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Das moderne Elend  grenzenloser Freiheit
Nina Power, zvg.

Das moderne Elend
grenzenloser Freiheit

Männer und Frauen sind von Grund auf verschieden und zugleich kompatibel. Gehen sie jedoch oberflächlich miteinander um, erleben sie unbefriedigende Beziehungen.

Read the English version here.

Der moderne Stellenwert des Individuums hat zu einer Katastrophe in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen geführt. Die Hervorhebung des individuellen Begehrens und des «Selbst» in der Nachkriegszeit hat einen Menschentypus hervorgebracht, der von allen Bindungen, Pflichten und geschichtlichen Hintergründen losgelöst ist. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, das auf die beiden Weltkriege folgte, hat ein ungebundenes, existenzialistisches Subjekt hervorgebracht. Einerseits führte dies zu einer nebulösen Art von «Freiheit» – der Freiheit, sich so zu verhalten, als ob es keine Grenzen gäbe und als ob Konsequenzen ein Ding der Vergangenheit wären. Andererseits hat diese Entgrenzung zu Entfremdung, Einsamkeit und einer hohen Selbstmordrate geführt, insbesondere bei Männern: Im Vereinigten Königreich ist dies die häufigste Todesursache bei Männern unter fünfzig Jahren. Die Freiheit – von Religion, Gemeinschaft, Familie – hat einen hohen Preis. Wenn man nicht in der Lage ist, seinen eigenen Sinn zu finden, oder wenn das Leben einen in die Katastrophe schickt, gibt es wenig, worauf man zurückgreifen kann, und keinen Grund, weiterzumachen.

Das moderne Individuum – egoistisch, konsumorientiert, frei – ist weitgehend geschlechtslos. Das moderne Subjekt ist stattdessen eine austauschbare wirtschaftliche Einheit, dessen Geschlecht für die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze weitgehend irrelevant ist. Abgesehen von einigen wenigen Jobs, die Kraft und Risikobereitschaft voraussetzen, und einigen wenigen, die weibliche Sexualität erfordern, ist die Arbeit offen. So haben wir die «Gleichheit» erreicht, auch wenn es eine Gleichheit gemäss den Bedingungen des Marktes ist. Als Kultur haben wir Schwierigkeiten, die formale Gleichheit auf nicht reduzierbare sexuelle Differenz abzubilden, und die Wirtschaft ist eingesprungen, um einen unsicheren Frieden zu bewahren.

In der Tat hat wirtschaftliche Gleichstellung – zumindest der Wunschtraum davon – eine Art psychische Krise im Verhältnis zwischen Männern und Frauen verursacht. Wir sind uns zu nahe gekommen. Wir sind jetzt eher wie Bruder und Schwester als wie Mann und Frau. Auf diese Weise haben wir eine ängstliche Zweisamkeit erreicht: Männer und Frauen sind überall miteinander, aber die Spielregeln werden meist erst zu spät verstanden – nämlich dann, wenn sie überschritten wurden. MeToo hat eindrucksvoll gezeigt, dass der Wunsch nach aussergerichtlicher Bestrafung im Internetzeitalter nicht verschwunden ist, sondern sich lediglich virtualisiert hat. Es ist nicht klug, zu flirten, wenn das eigene Einkommen auf dem Spiel steht.

Gleichzeitig leben wir trotz aller Klagen über das «Patriarchat» in einer vaterlosen und gottlosen Welt. Nicht nur empirisch in dem Sinne, dass viele Kinder ohne eine stabile väterliche Präsenz aufwachsen, sondern auch spirituell. Auch unsere Freiheit hat ihren Preis: Wir machen unsere eigenen Regeln und verhalten uns wie Götter in bezug auf unsere eigenen Wünsche; niemand sagt mir, was ich tun soll.

«Trotz aller Klagen über das ‹Patriarchat› leben wir in einer vaterlosen und gottlosen Welt.»

Die grosse sexuelle Neuausrichtung

Das Subjekt der Nachkriegszeit ist grenzenlos, oder will es sein. Das Geschlecht, d.h. der biologische Unterschied zwischen Männern und Frauen, wird durch wirtschaftliche und soziale Sitten minimiert. Das liberale Subjekt ist nicht in erster Linie männlich oder weiblich, denn diese Realitäten erscheinen eher als Einschränkungen denn als Möglichkeiten, in der Welt zu sein. Sex als Akt erscheint gleichzeitig als folgenlos. Wenn man die Verbindung zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung aufhebt, kann sich jeder wie ein Schuft benehmen und Gefühle ignorieren.

«Wenn man die Verbindung zwischen Geschlechtsverkehr und

Fortpflanzung aufhebt, kann sich jeder wie ein Schuft benehmen

und Gefühle ignorieren.»

Der Gedanke, dass heterosexuelle Frauen kein Interesse an Casual-Dating-Apps hätten – die Behauptung, die ursprünglich aufgestellt wurde, als die Technologie von schwulen Männern auf Heterosexuelle ausgeweitet wurde –, hat sich als unwahr erwiesen. Ob dies nun Männer oder Frauen «glücklich» macht, ist fraglich. Ich wünschte, die Menschheit könnte sich daran erinnern, dass glücklich sein «Glück» bedeutet und dass man es sich nicht selbst aussuchen kann. «Glück» in seiner konsumistischen Formulierung existiert nur, um die Menschen unglücklich zu machen und um mehr zu kaufen. Dieses Bild steht in krassem Widerspruch zu dem Modell der Demut und der Hinwendung zum anderen, das in den grossen Religionen fortbesteht, deren Popularität fast überall weiter abnimmt. Quantität übertrumpft Qualität; Unmittelbarkeit ist besser als Aufschub; auf dem Gebiet der Romantik gilt: mehr Sex für die einen, keiner für die anderen. Aber wenig Liebe und keine Verspieltheit. Das Pornografische ist der Höhepunkt der westlichen Repräsentation; das Mysterium wird in High Definition wiedergegeben und für immer zerstört.

