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Das Netz im Buch

Hinter unseren Bildschirmen warten tausend menschliche Träume auf ihre multimediale Erfüllung. Aber im Netz – und in unserem Umgang damit – lauern auch Gefahren, die in ihrer Tragweite bisher kaum bemessen werden können. Ein idealer Stoff für viele Schriftsteller. Was fängt die Literatur damit an?

Bereits 1962 sprach der amerikanische Medientheoretiker Marshall McLuhan vom globalen Dorf. Heute ist diese Vision im weltweiten Kommunikationsnetz Realität geworden. Jeder kann mit jedem chatten, daddeln, anstupsen, gigantische Datenmengen sind per Mausklick verschiebbar, alle Hürden, ob geographischer oder politischer Natur, sind im virtuellen Raum gefallen. Und auch die Utopie der frühen Internetutopisten von einer möglichen Menschheitsgesellschaft scheint greifbar. Als die Revolutionen in den arabischen Staaten vor allem über das öffentliche Netzwerk organisiert wurden, sprachen Journalisten wie Kommunikationswissenschafter euphorisch vom World Wide Web als dem Demokratisierungsmotor schlechthin. Die sozialen Netzwerke Facebook & Co. wurden zur Stimme der Entrechteten und Rebellen stilisiert. 

Gegenüber diesem Optimismus fällt in der Gegenwartsliteratur ein zunehmender Skeptizismus auf. Neben der Tatsache, dass das Schreiben in einer mediendurchdrungenen Spätmoderne nie mehr so sein dürfte wie zuvor, tragen namhafte Autoren ethische Bedenken zum Thema. Daniel Kehlmanns Roman «Ruhm» (2009) kann im deutschsprachigen Raum bislang als das Werk angesehen werden, dem die Zeichen des globalen Netzwerks am ausdrucksstärksten eingeschrieben sind. Schon die hyperlinkische Architektur des Buchs, in dem die Protagonisten meist über «neue Medien» wie Mobiltelefone oder das World Wide Web in Beziehung zueinander stehen, versteht sich als Abbild des Internets.

Über die anonyme Virtualität, in die die Figuren mittels der neuen Medien eintauchen, schaffen sie eine «zweite Wirklichkeit». Für einige wird der Wunsch nach einer anderen Identität damit realisierbar, andere werden – auch über technisch fehlerhafte Verlinkungen – aus ihren bisherigen Leben herausgeworfen. Mit diesen sich widersprechenden Befunden macht Kehlmann unter anderem deutlich, wie ein abstrakter Kommunikationsraum zur Aushebelung von Verantwortlichkeit beiträgt. Da die Figuren für ihre medialen Zweitpersönlichkeiten in einem für sie künstlichen Umfeld niemandem mehr Rechenschaft ablegen müssen, handeln manche völlig unbedacht. Ein Internetjunkie postet unentwegt beleidigende Kommentare im Netz, ein anderer nimmt den Suizid eines verzweifelten Anrufers billigend in Kauf. Kehlmann hat damit Entwicklungen literarisch vorweggenommen, die heute die Zeitungs- und Kommentarspalten füllen. Die Frage nach der Verantwortung für unbedacht bis pietätlos gemachte Aussagen im Netz, für sogenanntes Online-Mobbing etwa, stellt sich immer öfter.

In einem Gespräch mit diesem Magazin (S. 92) sagt Kehlmann: «Ich glaube, Verantwortung beginnt dort, wo jeder einzelne begreifen sollte, dass die Anonymität des Internets ihm moralisch nicht das Recht gibt, sich zu verhalten, als gäbe es keine Regeln des Anstands und der Menschlichkeit.» In den vergangenen Wochen machten immer häufiger auch die Schriftstellerin Juli Zeh und ihr Kollege Ilija Trojanow auf sich aufmerksam, indem sie auf einen gegenläufigen Trend im Netz aufmerksam machten: Es geht nicht um zu wenig soziale, sondern um zu viel staatliche Kontrolle im Internet. Zeh stellt in einem offenen Brief, der durchaus auch literarische Qualitäten hat, fest: «Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Sommer-Pressekonferenz haben Sie gesagt, Deutschland sei ‹kein Überwachungsstaat›. Seit den Enthüllungen von Snowden müssen wir sagen: Leider doch.» Dass man Trojanow bald darauf an der Einreise in die USA hinderte, mag vor diesem Hintergrund nun kaum mehr verwundern.

