«Das Problem liegt eher beim Publikum»
Die Gesellschaft versage bei der Kulturvermittlung, beklagt Komponistin Helena Winkelman. Im Gespräch erklärt sie, wie sich insbesondere jüngere Menschen für moderne klassische Musik gewinnen liessen.
Frau Winkelman, was ist eigentlich zeitgenössische Komposition?
Im Grunde kann man alles, was heute geschrieben wird, als zeitgenössische Komposition betrachten. Wir haben heute ein grosses Nebeneinander von Stilen und Kompositionstechniken.
Wie kamen Sie zur Musik?
Meine Eltern sind beide Berufsmusiker, ich wollte aber eigentlich zuerst Philosophie oder Psychologie studieren. Als ich 1990 mit 16 Jahren mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester auf Europatournee war und plötzlich verstand, wie gross die Welt der Musik war, beschloss ich, mein Talent zu nutzen. Während unserer Orchesterprobephasen sah ich auch, wie viel fortgeschrittener die technische Entwicklung meiner jungen Kollegen aus dem damaligen Ostblock war. Meine tschechischen Freunde hatten zum Beispiel in der Woche vier Lektionen mit ihrem Geigenlehrer, ich in der Schweiz dagegen nur eine. Ich war neidisch. Die vielen Schulen mit Musikschwerpunkt in diesen Ländern erlaubten meinen Kollegen auch, täglich mehrere Stunden zu üben. Mit dem Schweizer Schulsystem ist das nicht vereinbar, momentan existieren nur drei spezielle Musikgymnasien: Schiers, Rämibühl und Hofwil. Weil die Jahre zwischen 15 und 20 sehr wertvoll für das Training des Körpers sind, habe ich auf die Matura verzichtet und bereits ein Jahr später mit dem Violinstudium in Luzern begonnen.
Wann folgten Ihre eigenen Kompositionen?
Erst mit 19. Ich habe zwar von Anfang an improvisiert, mir fehlten aber die theoretischen Grundlagen. Nach Beginn des Musikstudiums schrieb ich meine erste Komposition für Solovioline. Sie war für meinen kleinen Bruder Matthias und hiess «Triceratops», weil er Dinosaurier liebte. Nach meinem Lehrdiplom in Luzern und meiner solistischen Ausbildung in Mannheim bin ich mit 23 für ein Zwischenjahr nach New York gegangen. Dort erst wurde das Komponieren für mich zentral. In Europa hatte ich angesichts der grossen Werke der Vergangenheit, mit denen ich mich als Interpretin ständig auseinandersetzte, zu grosse Hemmungen. In Amerika spürte ich eine junge Energie. Es ist eine Welt, in der das Neue sehr viel bedeutet und in der es auch nicht so schlimm ist, wenn man zuerst scheitert. Das gab mir Mut, etwas zu riskieren. Als ich nach Basel zurückkehrte, gaben mir Instrumentalisten, die ich verehrte, die ersten Aufträge, darunter der Cellist Thomas Demenga und der Geiger Hansheinz Schneeberger.
«In Amerika spürte ich eine junge Energie. Es ist eine Welt, in der das Neue sehr viel bedeutet und in der es auch nicht so schlimm ist, wenn man zuerst scheitert. Das gab mir Mut, etwas zu riskieren.»
Wie nahmen Sie die Situation für Komponisten in der Schweiz wahr, als Sie aus den Vereinigten Staaten zurückkamen?
Das ist nicht leicht zu beantworten, da ich die verschiedenen Ansätze des Komponierens in der Schweiz erst kennenlernen musste. Ich brachte aus den USA viele Jazzeinflüsse mit, den vitalen Rhythmus und ein Bedürfnis nach klaren Harmonien. Meine Mitstudenten an der Akademie in Basel dachten aber struktureller, liebten instrumentale Special Effects und mathematische Berechnungen. Für mich war die ungarische Schule prägend. Die Musik Béla Bartóks war für mich der Ausgangspunkt beim Finden meiner eigenen kompositorischen Sprache. An einem Kammermusikfestival lernte ich später den grossen ungarischen Komponisten György Kurtag kennen. Er ist jetzt 97 Jahre alt ist und ich besuche ihn noch oft. Zudem hatte ich das grosse Glück, in Basel bei Roland Moser Komposition zu studieren. Er ist Kurtag sehr verbunden und gab mir das Rüstzeug, in einer Tradition weiterzufahren, in welcher der Mensch und seine Abgründe zentral sind. Das ist eine Musik, die ganz für die grossen Interpreten europäischer Instrumentalmusik geschrieben ist.
