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Das moralische Mensch=

Was passiert, wenn der Moralsozialismus obsiegt? Eine Geschichte über die Abschaffung der Geschlechter, gesellschaftlich diktierte Wertvorstellungen und den kollektiven Wunsch, es der ganzen Welt recht zu machen.

Das moralische Mensch=
Illustration von Michael Raaflaub.

Das Umweltminister= von Keimland-Gfallts, Martin= Schröder=, seufzte schwer, und tiefe Sorgenfalten durchfurchten seine Stirn. Es beugte sich über die neuesten Zahlen, die eine sich seit Tagen abzeichnende Tendenz bestätigten: Die Tage wurden wieder länger und damit nahm auch die tägliche Lichteinstrahlung zu, der die Mensch=en von Keimland-Gfallts ausgesetzt waren. Licht war in diesen Tagen ein Politikum, das die Gemüter bewegte und Emotionen überkochen liess. Student=en und inzwischen bereits Schulkinder gingen auf die Strasse und streikten, weil sie Massnahmen gegen die Lichtverschmutzung und die schädlichen Auswirkungen des Lichts forderten.

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Als Umweltminister= von Keimland-Gfallts hatte Martin= im letzten Frühling einen Aktionsplan zur Reduktion der Lichtemissionen durchgesetzt. Dieser war dringend nötig geworden, weil die Tage aufgrund des Lichtüberschusses kontinuierlich länger wurden. Seit dem 21. März waren sie sogar länger als die Nächte und nahmen an Länge noch zu. Die Wissenschafter= warnten vor den zu erwartenden dramatischen Auswirkungen. Sollte sich die Tagesverlängerung fortsetzen, könnte die Nacht bis Ende Jahr komplett verschwunden sein. Es wäre dann täglich 24 Stunden hell, somit 24 Stunden volle UV-Einstrahlung und ein Kollabieren der inneren Uhren von Mensch=en, Tieren und Pflanzen wäre unvermeidbar. Noch waren sich die Experten nicht einig, was geschehen würde, wenn es rund um die Uhr hell war und der Lichtausstoss immer noch zu hoch wäre. Würde das überschüssige Licht allenfalls in Wärme umgewandelt und die Erde langsam verglühen?

Ein ansatzweise ähnliches Szenario hatte die Welt vor vielen Jahren schon einmal durchgespielt, als es um die Klimaerwärmung ging. Letztlich setzte sich dann allerdings die Erkenntnis durch, dass die damalige Veränderung des Klimas von der dynamischen Entwicklung der Erde selbst herrührte und die Auswirkung des mensch=gemachten Anteils nicht seriös einschätzbar war. Die politische Elite hatte ihre eigene Bedeutung und ihren Einfluss masslos überschätzt. Als dieser Umstand allgemein anerkannt war, wurde die Veränderung des Klimas akzeptiert und der Fokus auf den Umgang mit den Konsequenzen gelegt. Seitdem rationales Denken die Panikmache abgelöst hatte, wurde mit technischen Innovationen die Umweltbelastung weiter reduziert. Die Klimakrise löste sich dadurch auf wie zuvor schon Waldsterben, Ozonloch und Feinstaubalarm. Die Klimajugend wurde erwachsen, wandte sich den realen Problemen zu und die Klimagrosseltern traten auf natürliche Weise von der Weltbühne ab.

Aber diesmal war alles anders: Martin= hatte dies als eines der ersten erkannt und mit dieser Erkenntnis politische Karriere gemacht. Es verwies dabei immer auf die Expert=en aus der Wissenschaft – zumindest auf die guten. Es gab auch andere, richtiggehende Lichtleugner=, die behaupteten, es hätte schon immer Phasen mit längeren Tagen gegeben, die sich mit Perioden kürzerer Tage abwechselten. Sie verstiegen sich gar zur Behauptung, dass dies ein selbstregulierender Prozess sei und es deshalb keiner politischen Massnahmen bedürfe. Martin= ärgerte sich über so viel Ignoranz. Zum Glück sah es das Kollektiv wie das Umweltminister=, und entsprechend fuhr ein moralischer Sturm der öffentlichen Empörung über jene Wissenschafter=, die der moralisch bevorzugten Lehre widersprachen. Ein Sturm, der sie aus den Medien und der öffentlichen Diskussion hinwegfegte. Moralisch reine Bürger= liessen ihrem Unmut in den sozialen Medien freien Lauf, organisierten Demonstrationen und Sitzstreiks in den Universitäten und vor den Häusern dieser falschen Expert=en. In Vorlesungen wurden diese fehlgeleiteten Wissenschafter= ausgebuht, sofern ihre Auftritte nicht schon im Vorfeld aufgrund der kollektiven Empörung von um ihren guten Ruf besorgten Universitätsleitungen abgesagt worden waren. So verstummten diese kritischen Stimmen endlich, und die wahre, reine Lehre trat umso klarer zutage. Martin= war froh darüber, ersparte dies doch manche lästige und unnütze Diskussion über Dinge, die eigentlich klar waren. Ein moralisch erhabenes Mensch= spürte die Wahrheit zuerst in sich selbst und dann im Kollektiv. Dieses Kollektiv war nichts anderes als das Empfinden der breiten Masse, das eine Einheit bildete und dem Individuum gleichermassen sicheren Anker und Richtschnur bot. Es war mehr als eine Art Schwarmintelligenz. Es verlieh dem Individuum die Sicherheit, auf dem moralisch überlegenen Pfad zu wandeln.