So wissen wir alles, sind uns zu nahe, durcheinander, leiden unter Ärger und Irritation. Die Idee von «Mann» und «Frau» steht zur Disposition, schwache Begriffe im Äther. Ein Mann kann eine Frau sein, wenn er sagt, dass er eine sei, denn Weiblichkeit hat sich auf eine Reihe von Zeichen reduziert: hohe Absätze, Make-up, Röcke. Das Fleisch ist passé; die Identität ist König. Was auch immer wir sagen, dass wir seien, wir sind es. Frauen können im sozialen Nebel verschwinden – wie es sich viele Teenager besonders wünschen –, indem sie sich als «nichtbinär» deklarieren. Eine grosse sexuelle Neuausrichtung ist im Gange, bei der nicht das Schicksal bestimmt, wer man ist, sondern der Wunsch, als das eine oder das andere zu erscheinen und begehrt zu werden. Das Fleisch selbst ist reaktionär und muss transzendiert werden. Vielleicht werden wir nie eine künstliche Gebärmutter bekommen, aber, meine Güte, unsere prometheische Tendenz wird es versuchen – den Bedürfnissen der Kinder zum Trotz.

Das Oberflächliche ablehnen

Nun, das ist ein deprimierendes Bild! Glücklicherweise findet die Realität immer einen Weg, sich wieder zu behaupten. Trotz der Bemühungen verschiedener Medien, Ressentiments zwischen den Geschlechtern zu schüren, kommen Männer und Frauen (gelegentlich) noch miteinander aus. Unsere natürlichen Unterschiede können zu einer Quelle des Staunens werden, selbst wenn wir als undefinierte Wesen zusammengeschoben werden. Wir können einen Schritt zurücktreten und diese gesättigte, oberflächliche Kultur ablehnen. Wir können uns daran erinnern, dass es viele Tugenden gibt, die nicht in den Kreislauf unmittelbarer Begierde fallen. Ja, es mag sein, dass diese Tugenden für Männer und Frauen letztlich unterschiedlich sind, aber nur unter der Voraussetzung, dass Männer und Frauen zwar unterschiedlich, aber in ihrer Unterschiedlichkeit dennoch kompatibel sind. Und es gibt viele Tugenden, nicht zuletzt die Geduld, die wir teilen. Männer und Frauen wollen (fast) immer noch heiraten und Kinder haben. Vieles andere ist nur Lärm.

«Trotz der Bemühungen verschiedener Medien, Ressentiments zwischen den Geschlechtern zu schüren, kommen Männer und Frauen

(gelegentlich) noch miteinander aus.»

Eine Kultur, die die Unmittelbarkeit, das Handeln, das Begehren und das Selbst in den Vordergrund stellt, drängt sich uns auf. Aber wir müssen nicht mitmachen. Es ist an der Zeit, eine egoistische Vorstellung von Freiheit – die Freiheit, aus einer Laune heraus zu tun, was man will – durch eine stärker verankerte (und verkörperte) Realität zu ersetzen. Wir können uns unseren Körper nicht aussuchen, aber wir können lernen, ihn zu pflegen und für unser Leben dankbar zu sein. Vielleicht bekommen wir nicht, was wir wollen, aber auch das ist eine Lektion. Unsere Vorstellungskraft kann sowohl mit unseren eigenen Gedanken und Intuitionen als auch mit dem Reichtum menschlicher Ausdrucksformen gefüllt werden. Warum sollten wir diese letztere Fähigkeit den entwürdigendsten Formen der Stimulation überlassen? Wir können das Verhältnis zwischen Männern und Frauen neu beleben, indem wir zurücktreten und die Welt bewundern, indem wir uns selbst verbessern – nicht um zu prahlen oder uns zu rühmen, sondern um unseren kleinen Platz im menschlichen Gewebe des Lebens zu finden.

Wir müssen nicht jeden mögen, und wir sollten asoziales Verhalten nicht entschuldigen, weder bei anderen noch bei uns selbst. Doch selbst die letztgenannte Erkenntnis bringt uns auf die Idee, dass es möglich ist, ein besserer Mensch zu sein, und sei es auch nur ein bisschen. Das gilt für Männer und für Frauen gleichermassen. Wir sollten nicht in die Falle tappen, uns gegenseitig die Schuld für alles zu geben, was in unserem Leben falsch läuft. Es ist nicht die Schuld deiner Ex-Freundin oder deines Ex-Freundes, dass du die Welt als einen traurigen Ort empfindest. Wir sind nicht der Sündenbock des anderen, und der Kampf der Geschlechter sollte nicht gewalttätig sein. Vielmehr sollte er spielerisch sein. Wir nehmen unsere Niederlagen auf die leichte Schulter, wir versuchen zu verstehen, wie das Leben des anderen aussieht. Eine tragikomische Haltung nimmt die Realität auf die leichte Schulter und akzeptiert sie. Männer und Frauen werden in jedem Fall nicht verschwinden. Es ist besser für uns alle, damit umzugehen, so gut es geht, und es zu geniessen, solange wir es können.


Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Seaman.

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Ahmad Mansour und Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.
«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»

Schriftsteller Donat Blum hält Männlichkeit für ein soziales Konstrukt und will ihr ­Empathie entgegensetzen. Psychologe Ahmad Mansour widerspricht und kritisiert die Verteufelung «alter weisser Männer». Ein Streitgespräch über Gendern, ­muslimischen Antisemitismus und Zärtlichkeit.

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