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Das Prinzip Sicherheit

Wolfgang Sofsky, Das Prinzip Sicherheit
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005

«Drei Übel lasten auf dem Dasein der Menschen. Katastrophen zerstören ihre Welt, Gefahren überschatten ihre Zukunft, und Risiken sind der Preis ihres Handelns.»

Von diesen elementaren Übeln der Welt handelt das jüngste Buch des 1952 geborenen deutschen Publizisten Wolfgang Sofsky, der lange an den Universitäten Göttingen und Erfurt Soziologie lehrte und im vergangenen Jahrzehnt mit der Analyse «Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager» und dem «Traktat über die Gewalt» Aufsehen erregte. Seit 2001 ist er als freier Autor und Mitarbeiter namhafter Presseerzeugnisse tätig.

Den verhängnisvoll-destruktiven Drei-klang Katastrophe – Gefahr – Risiko analysiert Sofsky in zwölf konzisen Kapiteln. Er beginnt bei Katastrophen wie dem Erdbeben von Lissabon von 1755 und dem Terroranschlag auf das World Trade Center, schreitet weiter zu den Kulturen der Ängstlichkeit, beugt sich über Versorgungs-, Versicherungs- und Risikogesellschaft und schliesst seinen Themenbogen mit Betrachtungen über Krieg, Ausnahmezustand und Terror.

Die begriffliche Trinität Katastrophe – Gefahr – Risiko liesse sich auch in den einzigen Begriff der fundamentalen Unsicherheit bündeln. Eben diese Unsicherheit, bis jetzt das in vielfacher Gestalt – sei es politische, ökonomische oder soziale – auftretende prägende Element des jungen 21. Jahrhunderts, vermehrt sich gewissermassen von allein und befördert letzten Endes, dass sich nur scheinbar widerstreitende Bewusstseinsstadien, nämlich Instabilität, Apathie, Hysterie und Lethargie gleichzeitig einstellen. Denn «der Umgang mit Unsicherheiten», so Sofsky mit wuchtiger Klarheit, «ist alles andere als rational. Weniger die Sachlage als der Wunsch nach innerem Gleichgewicht bestimmt die Wahrnehmung. Risiken, die man selbst eingeht, werden mit Vorliebe beiseite geschoben. Gefahren, für die andere verantwortlich sind, bauscht man hingegen auf.» Und weiter: «Wenn die Angst um sich greift, schwindet der Glaube, dass das Leben wie gewohnt weitergehen wird und man auch morgen noch das tun kann, wozu man heute imstande ist. Neues ist nicht mehr mit alten Erfahrungen zu bewältigen. Die Zukunft gleicht nicht mehr der Gegenwart und die Gegenwart nicht mehr der Vergangenheit. Die Gefahr lässt sich weder übersehen noch übergehen. Immer näher rückt sie heran, saugt alle Aufmerksamkeit auf, besetzt das Bewusstsein, die Stimmung trübt sich ein, die Angst nagt am Selbstvertrauen. Ein Schatten legt sich über Seele und Geist.»

«Nicht das reale Risiko bedrückt die Gemüter, sondern das vorgestellte Risiko. Dies ist zwar fiktiv, aber in seinen Folgen höchst real.» Unsicherheit ist einerseits exogen, andererseits endogen. Terror ist der von aussen herangetragene Faktor, der auch und gerade offene Gesellschaften bedroht, indem er allgegenwärtigen Schrecken verbreitet und Angst erzeugt. «Terror», so Sofsky, «trägt die Dynamik der Entgrenzung in sich. Die Angst ist nicht von Dauer, denn auf Dauer lässt es sich mit Angst nicht leben. Die Menschen flüchten oder passen sich der Gefahr an. Deshalb muss Terror stetig gesteigert werden. Verfliegt die Angst, verfehlt er sein Ziel. Der Schrecken steht unter dem Zwang zur Totalität. Die Zahl der Opfer muss erhöht, die Angst geschürt werden. Was anfangs noch die Verletzbarkeit des Feindes vor Augen führen sollte, wird zum Akt der Massenvernichtung.»

Aber an die Überlegungen über das Grundprinzip des Terrors schliessen sich bei Sofsky breitergefasste anthropologische Gedanken an, die um den Gegensatz zwischen Einzelnem und Gesellschaft kreisen. «Die Unsicherheit potenziert sich durch wechselseitige Fremdheit. Sowenig A die Absichten von B kennt, sowenig vermag B die Gedanken von A zu lesen. […] Nicht die Menschen begegnen einander, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen voneinander werfen. Unentwegt spiegelt sich der eine im anderen. Ein Hin und Her gegenseitiger Fiktionen, Prognosen und Phantasien begleitet die soziale Interaktion. Müssten die Menschen diesem Vexierspiel ihre gesamte Aufmerksamkeit widmen, sie wüssten nicht, wo ihnen der Kopf steht.»

