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Das magische Denken der Banken

Kehrt das Mittelalter wieder? Über die neue Unübersichtlichkeit in der Finanzwelt.

Im Mittelalter war die Welt für den Menschen rätselhaft. Sie erschien ihm als undurchdringlicher Dschungel, voller Fallen, unbeherrschbar, unverständlich, dem menschlichen Zugriff weitgehend entzogen.

Selbst Wörtern war nicht zu trauen. Denn wie konnte es sein, dass der Name der Rose unverändert weiterblühte, wenn die Pflanze selbst schon längst verwelkt war? In diese Finsternis brachten die Naturwissenschaften Licht, die Aufklärung zeigte den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Blitze, Erdbeben, Missernten und Krankheiten wurden erforscht, erklärt; Schutz, Abhilfe und Heilung ermöglicht. Die ersten Bankhäuser der Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli aus Florenz eröffneten Filialen in ganz Eu-ropa, waren in der Lage, Aktiva und Passiva einander gegenüberzustellen, eine Bilanz zu erstellen, Kredite zu vergeben und Einlagen entgegenzunehmen. Dann gaben Denker erste rationale Antworten auf die Frage, wovon eigentlich der Wohlstand von Nationen abhänge. Auch wenn Adam Smith noch eine «unsichtbare Hand» zu Hilfe nehmen musste, um das Wirken von Marktkräften zu erklären.

Aber was florentinische Banker mit Federkielen herstellen konnten, nämlich eine verständliche und überschaubare Bilanz, ist für eine moderne Bank im 21. Jahrhundert ein Ding der Unmöglichkeit. Die banale Frage «Wieviel ist eine beliebige Bank, zum Beispiel die UBS oder die CS, heute, in diesem Augenblick, eigentlich wert?» kann nicht beantwortet werden. An den dafür nötigen Methoden haben sich vor kurzem die Notenbankchefs der Welt in Basel wieder einmal die Zähne ausgebissen. Kernkapital, Tier 1, Core Tier 1, Risikogewichtung, die Verwendung von Rechnungslegungsprinzipien nach US GAAP FER oder Swiss GAAP FER oder doch IFRS 7 – letztlich ist keine vernünftige und verständliche Aussage möglich. Wenn selbst das nicht reicht, zaubern die Bilanztrickser Instrumente wie «Repo 105» aus dem Hut, reine Schminke, um eine leichenblasse Quartalsbilanz aufzuhübschen.

Ähnlich verhält es sich mit der Ausschüttung leistungsabhängiger Zusatzvergütungen, gemeinhin Boni genannt. Im aktuellen Geschäftsbericht der Credit Suisse – es könnte aber auch jede beliebige andere Bank sein – verwandelt sich diese Auskunft in 26 Seiten Text- und Zahlensalat, voll von ISUs (incentive share units), SISUs (scaled incentive share units), einem APP (adjustable performance plan), PAF (partner asset facility) und PIPs (performance incentive plans). Auf die einfache Frage, wieviele Mitarbeiter der Credit Suisse denn von diesem komplexen Angebot profitierten, verweigert die Bank aber jegliche Auskunft.

700 Jahre nach der Gründung der ersten Geschäftsbanken hat sich vor allem in den letzten Jahrzehnten in der sogenannten Finanzwissenschaft die Gewissheit verdichtet, dass nicht nur das Begreifen grundlegender Gesetze und Mechanismen, sondern auch die daraus resultierende Beherrschbarkeit wirtschaftlicher Abläufe ein Niveau erreicht haben, das die Finanzwelt nicht mehr von anderen exakten Wissenschaften wie Mathematik oder Physik unterscheide. Modernes «financial engineering» mache den Geldhandel kontrollierbar, lenke wie in kommunizierenden Röhren die Geldströme dorthin, wo sie gebraucht würden. Katastrophen und Unglücksfälle gehörten der Vergangenheit an. Dem stellt der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman den Satz entgegen, dass das meiste, was die Wirtschaftswissenschaft «in den letzten dreissig Jahren entwickelt hat, im besten Fall nutzlos, im schlechtesten Fall schädlich» sei. Wie kommt er zu dieser Aussage?

Zunächst ist es zweifellos so, dass sich die moderne Finanzwirtschaft in einen Dschungel verwandelt hat, moderner formuliert: in ein überkomplexes System. Wenn die Finanzingenieure an der Schraube unten links drehen – so meinen sie –, dann bewege sich oben rechts ein Rad im Uhrzeigersinn. Ursache und Wirkung, wie in der Physik. In Wirklichkeit, wie die aktuelle Finanzkrise beweist, ist das nur eine von vielen Möglichkeiten. Manchmal bewegt sich das Rad überhaupt nicht, manchmal im Gegenuhrzeigersinn, und manchmal fällt es auch einfach ab. Im Finanzdschungel sind wir auf Umwegen wieder im Mittelalter angelangt.