Wie stehen Sie zu elektronischer Musik?
Die war mir nie besonders wichtig – der interkulturelle Dialog hingegen sehr. Ich bin ganz begeistert von Cultural Appropriation, nur sollte das eine ernsthafte sein. Viele Jahre lang eine andere Kultur zu studieren und deren Reichtum zu erkennen – nichts trägt mehr zu unserem gegenseitigen Verständnis bei als das. Und wir brauchen dieses gegenseitige Verstehen so dringend.
Wie gehen Sie hier vor?
Jeder Interpret steht vor der nicht ganz einfachen Aufgabe, aus ein paar schwarzen Punkten, die vor langer Zeit geschrieben wurden, wieder eine lebendige Welt zu erschaffen, so dass die Zuhörenden verstehen, wie sich die Menschen damals fühlten. Das ist eine Art von Zeitmaschine. Für jemanden, der komponiert, sind die Herausforderungen noch grösser. Weil sich durch die Medien die Welt so rasch verändert, stellt sich ständig die Frage: Habe ich mit anderen Menschen noch eine ausreichend ähnliche kulturelle Basis, so dass wir uns verstehen können? Kultur entsteht ja immer als eine Art freundliche Verschwörung ähnlich gesinnter Geister – sie ist das Manifest einer Gemeinschaft, einer Weltsicht. Wie gehe ich also als Komponistin auf die Welt meines Publikums ein? Schreibe ich superkurze Stücke, weil meine jüngeren Zeitgenossen nur noch TikTok-Reels schauen? Oder vertraue ich darauf, dass sie erkennen, dass eine längere musikalische Geschichte etwas anderes bringen kann als das Kurzabenteuer eines Reels?
«Jeder Interpret steht vor der nicht ganz einfachen Aufgabe, aus ein paar schwarzen Punkten, die vor langer Zeit geschrieben wurden, wieder eine lebendige Welt zu erschaffen.»
Begann mit den Instrumentalvirtuosen, die im 18. Jahrhundert in den Salons der Stadtbevölkerung auftraten, jene Kommerzialisierung, die über Maria Callas und die Ikonen der Popmusik zu den selbstgemachten Stars der sozialen Medien führt?
Dass eine herausragende Künstlerpersönlichkeit die Menschen anzieht, ist eine alte Tatsache. Je mehr das Bürgertum Anteil nahm am kulturellen Leben seiner Stadt, desto mehr Menschen hatten Interesse an solchen Künstlern und desto mehr bestimmte der Bürgergeschmack, was dargeboten wurde. «Jede Zeit hat die Künstler, die sie verdient», lautet ein Sprichwort, das nicht unwahr ist. Kein Bühnenmensch kann den Geschmack seiner Zeit ganz ignorieren. Dank der öffentlichen Kulturförderung haben wir zwar heute noch die Möglichkeit zur Experimentalkultur, die unabhängig vom Massengeschmack ist. Gleichzeitig gab es wohl kaum zuvor eine Zeit, in der es so leicht war, kommerziell präsent zu sein mit einer Musik, die – oft in Kombination mit Drogen – als upper oder downer funktioniert, ansonsten aber keine Inhalte und Werte vermittelt.
Wie stehen Sie zur Marktförmigkeit moderner Komposition?
Manchmal macht es mich etwas traurig, dass Leute, die nur kommerzielle Absichten und kaum eine Ausbildung haben, heute eine solch dominierende Kraft sind. Musiker, die unsere alte, seit Jahrhunderten überlieferte Hochkultur weiterzuentwickeln versuchen und viel Zeit und Opfer aufbringen, um in ihrer Kunst diese Tiefe zu erreichen, sind hingegen im öffentlichen Raum fast ausgegrenzt, nicht bewusst, sondern durch Unkenntnis. Wir sind alle davon abhängig, was uns an der gesellschaftlichen Oberfläche – vor allem in den Medien – präsentiert wird. Natürlich verbergen sich darunter andere Realitäten, aber wenn man nicht um diese weiss, findet man sie nicht. Die Printmedien tragen Verantwortung für diesen Niedergang. Sie kommen ihrer Pflicht, zu kuratieren und Hinweise auf kulturell wirklich Wertvolles zu geben, nicht mehr nach. Sie hängen einfach ihre Fahne nach dem Wind, weil auch sie kommerziell erfolgreich sein müssen.
