Das Prinzip Manifesta
Künstler beim Bestatter, Hundesalons in Galerien und ein Gruselopa in der Edelklinik – die Manifesta 11 machtʼs möglich. Aber: hat Zürich diese Art der künstlerischen Strukturförderung wirklich nötig? Einsichten aus dem Kuratorium und der Geschichte einer Wanderbiennale.
Manifesta? Klingt nach einer Zeit, da obskure Avantgardekünstler Manifeste verfassten, in denen sie die Museen verfluchten oder sich in suprematistische Parallelwelten raunten. Aber: weit gefehlt. Mit der Ära der heroischen und radikalen Avantgarden um 1900 hat die seit 1996 existierende Ausstellungsreihe nichts zu tun. Nicht das Manifest, sondern dessen weitaus nüchternerer Wortstamm «manifestare», auf Deutsch: «sichtbar» oder «handgreiflich machen», liegt ihr zugrunde. Und damit die basale Aufgabe von Grossausstellungen zeitgenössischer Kunst seit Gründung der Biennale di Venezia im Jahre 1895.
Biennalen führen Städte ins Licht touristischer und kulturpolitischer Aufmerksamkeit oder gehen als Hebammen bei Wiedergeburten ins Dunkel abgetauchter Regionen zur Hand. So verhielt es sich bereits 1895. Ziel der Biennale-Initiatoren war es, die in die Bedeutungslosigkeit abdriftende, einstige stolze Republik Venedig qua Kunst wieder auf der Karte öffentlichen Interesses und touristischer Pilgerströme zu markieren. Ähnliches lässt sich über das belgische Städtchen Genk sagen, wo die Manifesta 2012 mit ihrem Ausstellungsprogramm an die glorreiche Zeit der hiesigen Montanindustrie, der Grubengott hab sie selig, erinnerte und zugleich für die nachindustriellen Segnungen des Kunstbetriebs warb. Kunst statt Kohle, Kritik statt Kumpel, Vernissage statt Verhüttung.
Und nun also Zürich, nach Zwischenstopp in St. Petersburg 2014. Ähnlich wie heute Geld-, Waren- und Menschenströme mehr oder minder frei durch Europa flottieren, hat die Manifesta keinen festen Ort, man könnte auch sagen: kein Zuhause mehr. Findige Zeitdiagnostiker könnten sie als kuratorisches Pendant zur «flüssigen Moderne» (Zygmunt Baumann) deuten: Beweglichkeit, Flexibilität, Offenheit, Anpassungsfähigkeit, Wandelbarkeit, Vernetzung, Ortsunabhängigkeit bei gleichzeitiger site specificity – die Manifesta kultiviert jene Tugenden, die von guten Unternehmern wie auch Arbeitnehmern im dynamischen Kapitalismus erwartet werden. Mit zwei Begriffen von Gilles Deleuze und Felix Guattari lässt sich ihr Konzept als stetes Wechselspiel zwischen «Deterritorialisierung» und temporärer «Reterritorialisierung» begreifen; ein Konzept, das das alte, statische Modell von Peripherie und Zentrum hinfällig macht, paradigmatisch für die hybride Globalisierung steht und zugleich egalitären Werten wie Inklusion verpflichtet ist. Für alle ist also programmatisch was dabei – auch für die, die sich mit Kunst allein nicht zufrieden geben wollen. So versteht sich die Manifesta als «Biennale mit Forschungsauftrag».
Anders als in Genk ist es in Zürich nicht darum zu tun, einen peripheren oder vergessenen Ort aufzuwerten und im selben Zuge, wie es bei Biennalen zum gut unterdrückten Ton gehört, einen von Jacques-Rancière- oder Hannah-Arendt-Zitaten verbrämten Gentrifizierungsprozess einzuleiten. In all seiner Überschaubarkeit, Beschaulichkeit und Provinzialität ist Zürich als globaler Wirtschaftshub, Drehscheibe internationaler Finanzströme, touristischer Wallfahrtsort und Lebensabschnittsheimat unzähliger Expats bereits ausreichend gentrifiziert und vernetzt. Was hat die in Amsterdam domizilierte Manifesta-Stiftung also bewogen, ausgerechnet der Bewerbung Zürichs den Vorzug zu geben? Es ist, wie könnte es anders sein: das Geld. Aber keine Sorge, nicht dahingehend, dass Zürcher Emissäre mit ein paar diskreten Umschlägen in Holland vorstellig geworden wären. Vielmehr eignet sich Zürich als historisch gewachsenes Finanz- und Handelszentrum vortrefflich, um der Frage des diesjährigen Manifesta-Kurators Christian Jankowski nachzugehen: «What Do People Do for Money?» Und wenn Geld und Arbeit irgendwo auch Kultur sind, dann in der Schweiz.