Martin= war ein wahres und aufrichtiges Mensch=­enfreund=. Es liebte es, das Kollektiv weiterzuentwickeln und die Mensch=en für die Moral zu sensibilisieren und auf den Pfad der Tugend zu führen. Es war richtiggehend berauschend, als moralisch leuchtendes Beispiel voranzugehen und zu spüren, wie es vom Kollektiv getragen wurde und wie das Kollektiv willig folgte. Martin= war denn auch massgeblich beteiligt an der Weiterentwicklung der Demokratie von Keimland-Gfallts. Die ursprünglich liberale rechtsstaatliche Demokratie war mit der Zeit für die Mensch=en zu anstrengend geworden. Freiheit war vordergründig zwar verlockend, aber eben auch mit Eigenverantwortung verbunden. Und letztere war mühsam, zwang zum Vorausdenken und Abwägen. Und dann gab es auch immer wieder Individuen, die ihre Verantwortung nicht wahrnahmen. Deshalb hatte die Moralsozialistische Partei (MSP) nach Erringen der absoluten Mehrheit damit begonnen, die Demokratie zu optimieren. Die Verfassung von Keimland-Gfallts sowie die darauf basierenden Gesetze und Verordnungen bildeten immer noch die grobe Richtschnur des staatlichen Handelns. Allerdings konnten sie durch moralische Erwägungen der geistigen und politischen Elite (Führungselite der MSP) situativ übersteuert werden. Dafür wurde der Fachbegriff «moralischer Imperativ» geprägt. Er machte das staatliche Handeln agiler, flexibler und liess es schneller und effektiver auf Veränderungen reagieren. Für dieses Plus an Sicherheit gab das Kollektiv gerne einen Grossteil der Freiheit auf. Diese neue Staatsform nannte sich optimierte Demokratie und löste die liberale Demokratie ab. Das Kollektiv richtete natürlich auch Erwartungen an die Führungselite, insbesondere dass diese den moralischen Imperativ auch um- und durchsetzte.

Die ursprünglich liberale rechtsstaatliche Demokratie war mit der Zeit für die Mensch=en zu anstrengend geworden.

Der hohe Anspruch des moralischen Imperativs liess Martin= erneut seufzen und mit den Händen über seine Brüste streichen. Diese Bewegung hatte zuweilen sexuelle Erregung zur Folge, doch jetzt diente sie der Beruhigung des aufgewühlten Geistes, der inneren Sammlung und Fokussierung. Martin= war von Geburt her ein ImP, ein Individuum mit Penis, und unterschied sich dadurch von einem ImV, einem Individuum mit Vagina. Weitere Unterschiede gab es nicht, denn mit Eintritt in die Pubertät hatte es sich einer Hormonbehandlung unterzogen, die die Brüste wachsen liess und den Bartwuchs stoppte. Auch der Körperbau und die Gesichtszüge entwickelten sich feiner und weicher. Zudem blieb die Stimme höher. Dies war ein Gebot der Moral. Indem sich ImP und ImV äusserlich nicht mehr unterschieden, wenn sie ihre Unisexkleidung trugen, waren öffentlich keine Geschlechter mehr zu erkennen. Geschlechterdiskriminierung und Sexismus waren damit überwunden. Einen wesentlichen Beitrag dazu hatte auch die Reformation der Sprache geleistet. Wohl waren schon vor vielen Jahren Anstrengungen für gendergerechte Sprache unternommen worden, doch scheiterten diese an der resultierenden Komplexität des Ausdrucks oder der Vielfalt möglicher Formen. Bei all den Sternchen, Doppelpunkten, Unterstrichen und Grossbuchstaben im Wort ging die Übersicht verloren. Einmal mehr schaffte die MSP den Durchbruch: Da es um die Gleichheit ging, wurde der Wortstamm um das Gleichheitszeichen ergänzt, welches nebst weiblicher und männlicher Form auch die nonbinären Formen einschloss. Eine allfällige Pluralform wurde dem Gleichheitszeichen angehängt. Wo es um Personen ging, wurde statt der männlichen oder weiblichen Form neu die sächliche verwendet. Aus der Mensch wurde so das Mensch= und schloss alle Ausprägungen umfassend und gleichberechtigt ein. Der Feminismus hatte damit seinen Höhepunkt erreicht. Als letzter Akt wurde er abgeschafft und das Wort aus dem Wortschatz gestrichen. Den echten Feminist=en war es nämlich längst ein Dorn im Auge, dass es der Feminismus hiess, wo es doch um das weibliche Geschlecht ging.

