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Das Reisen und sein Gegenteil

 

Eben habe ich zum dritten Mal meinen Flug nach Bilbao umgebucht. Das geht in diesen Tagen umstandslos und gebührenfrei. Mit jeder Umbuchung schiebt sich allerdings die Reise tiefer ins schwammige Reich der Sehnsucht. Was wollte ich eigentlich?

Ich wollte in einer Pension in der Altstadt von Bilbao eine Novelle beenden. Das mag in diesen Tagen als ein doppelt unsinniges Vorhaben erscheinen. Reisen und Literatur. Während die Pandemie uns in jeder Hinsicht einschränkt, ein Miteinander verbietet, Geist und Körper gleichermassen lähmt. Immerhin ist damit das Reisen zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt: der Sehnsucht.

Im Grunde ähneln sich Reisen und Schreiben. Sie ent­springen demselben Wunschkomplex: Eine Flucht aus seinen Lebensverhältnissen hinaus, einen Blick auf das andere wagen und zugleich ein Zusichkommen. Es gibt grossartige Reiseliteratur, keine Frage, aber wenn es zum Genre verkommt, langweilt es gewaltig, die Weltumseglung eines wohlhabenden Schweizers, die afrikanischen Liebeleien einer Deutschen, das Wandeln auf Goethes Spuren durch Rom, so neulich wieder ein junger traditionsbewusster Romancier. Ihnen fehlt vielleicht weniger die Sehnsucht als die innere Notwendigkeit, die Ahnung, dass am Ende eine tragische Vergeblichkeit ­aufwarten könnte. Vermutlich müssen wir auf die Erfahrungsberichte Geflüchteter warten, um eine Reiseliteratur zu lesen, die auf der Höhe der Zeit und in ihrer Tragik wahrhaftig wäre.

So gesehen ist es doch gut, dass ich nicht nach Bilbao fliegen kann. Der junge traditionsbewusste Romancier empfiehlt übrigens, die Pandemie zu nutzen und dieses Jahr einmal durch die Heimat zu reisen. Damit «wir» uns besser kennenlernen. Das wäre dann die Antithese zum Reisen: die platte Selbstvergewisserung.

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