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Nacht des Monats mit Peter Doppelfeld und Erica Hänssler

Nacht des Monats mit Peter Doppelfeld und Erica Hänssler

Ende der Vorstellung, es muss gegen 22 Uhr sein. Peter Doppelfeld und Erica Hänssler tischen im begehbaren Theatermuseum am Sihlquai, das bei Türöffnung automatisch Klavierperlen von Grock, dem weltberühmten Clown, spielt und auch ihr Zuhause ist, griechische Oliven, schweizerischen Käse und deutsches Brot auf. Zwischen Puppen, Kleidern – eines gehörte der Lebenspartnerin Erich Kästners – und Masken diskutieren wir über Anspruch und Wirklichkeit des zeitgenössischen Theaters. Ist das Treiben um Lachsschnittchen, Champagner und die Anwesenheit von Moritz Leuenberger im Foyer der grossen Häuser eine Art eigenes Schauspiel? Das Drumherum habe sicher seine Berechtigung, sagen die beiden Theaterleute vom Theater Stok, aber in ihrem Haus stehe die Bühne im Zentrum. Buchstäblich. Es hat kein Foyer.

Drei Stunden zuvor. So habe ich mir das Betreten des «Magischen Theaters» vorgestellt, das Hermann Hesse im «Steppenwolf» erdichtet: verborgen hinter einer unscheinbaren Wand, die Werbetafel mit der Warnung «Eintritt nicht für jedermann» nur sichtbar für jene, die sich dieses Abenteuers annehmen wollen. Sicher, das Theater Stok ist auch für alle anderen sichtbar. Und ganz so anarchisch wie in Hesses psychedelischem Selbstfindungstraum kann es kaum sein. Öffnet man aber die schwere Holztür und nimmt die wenigen Stufen hinab in den barocken Gewölbekeller am Hirschengraben in Zürich, so befindet man sich plötzlich in einer Welt, die mit der nüchternen Rationalität des Bankenplatzes an der Limmat nichts gemein hat.

Der polnische Theatermacher Zbigniew Stok nahm diese Stufen zum ersten Mal im Jahr 1971. Das heutige Theater war damals noch ein vor sich hin schimmelnder Gewölbekeller mit hunderten Velos, die von der städtischen Polizei dort gelagert wurden. Stok, überzeugt von Lage und Räumlichkeit, erklärte der Stapo, er wolle hier ein Theater gründen. «Mit welchem Kapital?» «Mit meinem Talent», antwortete Stok. Die Realisierung seines Traumes kostete ihn eine Anzahlung von 500 Franken. Er restaurierte den Keller. Unterstützt wurde Stok von Studenten, die sich freuten, mit ihm den Putz von den Wänden zu schlagen. Jeden Abend stand der hochverschuldete Theatermacher selbst am unteren Ende besagter Treppe und begrüsste die Gäste zur Vorstellung.

An der golden glänzenden Theaterkasse steht heute nicht mehr Zbigniew Stok, sondern Peter Doppelfeld. Er nahm die magischen Stufen erstmals 1976. Seit dem Tod Stoks im Jahr 1990 führt er das Theater gemeinsam mit Erica Hänssler, die schon im zarten Alter von 22 durch das nächtlich-lüsterne Niederdorf streifte, um Rosen für Zbigniew Stoks finanziell defizitären Theatertraum zu verkaufen. Später wurde sie seine Lebenspartnerin.

«Not macht erfinderisch», glauben die beiden. Das muss sie auch, denn Angestellte haben Peter und Erica nicht: vom ersten Buch­staben der Stücke bis zum letzten Satz auf der Bühne, vom ersten Plakatieren vor der Tür bis zum Entkorken des Rotweins nach der Vorstellung und vom telefonischen Vorverkauf bis zur Jahresabrechnung liegt der komplette Betrieb in ihren Köpfen und Händen. Auch die Kostüme, die Masken, eigentlich das gesamte Inventar besteht aus selbst hergestellten oder zumindest für die Bühne «verwandelten» Gegenständen. Es riecht wie in einer alten Kirche, der Zuschauerraum besteht aus aufeinandergestapelten und schwarz gestrichenen SBB-Paletten, auf denen Stühle stehen – sogar deren Sitz­kissen wurden von Erica selbst genäht. Und noch etwas fällt mir auf, bevor Peter auf die Bühne tritt: Studenten sitzen darauf keine mehr.

«Verehrtes Publikum. Bitte schalten Sie Ihr Handy aus und Verstand, Gefühl und Phantasie ein.»

Das Licht geht aus. Schwarz. Geräuschlos, weil barfuss, betritt Erica die Bühne. Als sie im langsam heller werdenden Schein­werferlicht für das Publikum sichtbar wird, ist sie nicht mehr die Thea­terunternehmerin Erica Hänssler. Hier, in der Halbwelt des Theaters Stok, tauscht sie den Beruf mit der Berufung. Sie spricht mit Masken, wirft Wasserlichtspiele an die unverputzten Wände und destilliert in intimer Runde Weltliteratur zu eindrücklichen Bildern. Das Konzept ist das gleiche wie vor 40 Jahren: Weltliteratur als Welttheater, irgendwo zwischen Liturgie und Puppenspiel.

Von Hesses «Magischem Theater» unterscheidet sich das Theater Stok noch in einem weiteren Punkt fundamental: ein Besuch ist nicht den «Verrückten» vorbehalten, sondern all jenen, die intimes Theaterhandwerk dem Sehen & Gesehenwerden vorziehen.

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