Das Intime ist also öffentlich und allgegenwärtig – diese besorgniserregende Feststellung unterschreibt auch, wer Thomas Glavinics Roman «Lisa» (2011) gelesen hat. Im Zentrum der Geschichte steht ein koksender Spieletester, der im Modus des inneren Monologs via Internetradio von seiner Flucht in eine entlegene Waldhütte berichtet. Aber Idylle? Weit gefehlt: Angst beherrscht die Szenerie. Beruhend auf einer DNA-Spur in seiner Wohnung meint der Sprecher, Opfer des Einbruchs einer international gesuchten Killerin – unter dem Pseudonym «Lisa» bekannt – geworden zu sein. Schon zu Beginn stellt er die Vagheit seiner Befürchtungen heraus: «Vielleicht bilde ich mir nur etwas ein […] und habe mich getäuscht.» So quatscht der Sprecher ohne Reflexion – hier denken wir dann wieder an Kehlmanns Bedenken – seine Gedanken und Halbsätze ins Netz, das ihm durch die dort aufzufindende Gemeinschaft als Schutzraum vor der beklemmenden Einsamkeit inmitten des düsteren Waldes dient. Schon bald offenbart sich der Mythos um die blutrünstige Schlächterin Lisa als Auswuchs einer alarmistischen Netzgemeinde. Wer das Buch liest, fühlt sich an die unzähligen Verschwörungstheorien und Panikmacher in heutigen Netzforen erinnert, von angeblichen 9/11-Truthers bis zu Chemtrail-Bedenkenträgern. Googeln Sie mal! Glavinic selbst sagte zur Idee von «Lisa», sie stehe für all das, «was wir nicht wissen. Wir glauben, die Wirklichkeit kontrollieren zu können, dabei verstehen wir so wenig von dem, was auf der Welt passiert.»

 

Das Netz als Gebärmutter

Hier trifft er einen weiteren wunden Punkt: Wir können vieles nicht wissen. Und in einer Gesellschaft unter multimedialem Dauerfeuer ist es zunehmend schwieriger, die «richtigen» Informationsquellen zu finden. Was aber ist «richtig» und also «nachprüfbar»? Nichts, glaubt Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Sie meint, hinter der Verwirrung stecke System. Während Glavinic also den Cyberspace als Topographie des Irrationalen kennzeichnet, sieht die fortschritts- und technikkritische Autorin darin ein bewusst ideologisches System. Angefangen mit ihrem Roman «Die Klavierspielerin» (1983) über das Skandalbuch «Lust» (1989) bis hin zu ihrer melancholischen «Winterreise» (2011) und dem erst kürzlich erschienenen satirischen Wagner-Text «Rein Gold», stehen alle ihre Werke im Zeichen der Kritik an einer patriarchalen Unterdrückungsordnung. Auf der Suche nach der wahren Liebe verfängt sich das wandernde Ich der «Winterreise» in den Maschen eines verlockenden Bildergeflechts. Mit wenigen Klicks kann man in den Weiten des Cyberspace zum Wunschpartner finden, «das Netz ist eine Gebärmutter für Menschen». Und: Jedwede Beziehung ist prinzipiell sexualisiert. Anarchisch werden Menschen als Leiber umgewälzt: «Aha, da kommt gerade einer […] natürlich auch aus dem Netz, andere Menschen gibt es schon lang nicht mehr, der hat sich freigemacht aus den Maschen, […] als er mich sieht, das ist ja der Zweck des Ganzen.» Wie in einem Warenhaus können Frauen als Produkte angeklickt und verschlungen werden.

