Das pure Nichts
Von oben lässt sich dem Schrecken leichter zusehen. Man braucht nicht länger die Augen zu verschliessen, wenn keine Details zu erkennen sind. Über den Wolken ist es einfacher, mutig zu sein. Das Feindliche ist fern, man weiss sich in sicherem Abstand. In frischem Luftzug fliegt man herbei, inspiziert die Lage und eilt wieder davon. Aber […]
Von oben lässt sich dem Schrecken leichter zusehen. Man braucht nicht länger die Augen zu verschliessen, wenn keine Details zu erkennen sind. Über den Wolken ist es einfacher, mutig zu sein. Das Feindliche ist fern, man weiss sich in sicherem Abstand. In frischem Luftzug fliegt man herbei, inspiziert die Lage und eilt wieder davon. Aber wie verhält es sich, wenn gar nichts mehr zu besichtigen ist, wenn nur noch eine Wüstenei von Schlamm und Wasser übrig ist? Wo Minuten zuvor noch die Stadt stand, ist plötzlich nichts. Wo soeben noch 17’000 Menschen ihr Heim hatten, ist nur mehr Einöde, ein Flussbett, Überreste zweier Brücken, Abdrücke einiger Häuser, der Raster der Strassen, ein weisser Gebäudekomplex, der wie eine Insel aus dem Morast herausragt. Ein einziger Augenblick hat die Teilung der Elemente rückgängig gemacht. Wasser und Erde sind eins. Die Welt ist zurück ins Chaos gestürzt.
Über zehn Meter hoch hatte sich die Flutwelle in der engen Bucht von Minamisanriku aufgetürmt. Alles wälzte sie mit sich. Häuser wurden aus den Fundamenten gerissen. Mensch und Tier erstickten in der Flut, wurden unter Schutt und Schlamm begraben oder hinaus in den Ozean gespült. Autowracks fand man später drei Kilometer weiter das Flusstal hinauf. Auch die nahen Berghänge boten keinen Schutz. Nur eine Schule auf der Höhe blieb verschont. Auf dem Parkplatz schrieben Überlebende ein Notzeichen, um den Hubschraubern zu bedeuten, dass jemand davongekommen sei.
Es gibt eine Tradition der Katastrophenbilder, die das Unheil auf ein menschliches Mass verkleinert. Von Erdbeben, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüchen bleiben oft dieselben Motive im Gedächtnis. Im Tohuwabohu von Gebälk und Gestein suchen Überlebende nach Angehörigen, Hilfstrupps marschieren durch die Trümmerwüste, einsame Fussgänger oder Radfahrer irren durch endloses Chaos. Man sieht umgestürzte Autos, Waggons oder Flugzeuge, auf Dächer versetzte Schiffswracks, demolierte Hausfassaden, fassungslose Menschen vor Bergen bizarren Schutts.
Die Dinge, die dem Leben eine materielle Einrichtung verliehen hatten, sind zerstört. In Auffangquartieren warten Überlebende. Manchmal finden Verschollene wieder zueinander. Hier und da geschehen sogar Wunder. Auch Tage danach graben Helfer
Verschüttete aus, welche Durst und Frost überstanden haben. Diese trostvollen Bilder suchen der Katastrophe ein menschliches Gesicht zu geben und den Fortbestand des Gattungswesens zu bekräftigen.
Das Luftbild wurde am Tag nach der Flutwelle aufgenommen. Da die Verkehrswege in den Nordosten Japans zerstört waren, konnten nur Hubschrauber die Region erreichen. Der Anblick übertraf alle Befürchtungen. Die Welt, die man kannte, existierte nicht mehr. Die Zivilisation war verschwunden. Die Anschauung des Unheils war durch keine Begriffe einzuhegen. Ein erfahrener Bildreporter, der in seinem Berufsleben schon alles gesehen hatte, berichtete, er habe, als er Tage später vor dem Trümmermeer stand, die Kamera sinken lassen, weil er mit Auge und Objektiv nichts mehr begreifen konnte.
Anders als die konventionellen Unglücksbilder vermittelt die Luftaufnahme eine Vorstellung vom Ausmass der Katastrophe.
Sie bietet eine Totalansicht vollständiger Verwüstung. Indem sie das Detail verschweigt, zeigt sie die übermenschliche
Dimension des Ereignisses. Schuttberge kann man abtragen, das pure Nichts entzieht sich dem Verstehen.
Der beschauliche Küstenort hat sich in ein Massengrab verwandelt. Den Tod des einzelnen kann der Mensch begreifen, den Massentod nicht. Das Bild der Leere reizt nicht die Sinne und Affekte, sondern die Einbildungskraft. Sie sucht das Nichts aufzufüllen. Sogar
das sichere Gebäude der Stadtverwaltung ist verschwunden.
Das Spital aber steht noch. Die Mauern haben der Flut standgehalten. Die Fenster sind alle ausgeschlagen. Die Patienten sind alle tot.
Bis ins vierte Stockwerk stieg die Flut empor. In der fünften Etage mit den Dienstzimmern überlebten ein paar Schwestern und Ärzte. Rundum von tobenden Strudeln eingeschlossen, sahen sie, wie die Stadt im Ozean versank. Noch Wochen nach dem Seebeben sind mehr als die Hälfte der Stadtbewohner verschollen. Viele sind unter dem Schutt begraben, andere wird das Meer an den Strand spülen. Aber viele Überlebende haben nichts, woran sich ihre Trauer heften könnte, keinen Leichnam, kein Erinnerungsstück, keine Spur ihrer früheren Behausung. Sie haben niemanden mehr, mit dem sie ihr künftiges Leben teilen könnten. Sie kehrten zurück, suchten nach Überresten – und fanden nichts.