe Alter und denselben Job haben wie wir – und auch ungefähr in derselben Region leben. Ich als Schriftsteller würde mich, wenn ich neidisch wäre, mit einem anderen Schriftsteller vergleichen, der etwa gleich alt ist und in der Schweiz lebt. Hat der mehr Erfolg als ich, wäre ich neidisch. Ich würde mich aber niemals mit Roger Federer vergleichen, der auch etwa gleich alt ist, aber halt Tennis spielt. Ein Banker wird sich nicht mit einem Künstler oder Skifahrer vergleichen. Auch wenn jemand um vieles älter oder jünger ist oder auf der anderen Seite der Erde lebt, stört das nicht. Wenn man das weiss und sich selbst hinterfragt, wird man gelassener.
Wie machst du das? Dein Gehirn ermuntert dich ja zum Vergleich.
Aber ich weiss, nach welchem Strickmuster mein Gehirn mich zum Neid anstacheln möchte. Und wenn ich diesen Mechanismus verstanden habe, kann ich ihn abstellen. Zum zweiten: Wenn wir uns mit einem Nachbarn vergleichen, dem es finanziell besser geht, der eine schönere Frau und ein besseres Auto hat oder schlauere Kinder, greifen wir einen Aspekt aus dem Leben des Nachbarn heraus und «vergrössern» ihn. Alle anderen Aspekte, die sein Leben genauso ausmachen, schauen wir uns nicht an. Wenn er einen Porsche besitzt und ich einen VW Golf, denke ich automatisch, dieser Porsche sei im Kontext seines Gesamtlebens viel wichtiger, als er es tatsächlich ist. Ein Moment ist psychologisch betrachtet ein Zeitscheibchen von etwa drei Sekunden, dann kommt das nächste. Wenn du dir alle Momente seines und deines eigenen Lebens anschauen könntest, würdest du bemerken, dass dieser Porsche kaum ins Gewicht fällt. Das ist die sogenannte Fokussierungsillusion: Sobald wir einen Unterschied feststellen, machen wir ihn viel grösser, als er tatsächlich ist.
Welche Rolle spielt Leistung in dieser Überlegung? Spielt die Einschätzung, ob der Porsche «verdient» ist oder nicht, eine Rolle für die Neidgefühle?
Durchaus! Aber auch da tun sich Denkfehler auf. Nimm die «Bilanz 300»-Liste. Es ist für viele Millionäre ein absoluter Graus, wenn die jeweils im Dezember herauskommt – weil sie selber nicht draufstehen. Aber da hat es eben auch nur Platz für 300 Leute. Und wie kommt man überhaupt auf diese Liste, was muss man dafür «geleistet» haben? Die Hälfte dieser Menschen hat geerbt, ihr Reichtum ist also nicht ihr Verdienst. Und bei der anderen Hälfte? Deklinieren wir alle Faktoren durch – Intelligenz, Arbeitsamkeit, Herkunft, Bildungsmöglichkeiten –, kommen wir zum Schluss, dass 99 Prozent dieser Faktoren eigentlich auch nicht selbstgeneriert sind.
Das ist mir zu fatalistisch. Wie kommst du darauf?
Die DNA bestimmt die menschliche Intelligenz, und die zählt in unserer Gesellschaft extrem stark. Genauso gut hätten sie aber eine andere Genkombination erwischen können oder in einer Zeit leben, als die Fähigkeit, schnell auf Bäume zu klettern, bedeutsamer war als Intelligenz. Per Zufall haben diese Menschen also mit der richtigen Genkombination im richtigen Jahrhundert diese Voraussetzungen erhalten! Neben den Genen spielt das Elternhaus eine grosse Rolle für den zukünftigen Erfolg. Aber wer hat schon seine Eltern in einem Selektionsprozess ausgewählt? Der einzelne ist ein Zufallsprodukt. Oder hast du die Schweiz als Geburtsland ausgewählt oder deine Lehrer in der Schule – alles Komponenten des Erfolgs? Nein. Mindestens die ersten beinahe zwanzig Jahre deines Lebens hat der Zufall bestimmt – und das sind wiederum die bestimmenden Jahre. Wenn man die Welt mit dieser riesigen Zufallskomponente betrachtet, lebt man viel bescheidener, ist dankbarer. Und ja: Der Neid ist zum grossen Teil weg.