Als Binnenfaktor und eigentliche, die Angst in Schach haltende Organisationsform ist der Fürsorgestaat gedacht. Doch in seiner westeuropäischen Ausprägung sorgt er unerwartet für Verunsicherung, erweist er sich nach einer eine Generation langen Perfektionierung mittlerweile als fragil, weil nicht länger im gewohnten Masse finanzierbar. Die prospektive, individuumsgefährdende Instabilität in der Sicht jener, die dieses System heute finanzieren und in absehbarer Zukunft nicht, oder nicht mehr, von ihm profitieren zu können, erzeugt Angst. Ob daran tatsächlich der intervenierende Sozialstaat Schuld trägt, wie Sofsky insinuiert, ist eine These, über die sich trefflich streiten liesse. Seinen eigenen Standpunkt formuliert er apodiktisch so: «Ausgestattet mit der Fiktion der Volkssouveränität, verspricht er [der moderne Interventionsstaat] Wohlstand für jedermann. Er verteilt das Eigentum um, lenkt Geldströme in seine Kassen und finanziert damit die Expansion seiner selbst. Die Rhetorik der Solidarität und Gerechtigkeit ist keineswegs uneigennützig. Zustimmung und Folgebereitschaft der Untertanen steigen mit der Illusion der Sicherheit und Glückseligkeit. Die grossen Worte sollen den inneren Imperialismus einer Staatsmacht rechtfertigen, die sich selber erhält, indem sie jeden sozialen Ort zum Schauplatz ihres Gesetzes, ihrer Ordnung, ihrer Ideologie macht.»

«Nicht Freiheit, Gleichheit oder Solidarität sind die Leitideen heutiger Politik, sondern Sicherheit – jederzeit, überall.» Manchmal sind Sofskys Gedanken kaum mehr als Wegmarken, die einen Gemeinplatz auszuschildern helfen. Doch dies geschieht glücklicherweise nur selten. Und wiegt als Einwand gering angesichts dieses an Umfang schmalen, an Gehalt aber wichtigen, anregenden Buches, dessen Lektüre nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

Wolfgang Sofskys eingängiger, durchwegs parataktischer Stil erinnert an alt-römische Oratoren, deren Reden mit verhaltenem Stolz in Marmor gefasst werden. Und grimmig ist auch seine Kritik, beispielsweise an den ohnmächtigen Vereinten Nationen und der Karawane der nation builders. So formuliert er beissend: «Die erste Aufgabe des Staates ist die Entwaffnung seiner Untertanen. Ohne Gewaltmonopol ist kein Staat zu machen. Staatsfragen sind Machtfragen. Oft ist Gewalt nur durch überlegene Gewalt auszutreiben. Auf andere Weise lässt sich ein Raum für friedliche Konkurrenz kaum abstecken. Diesen Einsatz scheut die internationale Gemeinschaft jedoch regelmässig. Beim ersten Anschlag suchen ihre Abgesandten das Weite, weil, wie es heisst, ihre Sicherheit nicht zu garantieren sei. So klagen die Emissäre eine Voraussetzung ein, die sie zuallererst herzustellen hätten. Lieber träumt die internationale Diplomatie davon, Kriegsherren in gute Demokraten und Milizen in politische Parteien zu verwandeln.» Und er zieht sogleich ein mahnendes Fazit: «Aber eine Macht, die sich nur auf Stimmen und fremdes Wohlwollen stützt, vermag keine Entscheidungen durchzusetzen, keine Verbrechen aufzuklären, keine Straftäter zu verurteilen, keinen Hochverrat zu ahnden. Am Ende wird nur eine Schutzmacht, die im Lande bleibt und den inneren Krieg siegreich beendet, den Einheimischen beim Aufbau eines friedlichen Gemeinwesens helfen können.»

Zum Ende liest man ein donnerndes Plädoyer für die Freiheit, die man in solchem Brustton argumentativ eindringlicher, sonorer Grundüberzeugung, zumindest im deutschen Sprachraum, nur selten gedruckt und verkündet findet und gerne weiterverbreitet fände, tritt doch Sofsky eloquent für selten gewordene, einst Europa auszeichnende Tugenden ein: «Freiheit erzeugt Unsicherheit. Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, ist keine. Freiheit schliesst nicht die Pflicht ein, Gutes zu tun. Vielmehr bietet Freiheit die Chance, Böses zu tun – und dafür die Konsequenzen zu tragen. Untaten sind nicht das Ergebnis der Freiheit, sie sind ihr Beweis. Freiheit ist keine Tugend, sondern die unabdingbare Voraussetzung aller Tugend.»

Deutlich unterstreicht er, dass Freiheit «immer ein riskanter Gewinn» ist. Denn: «Sie zerstört Sicherheiten und verlangt Initiative. Sie spornt zu Experimenten an, toleriert Dummheiten und Bosheiten, und sie fördert Konkurrenz und Rivalität.»

besprochen von Alexander Kluy, freier Publizist in München.

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