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Das mächtigste Ablenkungswerkzeug aller Zeiten

Wie sich Smartphones unserer Gehirne bemächtigt haben.

 

Sie haben sich also das neue iPhone gekauft. Als typischer Nutzer werden Sie Ihr Handy 80mal am Tag herausnehmen und etwas damit tun – gemäss den von Apple gesammelten Daten. Das heisst, Sie werden das kleine glänzende Rechteck während des nächsten Jahres fast 30 000mal zu Rate ziehen. Ihr neues Handy, wie schon Ihr altes, wird Ihr ständiger Begleiter sein, Ihr verlässliches Faktotum, Ihr Lehrer, Sekretär, Beichtvater, Guru. Sie beide werden unzertrennlich sein. Das Smartphone ist zum Behältnis des Selbsts geworden. Es protokolliert und verbreitet die Worte, Klänge und Bilder, die definieren, was wir denken, was wir erleben, wer wir sind.

Wir lieben unsere Handys aus guten Gründen. Welches andere Produkt bündelt schon so viele nützliche Funktionen in so handlicher Form? Andererseits bieten Handys uns nicht nur Bequemlichkeit und Unterhaltung, sondern züchten auch Ängste. Ihre enorme Nützlichkeit gibt ihnen Macht über unsere Aufmerksamkeit, erlaubt ihnen Einfluss auf unser Denken, unser Verhalten. Doch was passiert, wenn wir einem einzigen Werkzeug eine solche Herrschaft über unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge einräumen?

Die unausweichliche Ablenkungsquelle

Forscher haben begonnen, diese Frage zu untersuchen. Was sie zutage fördern, ist zugleich faszinierend und verstörend. Nicht nur formen Handys unsere Gedanken auf abgründige und komplizierte Weise, sondern sie wirken noch fort, während wir die Geräte gar nicht benutzen. Wo das Gehirn in Abhängigkeit von der Technik wächst, erschlafft der Intellekt. Die Teilung der Aufmerksamkeit bremst Denken und Handeln. Etliche Studien zeigen: Wenn Menschen eine schwierige Aufgabe bearbeiten und dabei piepst oder brummt ihr Handy, schwindet ihr Fokus und sie arbeiten nachlässiger – ob sie nach dem Handy greifen oder nicht.1 Wenn Menschen ihr Handy läuten hören, das Gespräch aber nicht annehmen können, schiesst ihr Blutdruck in die Höhe, der Puls beschleunigt sich und die Problemlösungsfähigkeit nimmt ab.2

Was frühere Forschungen ungeklärt liessen, war, ob Smartphones sich von den vielen anderen Ablenkungsquellen unterscheiden, die unser Leben bevölkern. Ein Forscherteam um Dr. Adrian Ward, Kognitionspsychologe und Marketingprofessor an der University of Texas in Austin, rekrutierte 520 Studenten an der University of California San Diego und gab ihnen zwei Standardtests, die ihren Scharfsinn untersuchen sollten. Einer der Tests prüfte die «verfügbare Kapazität des Arbeitsgedächtnisses» – ein Mass der Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Der zweite Test bewertete «fluide Intelligenz» – die Fähigkeit, unbekannte Probleme zu verstehen und zu lösen. Alle Bedingungen waren konstant, ausser einer: Wo lag das Smartphone der Probanden? Einige der Studenten sollten ihr Handy vor sich auf den Tisch legen, andere sollten es in ihren Taschen verstauen; wieder andere liessen ihr Handy in einem anderen Raum.

Die Ergebnisse waren verblüffend. In beiden Tests schnitten diejenigen Studenten ab schlechtesten ab, die ihr Handy sehen konnten. Wer hingegen das Handy in einem anderen Raum deponiert hatte, schliess am besten ab. Die Studenten mit dem Handy in der Tasche stellten das Mittelfeld. Je näher das Handy, desto schlechter die Leistung. In späteren Interviews behaupteten fast alle Teilnehmer, das Handy habe sie keinesfalls abgelenkt, ja sie hätten während des Experiments überhaupt nicht an ihr Gerät gedacht. Sie waren sich der ablenkenden Wirkung des Handys nicht bewusst.