Ist die gegenwärtige Generation junger Menschen für die klassische Musikkultur verloren?
Ich bin gerade von einer Serie von Musikfestivals zurückgekehrt, wo ich Composer in Residence war – Krzyzowa in Polen, das IMS-Kammermusikfestival Prussia Cove in England sowie das Ernen-Festival in der Schweiz. Dort traf ich viele jüngere Musikerinnen und Musiker aus aller Welt und war voller Bewunderung für ihr musikalisches Verständnis, ihre perfekte Instrumentaltechnik und ihre Offenheit, sich auf alles einzulassen. Es war eine Freude, mit ihnen zu arbeiten. Das Problem liegt eher beim Publikum – seinen Erwartungen, seinem Wissensstand und der Konditionierung seiner Aufmerksamkeitsspanne durch den Medienkonsum.
Inwiefern?
Viele junge Leute stehen der heutigen Gesellschaft und ihren Anforderungen etwas ratlos oder sogar kritisch gegenüber und nehmen jedes Angebot zur Flucht gerne wahr. Im Grunde schafft jede Kunst eine alternative, innere Realität – aber idealerweise sollte diese eine Inspiration sein, im realen Leben mit Ziel und Kraft handeln zu können. Ein gutes musikalisches Programm soll den Hörern einen Moment zum Innehalten und Nachspüren bieten und sie begeistert entlassen.
Was müsste sich ändern, damit moderne Komposition auch für junge Menschen erfahrbar wird?
Früher Schauspiel- und Instrumentalunterricht sowie kleine Chöre. Ohne eine Basis geht es nicht, und für diese sind Schulen und Kindergärten verantwortlich. Es existieren viele Studien, die belegen, wie wichtig der Musikunterricht für eine gute Leistung in allen anderen Fächern ist. Die musikalische Praxis ist das beste Hirntraining überhaupt. Und gerade wenn man sich am Anfang schwertut, dann sollte man sich umso mehr darin üben. Zudem: Zusammen Musik zu machen ist berauschend – ich weiss nicht, wie andere Menschen überleben, die diese Erfahrung nicht haben. Am nächsten kommt dem vielleicht der Teamsport.
Neben Ihrem Interesse an gesellschaftlichen Fragen haben Sie einmal C. G. Jung als Referenz genannt.
Ja, weil er wichtige spirituelle Elemente in die Psychologie hineingebracht hat. Auch hat sein Interesse am Wissen alter Völker meine eigene Neugier darauf geweckt. Ich habe als Jugendliche mit dem Lesen von Platon, Schopenhauer und Leibniz begonnen. Durch die Bekanntschaft mit einem tibetischen Abt kam ich mit 14 Jahren dem Buddhismus näher, und nach einer physischen Krise am Ende meines Kompositionsstudiums lernte ich in England den Schamanismus und die Medizinlehren der amerikanischen Urvölker kennen. Und alles, was ich in dieser Hinsicht lerne, hilft meiner Arbeit. Wie schwierig es ist, ein Instrument gut zu spielen und vor einem grossen Publikum zu stehen und mit ihm zu kommunizieren, ohne Angst vor Fehlern zu haben: Das können diejenigen Menschen am besten wertschätzen, die selbst einmal ein Instrument in die Hand genommen und sich mit Hoffnung und Geduld dem Üben gewidmet haben.
Was ist für Sie das Schönste am Komponieren?
Wenn mich eine musikalische Idee an der Hand nimmt und sagt: «Ich möchte da hin.» Dann ähnelt meine Arbeit der eines Romanschriftstellers. Ich verstehe den Charakter dieser Idee und sehe, wie sie sich entwickeln kann. Ich lege ihr Steine in den Weg, konfrontiere sie mit anderen Charakteren und schaue, was passiert. Aber das Beste überhaupt ist das gemeinsame Proben eines neuen Werks, wenn meine innere Vorstellung tatsächlicher Klang wird und die Mitmusiker ihre eigenen Ideen einbringen.