Das Problem des Kapitalismus ist, dass er mit Kapitalismus nicht mehr viel zu tun hat
Seit Staaten Geld aus dem Nichts erschaffen können, leben wir nicht mehr in einer Marktwirtschaft, sondern in einer Geldplanwirtschaft. Mit verheerenden gesellschaftlichen Folgen.
Mit dem Ende der Sowjetunion schien der Kapitalismus als Gewinner aus dem Systemwettbewerb hervorgegangen zu sein. Umso erstaunlicher ist, dass der Begriff in fast allen Ländern überwiegend auf Ablehnung stösst. Ausnahmen sind etwa das offiziell «sozialistische» Vietnam und das kleptokratische Nigeria. Auch in der Schweiz, die oft als Vorbild für wirtschaftliche Freiheit gilt, misstrauen viele dem Kapitalismus.
Das Wort entstand als Kampfbegriff und trägt ideologischen Ballast. Doch am Namen alleine liegt es nicht, denn die Abneigung gegenüber dem Begriff «Kapitalismus» hat längst auf den Begriff «Marktwirtschaft» abgefärbt, der nur leicht positiver gesehen wird. Es scheint, als wolle jede Generation lieber aus eigenen Fehlern lernen als aus denen der Eltern und Grosseltern. Je näher die realsozialistische Erfahrung zeitlich und geografisch ist, desto grösser die Zustimmung zur Marktwirtschaft.
Doch diese Erklärung ist nicht ausreichend und hat den schalen Beigeschmack, dass sie der Mehrheit der Bevölkerung die Rationalität abspricht. Insbesondere der Gerechtigkeitssinn wird durch die bestehenden Verhältnisse irritiert. Als «kleineres Übel» wäre die Marktwirtschaft auch nur unzureichend begründet.
Stetiger Kaufkraftverlust
Hilfreicher ist es, von den Etiketten Abstand zu nehmen und die Realität zu betrachten. Woher kommt die allgemein wahrgenommene und von Thomas Piketty mit Bestsellererfolg angeprangerte wachsende Ungleichheit? Pikettys marxistische Begründung und Schlussfolgerungen sind natürlich Unsinn. Korrekt ist der empirische Nachweis, dass seit etwa 1971 die Schere zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen auseinandergeht.
In westlichen Ländern, insbesondere in der Schweiz, bietet das sichtbarste Symptom zugleich einen Hinweis auf die plausibelste Erklärung. Der Druck über Mieten und Eigenheimpreise teilt die Gesellschaft in zwei Klassen: Immobilieneigner und Immobiliennutzer. Während jeder Nutzer sein muss, können immer weniger Eigner sein – das daher wachsende Wohnproletariat sieht sich zunehmend mit kargem Wohnraum konfrontiert.
Gewiss ist gerade in der Schweiz der Bau hochreguliert und daher in einer Weise verknappt, die wenig marktwirtschaftlich ist. Doch dies trägt nur marginal zur steigenden Ungleichheit bei. Viel gewichtiger ist das Phänomen der Monetisierung von Wohnraum, das heisst die Übernahme einer Funktion von Geld, nämlich ein Mittel für das Ansparen zu sein. Selbst in der relativen Hartwährung Franken ist das direkte Sparen nur noch ein Kindermärchen, mit dem Banken Kunden an sich zu binden versuchen. Der Kaufkraftverlust über die Lebenszeit ist dramatisch, vor allem wenn man Barguthaben mit Vermögenswerten vergleicht.
«Selbst in der relativen Hartwährung Franken ist das direkte Sparen nur noch ein Kindermärchen, mit dem Banken Kunden an sich zu binden versuchen.»
Umverteilung von Arm zu Reich
Für den oberen Mittelstand hat die Vorsorgewohnung das Sparbuch ersetzt. Leider ist diese Anlage mit gesellschaftlichen Mängeln verbunden: Wohnraum ist ein Grundbedürfnis, doch der Zugang zu Immobilien wird immer exklusiver. Hohe Preise erfordern und besichern immer höhere Kreditlinien. Der Zugang zum durch privilegierte Banken geschaffenen Kreditgeld ist extrem ungleich und verleiht Vermögen einen beachtlichen Hebel.
Da Kreditgeld dem Bargeld gleichgestellt ist und die entsprechenden Risiken in hohem Masse sozialisiert sind, wirkt die Geldschöpfung durch Banken doppelt verheerend. Als Cantillon-Effekt bezeichnet wird die Schieflage, dass bei konzentriertem Geldmengenwachstum eine laufende Umverteilung stattfindet: von den Letztempfängern zu den Erstempfängern des neuen Geldes, von denjenigen, die weiter vom Finanzsystem entfernt sind, zu denjenigen, die sich in seinem Zentrum befinden.
Diese Dominanz letztlich unproduktiven Kredits stellt die Systembeschreibung infrage. Kapital bedeutet eigentlich unternehmerische Ungewissheit. Von einer Überhöhung des Kapitals kann heute gar keine Rede sein. Es giert nach «sicheren» und «passiven» Renditen, die letztlich kaum den Kaufkraftverlust des Geldes auffangen können und durch diesen getrieben werden. Der resultierende Spekulationswettlauf erinnert an das Kinderspiel «Reise nach Jerusalem» mit systematisch zu wenig Stühlen.