Ursprünglich trug Martin= den Vornamen Wolfgang, hatte diesen aber aus moralischen Überlegungen abgelegt. Einerseits liess er sich nicht genderneutral verwenden, während Martin= die männliche Form Martin genauso einschloss wie die weibliche Martina. Andererseits verwies Wolfgang auf den Wolf, ein Raubtier, das für Aggression, Kampfeslust und Fleischverzehr stand. Damit strahlte dieser Name eine verpönte toxische Männlichkeit aus, mit der Martin= nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Zudem erinnerte er an jene archaische Zeit, als Mensch=en noch Fleischfresser waren.

Martin= verstand nicht, dass es Mensch=en gab, die sich der Moral widersetzten, indem sie sich der Geschlechtsangleichung verweigerten, mehr noch die Unterschiede betonten und in der Sprache das generische Maskulinum beibehielten. Das moralisch überlegene Kollektiv verzichtete selbstverständlich auf die Anwendung von Gewalt, um dieses Fehlverhalten zu korrigieren. Mitglieder= des Kollektivs versuchten es zuerst durch Belehrungen. Erst wenn diese nicht fruchteten, ergossen sich Shitstorms über die Fehlbaren. Wenn auch dies nichts nützte, wurden deren Accounts in den sozialen Medien gelöscht und sie selbst in der öffentlichen Wahrnehmung ausradiert. Wohl gab es Mitglieder des Kollektivs, die den moralischen Anspruch derart ernst nahmen, dass ihnen dies nicht reichte. Um die Uneinsichtigen auf den rechten Weg zu führen, schlitzten sie beispielsweise die Reifen an Elektroautos oder Fahrrädern auf, sprühten «Kauft nicht bei Sexisten» auf Schaufenster oder verübten anderweitige Sabotage. Solange diese Akte der Empörung nicht in Gewalt gegen Personen mündeten, wurden sie von der Regierung geduldet, da sie moralisch absolut gerechtfertigt waren. Martin= nahm die Geschlechtergleichheit äusserst ernst. Mit Implantaten hatte es seine Brüste zusätzlich vergrössert, um noch gleicher zu sein. Dass es zusätzlichen Spass beim Spielen damit empfand und mit der Zunge die Brustwarzen erreichen konnte, war ein Nebeneffekt, der selbstverständlich nicht eingeplant war. Aber schliesslich darf moralische Überlegenheit auch Spass bereiten.

Illustration von Michael Raaflaub.

Politisch ritt Martin= auf einer Erfolgswelle, war das beliebteste Minister= der Regierung von Keimland-Gfallts. Das Massnahmenpaket gegen die Verlängerung des Tageslichts, welches es im Frühling der Öffentlichkeit präsentiert hatte, verzögerte zuerst die Verlängerung der Tage. Am 21. Juni gelang dann endlich der Durchbruch, und die Tage wurden kürzer als die Nächte. Martin= wurde frenetisch gefeiert und im Hinblick auf die nächsten Wahlen bereits als mögliches Ministerpräsident= gehandelt. Zuletzt allerdings nahm die Verkürzung der Tage ab. Und seit dem 21. Dezember wurden sie wieder länger. Zuerst hoffte Martin=, dass es sich um eine vorübergehende Anomalie, einen statistischen Ausreisser handle. Aber der Trend war eindeutig: Ein Blick auf den Kalender zeigte den 25. Dezember an, den vierten Tag in Folge, der länger war als der vorangegangene und dies mit einer Tendenz zur Zunahme. Das bereitete ihm Sorgen, die sich auch durch das Streicheln der Brüste nicht vertreiben liessen. Dieser vormalige Weihnachtsfeiertag war inzwischen ein normaler Arbeitstag. Schon seit einigen Jahren war dieser christliche Brauch verboten, da er eine Diskriminierung anderer Religionen darstellte. Martin= fand es vom moralischen Standpunkt her korrekt, dass Religion nicht mehr öffentlich gezeigt werden durfte. Dennoch vermisste es das traditionelle Familienfest.