«Wollen wir ein gutes Leben führen, müssen wir neue und bessere
Interpretationen für die schlimmen Dinge im Leben finden.
Sonst wären wir zum Verzweifeln verurteilt.»
Es regt sich natürlich sogleich der Liberale in mir, und der ruft: Einspruch! Du trägst das sehr sympathisch vor, und man kann sich fast mit dem Gedanken anfreunden, zumal man sich dadurch vom Neid befreit. Aber dann fällt einem plötzlich ein: Aha, das Leistungsethos ist weg. Die Freiheit ist weg. Alles ist Zufall. Ich bin nicht meines Glückes Schmied, ich verantworte eigentlich mein Leben nicht, sondern es kommt, wie es kommt, weil es so kommen muss. Es ist im Grunde eine Form des Determinismus, die dann mit dem Liberalismus kollidiert.
Auch hier schätze ich den kontrollierten Selbstbetrug: Es ist gut, wenn man diese Illusion des freien Willens und der eigenen Handlungsfreiheit aufrechterhält – und damit den Leistungsgedanken. Aber beides ist im Grunde eben das: eine Illusion. Denn woher kommt der Wille zur Leistung? Wie wir aus der Psychologie wissen, ist er teilweise genetisch festgelegt. Es gibt Menschen mit mehr und solche mit weniger Antrieb und Willenskraft. Da kannst du nichts dafür, deine Gene sind deine Gene. Die zweite Komponente hat wiederum mit deinen Eltern zu tun und den Vorbildern, die jeder von uns hat. Auch wenn du es gern glauben willst: Sogar deine Vorbilder suchst du dir längst nicht selbst aus.
Ich bilde mir natürlich ganz stark ein, dass ich den Erfolg, insofern ich ihn überhaupt habe, mir und meiner Leistung verdanke. Ich stehe früh auf, obwohl ich locker länger schlafen könnte, und gehe an meine Leistungsgrenzen, obwohl ich das nicht müsste. Du würdest sagen, dabei handelt es sich um eine wunderbare Illusion, weil du dadurch das Beste aus dir herausholst, aber das macht 10 Prozent aus, und 90 Prozent ist Zufall?
So ist es. Natürlich hast du überdurchschnittliche Willenskraft, Energie und Drive, sonst wärst du nicht Feuilletonchef der NZZ. Aber dein «Drive» wurde dir «in die Wiege» gelegt. Nicht zu 100 Prozent, aber zu einem viel höheren Grad, als Hardcore-Liberale wie du das gerne hätten.
Benjamin Franklin hat einmal gesagt, nichts auf dieser Welt sei sicher – ausser den Steuern und dem Tod. Zahlst du gerne Steuern? Oder genauer: Kannst du damit leben, viel Steuern zu zahlen – denn auch das ist in deiner Optik ja eine Art des Schicksals, das es gut mit dir gemeint hat?
Sehr gerne. Du musst nämlich gerne Steuern zahlen, wenn du ein gutes Leben haben willst.
Das wäre mir neu.
Du wirst mir sicher zustimmen, wenn ich sage: Wir sind privilegiert, sonst sässen wir nicht hier. Und auch, wenn ich sage, dass es viele Menschen auf der Welt gibt, denen es schlecht geht, bloss weil sie eine ungünstige Genkombination, schlechte Eltern oder schlechte Vorbilder hatten. Was also spricht rational dagegen, einen Teil unseres Erfolgs, der – wie gesehen – sehr stark auf Zufall beruht, an jene Leute zu transferieren, die mit schlechten Genen in schlechte Familien in den falschen Postleitzahlen geboren wurden. Das ist nichts als rational.
