Das reiche Leben eines Losers
Matthias Zschokkes «Maurice mit Huhn»
«Wieder nichts zu tun gehabt.» So endet Maurices Arbeitstag, so beginnt der Roman des Schweizer Autors Matthias Zschokke. Das Büro, das Maurice in einem eher heruntergekommenen Stadtteil Berlins betreibt, prosperiert nicht gerade, und so hat er im Überfluss, was andern fehlt, nämlich Zeit. Die nutzt er für Streifzüge durch die Stadt und registriert für den Leser, was er unterwegs beobachtet und erlebt. Ein Loser, könnte man denken, einer, der nichts anpackt und sich ziellos durchs Leben treiben lässt, das kennt man doch schon. Weit gefehlt. Maurice kennt man noch nicht.
Das Leben, das Maurice führt, ist zwar unscheinbar, doch seine Randexistenz verhilft ihm zu einem ungewohnten Blick auf die Umgebung. Weil er Lehrsätzen nie getraut hat, weil ihm zu allem auch das Gegenteil einfällt, beginnt er irgendwann den eigenen Gedanken zu folgen – und der Leser folgt ihm durch einen an Einfällen und Beobachtungen reichen Roman. Mit melancholischem, scheinbar ungerührtem Gleichmut erzählt er vom elften September oder dem Sterben seiner Mutter; dann wieder führt eine harmlose Haartinktur zu fabulösen Nebenwirkungen wie Taubheit oder Mondgesichtigkeit. Durch eine ironische, manchmal übertreibende, dann wieder unterkühlte oder einen einfachen Vorgang umständlich beschreibende Erzählweise verfremdet und unterwandert er gewohnte Sichtweisen, unser Alltag verrät seine absurden und komischen Seiten.
Was andern lästig ist, verspricht Maurice oft gerade den besonderen Reiz. So erfährt er das stundenlange Warten auf einen Bus als Gipfelpunkt einer nahöstlichen Reise. Überhaupt hat der Leser bald das Gefühl, Maurice sei derjenige, der einer Leidenschaft, einem geheimen Ziel folge, während die andern, die gestresst an ihren Karrieren basteln, ziellos erscheinen und nicht vom Fleck kommen. Der scheinbare Verlierer wird zum Gewinner.
«Maurice hatte immer an der Hoffnung festgehalten, das Leben stecke voller Überraschungen; es biege die Menschen in ungeahnte Richtungen; die Zukunft sei jederzeit offen, rätselhaft, ungewiss.» Ein Klassentreffen in seiner Heimatstadt schockiert ihn jedoch, denn alle «waren genau das geworden, was sie immer schon gewesen waren». Die einzige Überraschung war lediglich ein ehemaliger Schulkamerad, einst ein schöner Junge, der es zu nichts gebracht hatte. «Er war ein anderer geworden, hatte aus sich etwas gemacht, etwas Trauriges, Hoffnungsloses zwar, aber immerhin: er hatte sich aus eigener Kraft in etwas Unbekanntes verwandelt.» Die Szene ironisiert zwar unsere Vorstellungen von innerer und äusserer Reifung, doch sie zeigt auch, dass der Protagonist nicht ein ziellos Treibender ist, nicht bloss Kind unserer Zeit, sondern auch ein Suchender, Hoffender, dem Unbekannten auf der Spur.
Immer wieder hört Maurice in der Nachbarschaft ein Cello, das er nicht orten kann; im Roman wird es zur Stimme einer undefinierbaren Sehnsucht. Die erhoffte Begegnung mit dem vermeintlichen Spieler erweist sich nachträglich jedoch als reine Imagination. Nicht nur die Grenzen zwischen Realem und Erträumtem sind in diesem Roman gelegentlich aufgehoben, oft reicht auch Vergangenes in die Gegenwart hinein. Die tote Mutter taucht als «rettichfarbener Schrumpfkopf» in einem Berliner Fenster wieder auf, wobei der Autor den Kopf derart akribisch, wie ein in Formaldehyd eingelegtes Objekt, beschreibt, dass die Mutter zum Sinnbild alles Mumifizierten wird.
Nicht zeitverhaftete Enge treibt den Erzähler, sondern eine stille Ferne, eine manchmal fast milde, abgeklärte Distanz zur Welt, die dem Roman seinen Atem und seine Weite gibt. Der Erzählfluss ist ein geduldiger, breiter. Einerseits folgt der Autor assoziativ seinen Einfällen, andererseits macht ein festes Personal den Text zum eigentlichen Roman. Der Leser wird mit Freunden und Bekannten des Protagonisten vertraut: mit Flavian, der «seinen Klienten korrekte Aussprache und sichereres Auftreten» beibringen möchte, mit Hamid, Sohn persischer Eltern und alleinigem Besitzer einer Kaviarfirma, mit Menschen aus der Nachbarschaft. Der Gegenwartsort, Berlin, kontrastiert mit dem Erinnerungsort L. in der Schweiz, wo Maurice Kindheit und Jugend verbracht hat. Sprachlich dicht und überzeugend vermag der Autor nicht nur Menschen, sondern auch jahreszeitliche Stimmungen und Atmosphärisches einzufangen.
Die Reibung an Berlin hat zu einem ungewöhnlichen Roman geführt, der gut tut in Zeiten einer Literaturpolitik, die gerade durch fiebriges Marktlückensuchen stets nur das Vertraute und Erwartete findet und so den Leser nicht ernst nimmt. Matthias Zschokke hat keinen Roman geschrieben, der sich auf den Ost-West-Konflikt oder eine ethnische Gruppe versteift – solch tagesaktuelles Pflichtprogramm hat der Autor zum Glück nicht im Visier. Was es jedoch mit dem im Titel versprochenen Huhn auf sich hat, will der neugierige Leser wissen? Er erhält die Antwort, jedoch erst gegen Ende des Romans.
Matthias Zschokke, «Maurice mit Huhn». Zürich: Amman, 2006.
Jürg Beeler, geboren 1957, ist Schrifsteller und lebt in Zürich. Zuletzt erschien von ihm «Das Gewicht einer Nacht» (2004).