Martin= nahm die Geschlechtergleichheit äusserst ernst. Mit Implantaten hatte es seine Brüste zusätzlich vergrössert, um noch gleicher zu sein.

Endlich riss es sich aus seinen Gedanken und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Dossier zu, das ihm seine Expert=en zusammengestellt hatten. Martin= vertraute vollumfänglich auf die wissenschaftlichen Expert=en und tat nichts, ohne deren Meinung einzuholen. Das gab ihm Sicherheit. Selbst wenn diese ein Phänomen nicht erklären, ein Problem nicht lösen konnten, so war es zumindest wissenschaftlich erhärtetes und qualifiziertes Unwissen, das vom Kollektiv akzeptiert wurde. Das Politiker= gewann dadurch ein Image der Seriosität und musste selbst nicht allzu viel denken. In seinem Vertrauen in die Expert=en fühlte es sich bestärkt, als es die Vorschläge las: Öffentliche Verkehrsmittel dürfen nur noch mit einem Scheinwerfer fahren, Schaufensterbeleuchtungen komplett verbieten, Strassenbeleuchtungen komplett verbieten, Beleuchtung der Privatautos komplett verbieten. Bei der letzten Massnahme stutzte Martin=. War das nicht zu gefährlich für Fussgänger= und Radfahrer=? Es las dann die ausführlichen Erläuterungen und atmete auf. Das Verbot war gekoppelt mit einer Reduktion der Höchstgeschwindigkeit auf Schritttempo bei Dunkelheit. Diese Privatautos waren ihm sowieso ein Greuel. Mit dem seinerzeitigen Verbot der Verbrennungsmotoren hatte es geglaubt, dass der Niedergang des Autos eingeläutet wäre, zumal sich eine Strommangellage abzeichnete, die den elektrischen Antrieb in Verruf brachte. Dann schaffte es die Industrie allerdings, das Stromproblem zu lösen, und der Individualverkehr erlebte eine Renaissance. Dabei ging es Martin= und seiner Moralsozialistischen Partei bei ihrem Kampf gegen die Privatautos nur nebenbei um den Umweltschutz. Angesichts der technischen Fortschritte, die zu immer sauberer Mobilität geführt hatten, war ein Verbot der Autos aus ökologischen Gründen nicht mehr haltbar. Aber das private Auto war Ausdruck von Individualität, Freiheit und Lebensfreude. Dieses Symbol individueller Verwirklichung und Eigenständigkeit war mit dem moralischen Imperativ des Kollektivs nicht vereinbar. Nun hatte man schon derart grosse Fortschritte bezüglich der Gleichheit erzielt, dass auch dieses letzte Bollwerk von Individualität und persönlichem Status zu schleifen war. Autofahren im Schritttempo war ein grosser Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht könnte man noch die Verpflichtung einführen, dass dem Auto eine Person mit roter Signalflagge voranschreiten müsse, um die anderen Verkehrsteilnehmer= zu warnen und den Verkehr zusätzlich sicherer zu machen.

Entschlossen setzte Martin= seine Unterschrift unter das Dokument und gab damit die Massnahmen zur Umsetzung frei. War es der Rausch der Macht und des Wissens um die eigene moralische Überlegenheit oder das inzwischen bereits unbewusst erfolgende Streichen der Hände über die grossen Brüste, die Martin=s sexuelle Erregung zunehmend steigerten? Vielleicht war es eine Kombination aus beidem. Jedenfalls war es an der Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun und sich zu belohnen. Martin= öffnete die Sexfinder-App und startete die Suche. Es war inzwischen die einzige und dazu überaus effiziente Art, um Sexualpartner= zu finden. Jemand persönlich anzusprechen, war schon vor Jahren verboten worden, da dies zunehmend als sexuelle Belästigung wahrgenommen worden war. Da jegliche äusserlichen Unterschiede zwischen ImV und ImP eliminiert waren, wäre eine zielgerichtete Partner=suche auch schwierig gewesen. Die App hatte noch einen weiteren Vorteil: Da sexuelle Handlungen nur vorgenommen werden durften, wenn alle Beteiligten explizit zustimmten, musste die Zustimmung festgehalten und bis zu zehn Jahre nach dem Akt belegt werden können. Dass die App das Flirten und Werben um den Partner überflüssig machte, kam Martin= sehr gelegen. Einerseits fühlte es sich sehr unsicher, ein anderes Mensch= auf erotischer Ebene anzusprechen, und andererseits konnte es sehr schnell verfänglich werden und als sexuell übergriffig ausgelegt werden. Die unpersönliche Zusammenführung über einen wissenschaftlichen Computeralgorithmus war wesentlich sicherer und emotional weniger anspruchsvoll.