Ich würde das einfach lieber freiwillig machen, statt dazu gezwungen zu werden – und dann vielleicht sogar noch die Frechheit besitzen, wissen zu wollen, wohin das Geld fliesst.
Da bin ich mit dir einverstanden. Aber den Transfer selbst stellt das ja nicht in Frage, und wenn wir die Menschen, die eben einfach Pech hatten, für gleichwertig halten wie uns, machen wir diesen Transfer auch gern – und über einen clever aufgebauten Staat geht das eben reibungslos und effizient. Klar, auch ich bin kein Freund des aufgeblähten Staates, absolut nicht. Da bin ich sehr auf deiner liberalen Seite. Aber Warren Buffett hat ein gutes Gedankenexperiment dazu durchgeführt, das veranschaulicht, wie viel zu geben wir tatsächlich freiwillig bereit sind, wenn es drauf ankommt: Angenommen, du bist einer von zwei identischen Zwillingen im Bauch einer Mutter. Jetzt kommt eine Fee zu dir und sagt: «Einer von euch wird in der Schweiz zur Welt kommen, der andere in Bangladesch. Bangladesch wird steuerfrei sein. Wie viel von eurem zukünftigen Einkommen seid ihr zu bezahlen bereit, um derjenige Zwilling zu sein, der in der Schweiz zur Welt kommt?»
Zweifellos: viel.
Bei den meisten Menschen, die ich frage, lautet die Antwort: «80 Prozent». Vielleicht ist selbst das aber noch eingeschönt, denn steuerfrei in Bangladesch, Nordkorea oder Jemen ist immer noch viel weniger lustig als 80 Prozent Steuerquote in der Schweiz. Das heisst: Wir sind bereit, etwas für diese Infrastruktur zu bezahlen, die wir in diesem Land haben. Ich spreche jetzt nicht von Autobahnen oder derlei, sondern von einem politischen System, das funktioniert, vom Bildungssystem, vom Gesundheitswesen und der Stabilität. In diesem Gedankenexperiment sind wir bereit, für all das einen enorm hohen Preis zu bezahlen. Warum dann nicht auch in der Realität?
«Wenn schon Selbstbetrug, dann aber doch so,
dass man eine positive Emotion daraus zieht.»
Weil niemand solche kontrafaktischen Gedankenexperimente anstellt.
Dafür stellen wir uns andere, dumme Fragen. Als meine Frau und ich von Luzern nach Bern gezogen sind, haben manche Freunde zu uns gesagt: «Spinnt ihr eigentlich, in diese Steuerhölle zu ziehen?» Nein, habe ich gesagt, das ist überhaupt kein Problem. Ich bekomme in der Schweiz, auch und gerade in Bern, für meine Steuern so viel hervorragenden Gegenwert, dass ich gerne bereit bin, das zu bezahlen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass 99 Prozent meines Einkommens zufälliger Natur ist.
Skandal! Ich halte es hier eher mit dem Alten Testament: Den Zehnten zu geben, ist okay – was mehr ist, ist Gier von der nehmenden Seite. Hand aufs Herz: Würdest du nicht viel lieber weniger Steuern bezahlen und mehr spenden?
Um diese Infrastruktur aufrechtzuerhalten, braucht es ein gewisses Mass an Finanzierung und Finanzierungssicherheit. Spenden eignen sich dazu nicht.
Der Staat könnte uns also noch mehr schröpfen, und wir wären in der Schweiz bereit, es zu bezahlen. Irgendwann kollidieren dann aber doch die Ansprüche: Gibt es noch ein gutes Leben ohne freiwilliges Geben – also bei, sagen wir, 100 Prozent Staatsquote?