Jankowski, der als Video- und Aktionskünstler reüssierte und eine Professur an der Kunstakademie Stuttgart innehat, ist nicht daran interessiert, die Welt zu spiegeln oder zu repräsentieren. Der 1968 in Göttingen geborene Trickster will in ihre Geschehnisse eingreifen und mit einer Vielzahl bevorzugt kunstferner Bevölkerungsgruppen interagieren, dabei überraschende Situationen erzeugen und den gewohnten Gang der Dinge zumindest temporär unterbrechen. Heute, da der Begriff «autonome Kunst» nachgerade zum Schreckgespenst des expansionshungrigen Kunstbetriebs geworden ist und der nach dem Zweiten Weltkrieg verständlicherweise diskreditierte Begriff «Kollaboration» fröhlich Urständ feiert, mag sich Jankowskis Ansatz wie business as usual ausnehmen. Doch er war früh dran. 1992 ging er mit Pfeil und Bogen im Supermarkt auf die Jagd. Auf der 48. Biennale di Venezia plauderte er 1999 mit italienischen Wahrsagern über seine Zukunft als Künstler. Im Stuttgarter Kunstmuseum lancierte er 2008 einen Rollentausch – Kuratoren wurden zu Sicherheitsbediensteten, die Direktorin zur Haustechnikerin. Einen Höhepunkt seines Schaffens stellt die 2011 in Kooperation mit dem Vatikan entwickelte Reality-TV-Show Jesus Casting dar.
Kollaborationen oder Die Elementarteilchen des Gruselopas
Für die Manifesta hat der ehemalige Rockmusiker gleichsam das Prinzip der Jamsession kuratorisch umgedeutet und rund dreissig internationale Künstler mit Vertretern diverser Zürcher Berufe zusammengebracht: etwa den italienischen Eulenspiegel Mauricio Cattelan mit der Schweizer Rollstuhl-Athletin Edith Wolf-Hunkeler, die mexikanische Konzeptkünstlerin Teresa Margolles mit der Transgender-Sexarbeiterin Sonja Victoria Vera Bohorquez und die holländische Hybridkünstlerin Jennifer Tee mit Rolf Steinmann, Leiter des Bestattungs- und Friedhofsamts Zürich. Ihr Job besteht darin, jeweils gemeinsam ein Projekt zu erarbeiten. Gezeigt werden die Resultate an ihren Entstehungsorten, in Zürcher Kunstinstitutionen und im Pavillon of Reflections, einer eigens errichteten Ausstellungsinsel im Zürichsee. Sogar der prominenteste Gruselopa des Literaturbetriebs, Michel Houellebecq, ist mit von der Partie. Wie die meisten Menschen dieser Welt hat auch er beschlossen, fortan als Künstler wirken zu wollen. Schnöde Schriftstellerei genügt nicht mehr, nur Kunst macht den darbenden Alteuropäer als solchen noch sexy. Bald schon wird Houellebecq eine Installation im Pariser Palais de Tokyo präsentieren, für die Manifesta hat er sich in einer Zürcher Edelklinik einem umfassenden Check-up unterzogen – vielleicht ja um prüfen zu lassen, ob der Untergang des Abendlandes sich nicht nur in seinen Texten, sondern auch in seinem Fleisch bemerkbar macht. Mais quelle surprise! Mit dem bevorzugt im Zombie-Gammler-Schwindsucht-Look auftretenden Kulturkritiker steht offenbar alles zum Besten. Bezahlen musste Houellebecq dafür übrigens nicht. Die Prüfung der Elementarteilchen des Meisters ging selbstredend auf Kosten des Hauses.
So ist dies nicht etwa eine Ausstellung über Arbeit. Es ist eine Ausstellung mit Arbeit, eine Ausstellung der Arbeit oder genauer gesagt: der Zusammenarbeit. Dahingehend schmiegt sich Jankow-skis Programm kongenial der Mission der Manifesta an, nämlich die heterogenen Teile Europas zusammenzuführen, Dialoge herzustellen und wechselseitige Kenntnisnahme zu befördern. Kunst und Geld spielen da eine ähnliche Rolle, wie Jankowski in einem Zürcher Café zwischen ein paar Löffeln Suppe und ein paar dräuenden Terminen bemerkt: «Ähnlich wie Kunst eine Sprache ist, mit der man kommuniziert, ist Währung eine Sprache, die Menschen in unterschiedlichste Verhältnisse zueinander setzt. Geld ist ein Brückenbauer. Gerade hinsichtlich ihrer Offenheit und Universalität gibt es Parallelen zwischen Kunst und Geld, ob man das jetzt gut oder schlecht findet.» Sagt’s und ruft nach der Rechnung.
