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(1) Das Missverständnis von «Lissabon»

Der «Beschluss» des EU-Rats im Jahr 2000 in Lissa-bon, die EU zum «wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum» zu machen, markiert keinen epochalen Neubeginn, sondern zeugt von einer massiven Überschätzung der politischen Planbarkeit des Wachstums.

Das überlieferte Verständnis der Entstehung von wirtschaftlichem Wachstum kannte bis anhin überall und immer das Zusammenspiel dreier Archetypen: desTüftlers, des Unternehmers und des Politikers – der Wissenschaft, der Wirtschaft und des politischen Systems. Die Motivationen dieser drei Akteure sind höchst unterschiedlich: die wissenschaftliche Neugier, der unternehmerische Erfolg und das «Allgemeinwohl».

Mit dem Heranwachsen eigenständiger Wachs-tumspole ausserhalb der OECD und dem Herausbilden unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatsbegriffe innerhalb der OECD hat sich in den vergangenen Jahrzehnten Grundlegendes geändert. In Kontinentaleuropa einerseits, im angelsächsischen Verständnis andererseits, und in Asien (China/Indien) als dem dritten Pol der neuen «Triade» beobachten wir unterschiedliche Innovationsgeschwindigkeiten, eine unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung und unterschiedliches Wachstum.

Dazu kommt erstens, dass sich die Grenzen zwischen diesen geographischen Räumen auflösen. Wirtschaft und Wissenschaft sind neugierig, unideologisch, osmotisch und daher weniger an Grenzen gebunden; sie sind ihrer Natur gemäss die eigentlichen Treiber dieser Auflösung – die wir mangels eines besseren Begriffs mit «Globalisierung» bezeichnen. Die Investition und die Produktion folgt dem Markt, und der Markt der Ideen ist längst global. Zweitens lassen sich auch die Arbeitsbereiche der drei Akteure nicht mehr länger klar trennen. Unternehmen entwickeln sich zu Wissenszentren, Forscher unterhalten gleichzeitig ihre eigenen Unternehmen. Der Tüftler und der Unternehmer rücken funktional und räumlich zusammen. Der «Verlierer» dieser beiden Entwicklungen ist der dritte Akteur, die Politik als regulierende Gestaltungsmacht.

Unausgesprochen enthält die «Lissabon-Agenda» zudem bereits das Eingeständnis der Politik, dass Anlass zur Sorge besteht. Zehnjahrespläne braucht es nicht, wenn alles bestens läuft. Mit Zehnjahresplänen verbinden wir in der jüngeren Geschichte nicht in erster Linie success stories. Das definitive Scheitern des «Lissabon»-Projektes ist im historischen Ablauf voraussehbar. Auf die politische Betriebsamkeit der EU-Kommission folgen die bekannten Automatismen «nationaler Aktionspläne» und «Benchmarks», die dann an einem allgemeinen Finanzierungs- und Vollzugsnotstand scheitern, für den niemand voll verantwortlich zeichnet.

Was aus diesen Widersprüchen und unerfüllten Zielen bleibt, droht in seiner Breitenwirkung jedoch unterschätzt zu werden. Eine gescheiterte, von der Realität so weit entfernte «Vision» lässt sich angesichts des gesamteuropäischen Ausmasses in der kontinentalen Bilanz nicht einfach unter dem Posten «bürokratische Unkosten» abbuchen. Unerfüllte Ankündigungen von oberster Regierungsebene üben auf die Bevölkerung einen langfristigen Immunisierungseffekt aus, der einen Vertrauensverlust gegenüber sämtlichen Ankündigungen und Programmen der Politik zur Folge hat. Die konkrete Konsequenz davon ist letztlich das Ausklinken nationaler Bevölkerungen aus dem europapolitischen Richtungsdiskurs ihrer Regierungen, wie wir es diesen Sommer in verschiedenen EU-Ländern verfolgen konnten. Ein weiteres unausweichliches Resultat solch vage definierter, kaum je vollkommen realisierbarer Grossprojekte ist eine verbreitete und zunehmende Unsicherheit gegenüber der Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen und der nationalen Politik.

In diesem Sinn wurde «Lissabon» am 12. Zermatter Symposium zur Chiffre, die über die «Lissabon-Agenda» hinausgeht. Das Symposium war der fruchtbare Versuch, die neuen Spielregeln zu verstehen, nach denen sich die drei eingangs genannten Akteure in einem neuen globalen Gefüge verhalten, und welche Folgerungen sich vor allem für die Politik daraus ergeben. Die Politik bestimmt nicht darüber, sie muss sich danach ausrichten.

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