Illustration von Michael Raaflaub.

Jemand persönlich anzusprechen, war schon vor Jahren verboten worden, da dies zunehmend als sexuelle Belästigung wahrgenommen worden war.

Nachdem die App drei Matches angezeigt und sich Martin= mit einer Person der Begierde (PdB) auf ein Treffen geeinigt hatte, legte es die Dokumentenmappe in den Postausgang, löschte das Licht und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage, wo das Fahrer= bereits bei der Limousine wartete. Martin= genoss den Komfort des Dienstwagens. Grundsätzlich hätte es auch die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können. Aber das Auto war bequemer und ein ruhiger Rückzugsort. Und als Minister= stand ihm eine Limousine mit Fahrer zu. Die Moralsozialistische Partei durfte es sich zwar auf die Fahne schreiben, die absolute Gleichheit in der Gesellschaft durchgesetzt zu haben, war aber auch pragmatisch genug, um zu erkennen, dass es immer Mensch=en geben müsse, die gleicher waren als andere. Zu diesen gehörte auch Martin=, das die Privilegien aber keinesfalls ausreizen wollte. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, wies es das Fahrer= an, seinen vorhin unterschriebenen Beschluss umzusetzen und ohne Licht zu fahren. Da die Strassenbeleuchtung noch an war und weil es die zunehmende Erregung trieb, verzichtete es allerdings auf eine Temporeduktion. Es chattete mit seiner PdB und war begeistert, dass diese offenbar sexuell ebenso ausgehungert war. Dennoch würden beide vor dem Geschlechtsakt auf der App den Okay-Button antippen, um damit die Einvernehmlichkeit zu dokumentieren. Zweimaliges Aufblitzen des Handylichts machte die Zustimmung auch optisch deutlich.

Die Moralsozialistische Partei war pragmatisch genug, um zu erkennen, dass es immer Mensch=en geben müsse, die gleicher waren als andere.

Martin= leckte sich gerade genüsslich und mit sich selbst zufrieden über die Lippen, als es das ohrenbetäubende Quietschen der Bremsen und der straffe Zug des Sicherheitsgurts aus seinen Träumereien riss. Allerdings nicht für lange. Den Aufprall und dessen Knall spürte und hörte es nicht mehr. Als die Limousine in voller Fahrt in den Bus prallte, dessen Fahrer= beim Ausweichen einer Gruppe auf der Strasse festgeklebter Lichtaktivist=en die schwarze Limousine aufgrund der ausgeschalteten Scheinwerfer übersehen hatte, war Martin= auf der Stelle tot.

Das Staatsbegräbnis von Umweltminister= Martin= Schröder= zeigte die Beliebtheit dieses Ausnah­me­­­politiker=s eindrücklich. Der Aufmarsch der Trau­ergemein­de war gewaltig, die Stadthalle vermochte die Mensch=enmenge nicht aufzunehmen. Die Zeremonie wurde auf Aussenbildschirme und in den Medien übertragen. Das Ministerpräsident= von Keimland-Gfallts war sichtlich bewegt und rühmte die moralische Überlegenheit Martin=s in den höchsten Tönen. Das Land habe einen Leuchtturm des moralischen Imperativs verloren, der immer nur das Wohl des Kollektivs vor Augen hatte und Veränderungen mit hohem Tempo umsetzte. Dieses und sein Pflichtbewusstsein seien ihm nun bei seiner letzten Fahrt zum Verhängnis geworden. Aber im Gedenken an dieses Held= der Moral würden die von ihm unterzeichneten Massnahmen sofort umgesetzt. Auch die Reduktion der Höchstgeschwindigkeit für Autos und die von Martin= eigenhändig ergänzte Pflicht zum Voraustragen der roten Fahne. Ausgenommen blieben Regierungsfahrzeuge, die weiterhin schneller fahren dürften, dafür aber die Scheinwerfer eingeschaltet lassen sollten. Das versammelte Kollektiv war zutiefst berührt von den bewegenden Worten und vom tragischen Verlust. Zu Ehren des Verstorben=en und seines Werks schwenkte es ein Meer von roten Fahnen.

Thomas Lötscher, zvg.

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