Jankowski wird mitunter als «Ironiker» bezeichnet. Weil seine Filme immer auch lustig sind. Doch das ist irreführend. Ein Ironiker meint es nicht so, wie er es sagt. Wenn man genau hinschaut, merkt man: Jankowski meint es genau so, wie er es macht. Wenn er einen amerikanischen Fernsehprediger über Kunst schwadronieren lässt, dann lässt er einen amerikanischen Fernsehprediger über Kunst schwadronieren. That’s it. Tatsächlich erinnert Jankowskis Vorgehen an das eines Naturwissenschafters. Er baut Versuchsanordnungen, definiert eine Methode und führt Experimente durch, deren Ausgang ungewiss ist und ungewiss sein muss. Die Ergebnisse werden dokumentiert und, das ist der Wissenschaft nicht fremd, inszeniert: «Ich möchte, dass Leute Kunst wirklich erfahren und nicht schon vorher wissen, was sie genau bedeuten und bewirken soll. Künstler sind eher Forscher als Magier, die wissen, wie der Zaubertrick endet.»
Jankowski hat also genau das nicht, was Künstlern im Kunstsprech gerne reflexhaft attestiert wird: eine «Position». Auch hält er nichts von Political Correctness. Es gruselt ihm vor Ideologien. Artistic research wischt er als Modebegriff beiseite und entsagt sich jener ethischen Indienstnahmen, die beispielsweise die jüngeren socially engaged arts zum verlängerten Arm der Kulturpolitik und ergo zu einer billigeren Form der Sozialpolitik machen. Manch einer könnte sich da fragen: Was will der denn überhaupt? Ist der jetzt links? Oder irgendwie so ein bisschen rechts? Ein Zyniker? Ein Schelm?
So betrachtet, könnte man Jankowski eher Indifferenz als Ironie attestieren, wie auch Naturwissenschaftern oft Indifferenz attestiert wird: Sie generieren Erkenntnisse, deren soziale oder politische Implikationen sie nicht bedenken, geschweige denn kontrollieren können. Oder ist Jankowski vielleicht einfach nur – liberal? Da nickt der Kopf über der sich leerenden Suppenschüssel bejahend: «Ich bin nicht dogmatisch. Die Welt wandelt sich, die Kräfte und die Machtverhältnisse ändern sich. Auch Underdogs kommen früher oder später in Positionen, wo sie Macht anhäufen. Ich habe einfach zu oft erlebt, dass, sagen wir, der grosse Ayurveda-Guru, der bei dir zur Untermiete wohnt, dich total verarscht. Ich habe keine Vorurteile den Leuten gegenüber. Auch Zünftler sind für mich keine konservativen Arschlöcher, die sind mir an vielen Stellen lieber als Kunstkenner, die meinen, alles zu wissen. Ich mag den Menschen, die ich in die Kunst einbinde, gerne begegnen wie ein freundlicher Alien. Am Ende zeigt die Kunst selbst jedem, wo er steht.»
Das Netz und das Geld
Und wo steht er, wo steht sie, wo steht man heute? Richtig: in einem Netz. Womit mehr als das Internet gemeint ist. Konnektivität als solche prägt Leben und Denken im 21. Jahrhundert. Aus dem Individuum ist das Dividuum geworden, aus der organischen die «granulare Gesellschaft» (Christoph Kucklick). In diesem Zusammenhang zeigt Jankowskis Praxis, dass die Künste den Technologien mitunter voraus sind. Seine Arbeiten bilden eine paradoxe Form der Post-Internet-Art – verkürzt gesagt Kunst, die vom Netz inspiriert ist, aber ausserhalb des Netzes stattfindet – vor dem Siegeszug des Internets. Nicht Vernetzung der Inhalte, sondern Vernetzung als Inhalt ist der springende Punkt. In der Post-Internet-Art spricht man heute von einem «Internet State of Mind», der auch Gemälde oder Skulpturen prägt. Jankowski hatte den schon, bevor das Netz seine Netze auswarf. Er verbindet, verkuppelt, verflanscht, schafft soziokulturelle Links und Hyperlinks, rückt weit voneinander Entferntes in unmittelbare Nähe zueinander, wie ja auch im Internet Papst und Porno, Wikipedia und Wotanjünger, Zalando und Zisterzienser nur ein paar Mausklicks voneinander entfernt sind.