Für mich nicht, die Stoiker sagen aber bemerkenswerterweise nichts dazu. Ihre Haltung immerhin war: Klammere dich nicht an Dinge! Und das gilt doch auch für Liberale! Wann immer ich unsere fünfjährigen Zwillinge zu Bett bringe, küsse ich sie aufs Köpfchen und wünsche ihnen eine gute Nachtruhe. Und dann sage ich mir, was Epiktet schon gesagt hat: Diese Kinder gehören nicht mir. Sie sind nicht mein Eigentum. Das Universum hat sie mir quasi ausgeliehen. Und es kann sie jederzeit wieder zurücknehmen, selbst in dieser Nacht. Also gehe ich davon aus, dass es nicht selbstverständlich ist, dass sie am Morgen noch lebend in ihren Betten liegen. Und wenn sie dann morgens doch lebend da sind, bin ich begeistert. Alles, was über dem worst case liegt, ist schön.
Aber wenn die Selbstüberlistungsstrategie perfekt funktioniert, kannst du dir in jedem Moment deines Lebens vorstellen, dass es der letzte sei, und bist dann im nächsten Moment garantiert glücklich. Nur: Freude macht das auf die Dauer nicht.
Doch, doch. Es wird einen Moment in deinem Leben geben, und vielleicht ist er heute abend, an dem du dir zum letzten Mal die Zähne geputzt haben wirst. Vielleicht ist heute abend der letzte Moment, den du in Luzern verbracht hast, das Laub rascheln gehört hast. Es kann heute der letzte Tag sein, es kann immer der letzte Tag sein. Nur manchmal gibt es Vorwarnungen. Beispielsweise wenn ein gutes Restaurant ankündigt, es schliesse nächste Woche für immer.
Dann gehe ich noch ein letztes Mal hin.
Genau. Und dann hat dieses Essen eine ganz andere Bedeutung, weil du eben weisst, dass es das letzte Mal ist. Du wirst es ganz anders geniessen, und so kann man auch das ganze Leben leben. Natürlich nicht in jedem Moment, aber man kann sich morgens denken, dass heute das letzte Mal sein könnte, dass… Und irgendwann ist es tatsächlich das letzte Mal.
Wie geht der Stoiker mit dem Tod um?
Ich habe bei mir im Büro eine Digitaluhr stehen, die grosse rotleuchtende Ziffern hat. Sie zählt die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden – aber nicht vorwärts, sondern rückwärts, zusteuernd auf meinen statistischen Todestag. Heute morgen war ich bei 9709 Tagen. Dann sterbe ich, statistisch betrachtet. Es kann ein bisschen mehr oder weniger sein, aber das ist der wahrscheinlichste Tag.
Das zieht dich nicht ständig runter?
Nein. Immer wenn ich am Morgen in dieses Büro komme, bemerke ich, wie diese Tage vorbeirauschen, und frage mich: Wohin sind sie gegangen? Jedes Mal wenn ich vom Computer aufschaue, sehe ich die Sekunden runterzählen. Das macht mir bewusst, dass alles endlich ist. Wenn man dieses Bewusstsein der Endlichkeit hat, lebt man besser und nicht einfach blau in den Tag hinein. Wenn man verstanden hat, dass es im Leben keinen Rückspulknopf gibt, werden viele vermeintliche Probleme des Alltags ganz, ganz klein.
Ich spitze zu: Du lebst jetzt schon besser. Aber «richtig gut» lebst du demnach erst, wenn da vielleicht noch fünf steht oder zehn?
So ist es (lacht). Ich kann die restlichen guten Sommer, die ich noch habe, heute an beiden Händen abzählen. Bei mir sieht es so aus: zehn, zehn und acht. Das sind verdammt wenige. Und genau deshalb will ich sie nicht mit Dingen zubringen, ja verschwenden, die eigentlich irrelevant sind, obschon viele glauben, sie seien wichtig. Das macht frei – wenn man denn von Freiheit tatsächlich noch reden will.