Was sich heute hier abspielt, hat sich, trotz oder gerade wegen der Anwendung angeblich modernster wissenschaftlicher Methoden, in ein undurchsichtiges, mit keinem Modell, nicht einmal mit der Chaostheorie, erfassbares Konglomerat von Ereignissen verwandelt, die sich weitgehend der Beschreibung, der Analyse und vor allem der Beherrschbarkeit entziehen. Gleichzeitig ist die moderne Finanzwissenschaft nicht in der Lage, Antworten auf banalste Fragen zu geben. Wieso führt die ungeheuerliche Schuldenaufnahme der industrialisierten Staaten nicht zu einer galoppierenden Inflation? Wieso soll eine Währungsabwertung, gar ein drohender Währungskrieg die Exportchancen der Länder verbessern, die am kräftigsten abwerten? Die in den letzten zwanzig Jahren am stärksten abgewertete Weltwährung, der US-Dollar, hat ja nicht verhindert, dass die USA kontinuierlich das grösste Handelsbilanzdefizit der Welt haben. Und, wieso soll Griechenland, zusammen mit vielen andern Staaten, nicht bankrott gehen? Schliesslich war der Staat seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1830 häufiger zahlungsunfähig als solvent.

Falls eintritt, was nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen gar nicht eintreten kann und darf, nämlich die Fast-Kernschmelze des Finanzsystems, werden plötzlich wieder alte Ausdrücke wie «unvorhersehbare Katastrophe», «Tsunami auf den Finanzmärkten», «Erdbeben» oder – moderner – «durch kein Modell antizipierbare Entwicklung» verwendet, als herrschten im Finanzmarkt gelegentlich Naturgewalten, lenkten unsichtbare Hände, gäbe es wieder zornige Götter. Und alle mathematischen Modelle wie jenes von Fischer Black und Myron Scholes zur Bewertung von Finanzoptionen, das angeblich die zukünftige Kursentwicklung vorhersagen könne und diese Wettscheine handel- und verpackbar machte, entlarven sich plötzlich als das, was sie schon immer waren: Muschelwerfen in Form mathematischer Formeln. Und die Regenmacher, wie heute erfolgreiche Investmentbanker sich gerne nennen lassen, stehen plötzlich im Regen wie ihre mittelalterlichen Vorbilder in deren besten Momenten.

Auch Wörtern ist in diesem modernen Finanzdschungel nicht zu trauen. Was versteht ein Anleger, wenn er einen «Total Return»-Fonds» oder einen «Obligationen-Basket in CHF» mit «Bankgarantie» und «100 Prozent Kapitalschutz» erwirbt? Versteht er, dass er einen Wettschein, ein Derivat kauft, dessen Bankgarantie und Kapitalschutz keineswegs durch die Bank seines Vertrauens garantiert wird, deren Logo gross auf dem Prospekt glänzt? Es behält jedenfalls seinen Glanz, während der Wettschein schon längst wertlos geworden ist, weil der Emittent pleite ging. So wie die Rose verblüht, während das Wort «Rose» unsterblich ist.

Berechnungsmodelle und Worte sind also in der Unübersichtlichkeit der Finanzmärkte nutzlos geworden, aber wieso ist modernes financial engineering auch schädlich? Wem der geschätzte Gesamtschaden von rund 6000 Milliarden Dollar, den die letzte Finanzkrise bislang angerichtet hat, als Beleg nicht ausreicht, der sollte sich von diesem Beispiel überzeugen lassen. Auf den Börsen der Welt wird, unterstützt von ausgefeilten Algorithmen und Supercomputern, sogenanntes high-frequency trading betrieben. Winzige Preisunterschiede werden in Millisekunden in Kauf- und Verkaufsorders umgesetzt. An den amerikanischen Börsen finden bereits mehr als die Hälfte aller Geschäfte so statt. Wirtschaftlicher Nutzen, Wertschöpfung: null.

Auch ein Trader, der mit wenigen Klicks auf seiner Computertastatur zum Beispiel 100 Millionen Euro bei der Europäischen Zentralbank zu einem Zins von 1 Prozent abruft und sie sofort in eine deutsche Staatsanleihe zu 3 Prozent investiert, schafft keinen neuen Wert. Er erbringt höchstens eine Dienstleistung. Genau wie ein Investmentbanker. Deshalb ist die Kritik an den absurden und schädlichen Honoraren und Boni keinesfalls nur ethisch-moralisch legitimiert, sondern wirtschaftliches Einmaleins. Geld selbst erschafft nicht mehr Geld, Geld produziert keine Werte. Geld ist Tauschmittel und also Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.

Ist also die Verwandlung überschaubarer finanzieller Transaktionen – wie Kreditaufnahme und Geldanlage – in einen undurchdringlichen Derivatdschungel, die Verwandlung von Börsengeschäften in eine algorithmisch gesteuerte Hexenküche, die Verwandlung einer Bankbilanz in ein undurchdringliches Zahlendickicht, Ausdruck einer zunehmenden Unfähigkeit oder Absicht? Eine aktuelle Zahl hilft, diese Frage zu beantworten. Laut einer Untersuchung des Hoforgans der Hochfinanz, des «Wall Street Journals», werden die grossen US-Banken für das Jahr 2010 ihren Managern 144 Milliarden Dollar an Boni auszahlen. Diesen neuen Weltrekord stellen die Banker auf, obwohl 2010 die Gewinne 20 Prozent unter dem Vorjahr liegen. Die persönliche Bereicherung hat sich vom Umsatz der Firmen völlig gelöst, in denen diese Angestellten arbeiten. Also ist es Absicht. Die Absicht der modernen Finanzschamanen unterscheidet sich dabei nicht von der ihrer Vorläufer im Mittelalter. Auch damals wollten sich Zauberer, Regenmacher und Wunderheiler lediglich ein Auskommen verschaffen. So schnell wie möglich und ohne dafür die geringste Gegenleistung zu erbringen. Denn damals wie heute wusste man: das Leben ist kurz, und das Ende ist nahe.

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