Verstärkend kommt hinzu, dass die Arbeit des «freien Künstlers», bei dem sich Beruf und Berufung, Privates und Öffentliches überlappen, die prekären, hybriden, mal freiwillig, mal unfreiwillig flexiblen Arbeitsbedingungen der globalisierten und digitalisierten Gegenwart vorwegnimmt: «Meine Eltern waren Beamte und hatten einen 8-Stunden-Job. Ich wusste nicht viel über ihre Arbeit. Wenn Feierabend war, ging es darum, schöne Sachen mit der Familie zu machen. Da wurde nicht über den Beruf diskutiert. Bei mir sind Leben und Arbeit gänzlich vermischt. So hänge ich etwa Urlaubstage an irgendwelche Kunstevents an oder suche mir Ausstellungsorte aus, an denen ich mich gerne etwas länger aufhalten würde. Ich weiss nicht genau, wo die Arbeit aufhört und wo sie anfängt. Meine Eltern wussten das noch.»
Bei seiner Arbeit in der Schweiz musste Jankowski feststellen, dass der im Kunstbetrieb übliche Deal – prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Tausch gegen Kontakte, Erfahrung und die vage Aussicht auf einen Aufstieg durch erstere – gerade hier, im Herzland des Liberalismus, wenig Begeisterung weckt. Zunächst einmal sorgte die Niedriglohnpolitik der Manifesta für Ärger, wurde das Gehalt von Vollzeitstellen doch unterhalb dem Mindestlohn für Supermarktkassierer angesetzt. Entsprechend stiessen dann auch die vorgeschlagenen Nulllohnszenarien auf wenig Gegenliebe: «Einem Schweizer Studenten kann man nicht einfach sagen: Mach doch mal ein Praktikum bei einem bekannten Künstler und hilf uns bei der Manifesta, eine Bezahlung erhältst du aber nicht. Dass solche Tätigkeiten von Menschen in Ausbildung nicht nur durch Kontakte und Erfahrungen, sondern auch finanziell honoriert werden, wird hier als selbstverständlich angesehen. Daran musste ich mich erst gewöhnen.» Als Student und junger Künstler in Deutschland arbeitete Jankowski selbst oft ohne Honorar, nutzte die Kontakte als Sprungbretter. In Amerika, wo er lange lebte, war und ist es noch viel extremer: «Da muss man aus einem reichen Elternhaus kommen, um an den Top-Orten der Kunst zu arbeiten, für nichts, jahrelang. Und erst dann gibt’s vielleicht einen guten und auch gut bezahlten Job.»
What People Do for No Money
Weil die Manifesta zwar eifrig Geld und Arbeit thematisiert, nicht jedoch den eigenen Umgang damit, publizierte das junge Schweizer Online-Magazin für Kunstkritik «Brand New Life» im Mai dieses Jahres einen geharnischten Artikel und attestierte: «Die Manifesta, die sich als kritische Augenzeugin positioniert […], gibt momentan reichlich irreführende Antworten auf die Frage What People Do for Money. Die Tatsache, dass die Manifesta die ausbeuterischen Tendenzen der Arbeitsverhältnisse im Feld der Kunst aktiv unterstützt, irritiert angesichts […] vollmundiger Selbstpositionierungen und dem Anspruch, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu befragen.» So wurde denn die Biennale unverhofft zu einer Ausstellung, bei der die Frage «What Do People Do for Money?» beziehungsweise «for No Money» auf sie selbst zurückfiel. Was überraschenderweise und ungeplanterweise dann doch wieder zu Jankowskis Vorliebe für das Überraschende und Ungeplante passt – einer Vorliebe, so könnte man meinen, die wiederum im Kontrast zu seinem Anspruch steht, die volle auktoriale Kontrolle über alle Aspekte der Manifesta zu behalten: «Ich gehe da mit derselben Haltung ran wie an ein Kunstwerk. Ich sage zwar nicht: Das ist ein Gesamtkunstwerk. Aber meine Haltung, warum sollte die sich ändern? Ich weiss nicht genau, wie Kuratoren denken, ich weiss noch nicht mal, wie andere Künstler denken. Jeder denkt anders. Ich habe mir ein Konzept überlegt und setze das ziemlich genau um. Natürlich gibt es deswegen viele Reibungen – aber hoffentlich auch ein Profil.»
Vielleicht verhält es sich ja auch in dieser Hinsicht wie mit den Naturwissenschaften: Eine strenge Versuchsanordnung und eine klar strukturierte Durchführung des jeweiligen Experiments verhindern nicht, sondern ermöglichen gerade neue Erkenntnisse. Was die Beteiligten dafür, im wörtlichen Sinne, «in Kauf nehmen», steht dann auf einem anderen Blatt.
Jörg Scheller
lebt als Kunstwissenschafter, Journalist und Musiker in Bern und in diversen Schnellzügen. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), kuratierte 2013 im Auftrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia den «Salon Suisse» auf der 55. Biennale von Venedig und jüngst die Ausstellung «Building Modern Bodies. Die Kunst des Bodybuildings» in der Kunsthalle Zürich.