Kreditismus statt Kapitalismus
Eine eigenartige Marktwirtschaft ist das, in der das wichtigste Gut der Zentralplanung unterliegt: Geldplanwirtschaft, ein System, in dem es «too big to fail» und alternativlose Stützungsinterventionen gibt. Noch unterliegt die Verteilung der Konsumgüter überwiegend der Marktwirtschaft, aber auch im tiefsten Sozialismus wirkten hier stets – meist illegale – Märkte. Wenn wir aber das Finanzsystem betrachten, so haben die schwindende Finanzierung für unternehmerischen Kapitalaufbau, die geringe Verantwortlichkeit, die Risikosozialisierung bei gleichzeitig enormer Regulierung und Überwachung kaum noch etwas mit Kapitalismus oder Marktwirtschaft zu tun.
Ein anderer Begriff bietet sich eher an: Fiat. Das Bibelwort für die Schaffung aus dem Nichts haben Ökonomen schon lange für Geld in Verwendung, das willkürlich und weitgehend kostenfrei geschaffen werden kann. Es kann kaum ein Zufall sein, dass seit 1971 nicht nur die Ungleichheit deutlich wächst, sondern auch die Leitwährung ihren Anker verloren hat und frei treibt: Die Geldmenge M2 ist in den USA auf 21 Billionen Dollar gewachsen.
Der Fiatwohlstand der Immobilienaufwertung verblasst schliesslich gegenüber der globalen Schieflage einer anderen Monetisierung, jener von Staatsschulden. Während bei Immobilien immerhin noch ein Marktangebot besteht, verfügen Staatsschulden nur über Marktnachfrage. Diese «Märkte» sind hochgradig verzerrt. Aktuell 35 Billionen Dollar an monetisierter Staatsschuld der USA sind Ausdruck der Sogwirkung eines globalen Cantillon-Effekts. Das erklärt auch den erwähnten geopolitischen Beigeschmack der Systemfrage.
Statt von «Kapitalismus» sollten wir beim heutigen Finanzsystem also eher von zwei Aspekten reden, verschieden voneinander, aber beide im Gegensatz zur Ursprungsbedeutung, als der Kampfbegriff im 19. Jahrhundert von den Fürsprechern der Marktwirtschaft positiv aufgenommen wurde. Der erste Aspekt könnte eher als «Kreditismus» etikettiert werden, als Dominanz eines überregulierten Geldschöpfungskartells. Der zweite Aspekt ist die Umstellung der US-Wirtschaft von der Güterproduktion auf die Dollarproduktion im Zuge der globalen Schieflage einer Fiatleitwährung.
Spaltung der Gesellschaft
Kredit ist unverzichtbarer Bestandteil einer arbeitsteiligen Marktwirtschaft. Doch die Überhöhung des Kredits hat verheerende Folgen. Geldschöpfung, die nicht einmal mehr die Produktivität erhöht, verringert die Kaufkraft von Ersparnissen. Das bestraft die Sparsamen zugunsten der Konsumfreudigen und derjenigen mit dem leichtesten Zugang zu Krediten. Diese laufende, aber unsichtbare Umverteilung von Arm und Fleissig zu Reich und Faul bringt nicht nur falsche Anreize, sondern spaltet auch die Gesellschaft. Es entsteht eine unterschwellige Abneigung gegen Reichtum, da Hedonismus und Bereicherung sichtbarer werden. Diese Abneigung trifft dann indirekt den Wohlstand, verleidet den Wohlstandsaufbau und muss früher oder später in die Verarmung führen.
Der Kapitalkonsum ist die verheerendste Folge des Kreditismus im Gegensatz zu einer wahrhaften Kapitalorientierung. Durch die Geldillusion – die Wahrnehmungsverzerrung durch ansteigende Preise – wird Kapital in überhöhten Ausschüttungen und Abnützungen verzehrt. Immer weniger Kredit dient der Investition zur Wohlstandsmehrung, immer mehr dient dem Vorauskonsum. Unternehmerische Ungewissheit kann immer weniger bestehen gegen die falschen Gewissheiten «passiver» Renditen, die aus der Geldvermehrung kommen, und sofortiger Lustmaximierung, die an die Stelle vorausschauenden Haushaltens tritt.
Neue Möglichkeiten
Natürlich bietet jedes System auch neue unternehmerische Möglichkeiten. So wie die Oligarchen aus den Konzentrationen des Sowjetsystems hervorgingen und sich im modernen Mischsystem entfalten konnten, bietet das heutige Finanzsystem grosse Hebel für jene, die sie bedienen können. In Europa kommt das meiste neue Vermögen aus Immobilienanlagen. In den USA konnte immerhin über die Verbindung der Finanzindustrie der Ostküste mit den modernen Technologien der Westküste neue, wenngleich massiv verzerrte und konzentrierte Wertschöpfung entstehen. Dafür sind in den USA die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Geldschöpfung ausgeprägter. Ebenso unübersehbar ist in den Städten steigende Kurzfristigkeit: Konsumwahn, Sucht, gesellschaftlicher Zerfall, digitale Ablenkung und politische Hysterie.
Viel schlimmer für Europa aber ist, dass das vermeintliche Versagen des «Kapitalismus» als Legitimierung für noch mehr Planwirtschaft, Umverteilung, Regulierung und Rückständigkeit genutzt wird. Aus falschem Stolz könnte der Konsum des mühsam aufgebauten europäischen Kapitals durch eine nichtsnutzige politische Kaste und ihre Günstlinge dann noch als «Sonderweg» und alternativlose Systemalternative gepriesen werden.
Die einsetzende Verarmung ist zunächst schleichend, sichtbar in sinkender Lebensqualität, Teuerung und Infrastrukturversagen. Wenn nicht mehr genügend verteilt werden kann, entlädt sich auch mehr Wut auf das «System». Dem Kapital seinen Konsum anzulasten, wäre bizarrer Wahn. Umso wichtiger, bei den Wörtern streng zu sein, denn sie gehen den Taten voraus.