Indem sexuelle Begegnungen schlichtweg für jedermann erhältlich sind, assoziiert die Schriftstellerin Partnerschaft mit einer «kapitalistischen Ausbeutungslogik». Es lockt das «Netz, eine Baubo, die immer stolz sich selber herzeigt und sich öffnet, aufspreizt, sich zeigen muss, sich zeigen möchte». Während alle darin nach Glück und Erlösung suchen, verkommen Frauen wie Männer im Netz zu blossen Sexmaschinen, die sich aneinander reiben, ohne sich zu finden. Der Technik wohnt der Tod inne, wie Jelinek auch in dem auf ihrer Homepage publizierten poetologischen Kommentar «Textflächen», einem Zukunftsszenario um die allmähliche Ersetzung des menschlichen Körpers durch mediale Apparaturen, skizziert: «All in one. Und irgendwann wird das Zelltelefon sogar aus menschlichen Zellen bestehen und implantiert werden. Es ist nicht zu übersehen, dass alle Menschen sprechen, […] sie sind das Sprechen, es ist nicht zu übersehen, dass man dabei die Formsprache und nicht das Echte gewählt hat. Bis jeder gleich und das Gleiche spricht. Dann könnte man allen Menschen die gleichen Telefonzellen implantieren.» Ob Zelltelefone oder Sex mit der Bildschirmfläche: der Mensch wird gleichgeschaltet, bis er selbst nur noch zum austauschbaren Technikum verkommt. Und dabei kommt er sich dann bestenfalls auch noch besonders individualistisch vor.

Statt einem Möglichkeitsraumes, wie ihn die Netzutopisten beschwören, ist der Cyberspace in Jelineks Deutung zur Wüste einer verlorenen, in stetem Irrtum befangenen Menschheit geworden.

Stimmt das? Verrohung und Verflachung, ja, sie finden sich im Netz wie in der Realität an jeder Ecke. Aber, so erkennt Autor und Musiker Thomas Meinecke, gerade darin liege ja die Chance zur sexuellen Selbstbestimmung! In seiner mit Internettexten angereicherten Romancollage «Lookalikes» (2011), einem der wenigen medienoptimistischen literarischen Werke im deutschsprachigen Raum, führt er diesen Befund aus. Ohne festgefügte Handlung lässt der Autor darin Doppelgängerfiguren sprechen, die das Netz – in diesem Falle: Twitter und Facebook – dazu nutzen, ihre frei gewählten Identitäten auszuleben. Von historischen Persönlichkeiten wie Greta Garbo bis hin zu Popikonen wie Shakira oder Justin Timberlake reicht das Spektrum der Vorbilder. Allesamt stehen sie über das Medium in Verbindung und plappern über Philosophie, Musik und das Leben. Dass das Internet ihnen die Aussicht bietet, aus ihren Körpern auszubrechen und Geschlecht wie Selbstbild selbst zu wählen, ist einzig der Anonymität und Liberalität des Mediums zu danken. Was Jelinek als Wertnihilismus beklagt, stellt für Meinecke ein Potential dar: «Das Netz bietet bestimmt neue technische Mittel zum Erfinden und Bewerben solcher Identitätskonzepte […] das Netz bildet einen Raum ab, der schon da war», sagte er im Gespräch mit der Wochenzeitung «Die Zeit», womit er auf die moderne Sozialwissenschaft und ihre medialen Forschungsschwerpunkte anspricht, die er in «Lookalikes» zitiert.

Was bleibt von diesen ersten literarischen Gehversuchen in der Auseinandersetzung mit dem Internet? Halten wir fest: Das Internet ermöglicht jedem einzelnen, sich interaktiv einzubringen. Diese Freiheit ist ein Geschenk. Aber sie ist auch mit erheblichen Risiken verbunden, wie die vier erwähnten Autoren sie stellvertretend für eine kritische Position innerhalb der Gegenwartsliteratur aufzeigen. Der heutige Mensch ist gesellschaftspolitisch frei, so sehr, wie wohl nie in der Geschichte zuvor. Es ist eine Freiheit zur Selbstbestimmung, es sollte also auch eine zur Verantwortung sein. 

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