Die Forscher beendeten die Studie 2017. Dr. Ward und seine Kollegen schrieben, die «Integration von Smartphones ins tägliche Leben» verursache offenbar einen «Brain Drain», der so wesentliche kognitive Fähigkeiten wie «Lernen, logisches Argumentieren, abstraktes Denken, Problemlösen und Kreativität» beeinträchtige.3 Smartphones sind derart mit unserer Existenz verflochten, dass sie selbst dann an unserer Aufmerksamkeit zerren und kostbare geistige Ressourcen abziehen, wenn wir gar nicht an ihnen herumfummeln oder auch bloss daraufschauen. Allein die Unterdrückung des Impulses, unser Handy auf Nachrichten zu prüfen – was wir routinemässig und unbewusst den ganzen Tag über tun –, kann unser Denken schwächen. Die Tatsache, dass heute die meisten von uns ihr Handy gewohnheitsmässig «sichtbar in der Nähe» haben, kommt – so die Forscher – verschärfend hinzu.

Frankensteins Monster: Wenn selbst der Erschaffer die Gefahr anerkennt

Dass unsere Handys uns derart beeinflussen, ist besorgniserregend. Offenbar sind unsere Gedanken und Gefühle in unseren Köpfen keineswegs abgeschirmt, sondern können durch äussere Mächte verzerrt werden, die uns noch nicht einmal bewusst sind. Doch die Ergebnisse der Studie sollten uns nicht überraschen. Schon lange ist der Wissenschaft bekannt, dass das Gehirn sowohl ein beobachtendes als auch ein denkendes System ist. Seine Aufmerksamkeit richtet sich automatisch auf neue, faszinierende oder anderweitig auffällige Gegenstände – auf alles, was das besitzt, was Psychologen «Salienz» nennen. Medien und Kommunikationsgeräte vom Telefon bis zum Fernseher haben diesen Instinkt schon immer ausgelöst. Ob an- oder ausgeschaltet, versprechen sie unendlichen Nachschub an Informationen und Erlebnissen. Sie bemächtigen sich unserer Aufmerksamkeit, wie es natürliche Gegenstände nie könnten, denn dazu sind sie gemacht.

«Smartphones sind derart mit unserer Existenz verflochten,
dass sie selbst dann an unserer Aufmerksamkeit zerren
und kostbare geistige Ressourcen abziehen,
wenn wir gar nicht an ihnen herumfummeln oder auch bloss daraufschauen.»

Doch Smartphones gehen noch weiter. Mit solchen Aufmerksamkeitsmagneten, wie sie es sind, haben sich unsere Gehirne noch nie auseinandersetzen müssen. Weil Handys so vollgepackt sind mit Informationen aller Art und so vielen nützlichen und unterhaltsamen Funktionen, verhalten sie sich – um es wie Dr. Ward auszudrücken – als «übernormaler Reiz», der sich unserer Aufmerksamkeit bemächtigt, sobald er Teil unserer Umgebung ist – und Smartphones sind immer Teil unserer Umgebung.4 Stellen Sie sich vor, jemand kombinierte einen Briefkasten, eine Zeitung, einen Fernseher, ein Radio, ein Fotoalbum, eine Bücherei und eine ausgelassene Party mit allen Menschen, die Sie kennen – um das Ergebnis zu einem einzigen kleinen, glänzenden Objekt zu komprimieren: Das ist es, was ein Smartphone für uns ist. Kein Wunder, dass wir uns davon nicht losreissen können.

Die Ironie des Smartphones ist, dass es ein und dieselben Eigenschaften sind – seine ständige Vernetztheit, die Vielfalt der Anwendungen, seine Responsivität, seine Tragbarkeit –, die es für uns so attraktiv machen und die ihm zugleich eine solche Macht über unseren Geist geben. Hersteller wie Apple oder Samsung und App-Anbieter wie Facebook, Google oder Snap entwickeln ihre Produkte so, dass sie unsere Aufmerksamkeit während jeder einzelnen unserer wachen Stunden maximal binden. Zum Dank kaufen wir jedes Jahr Millionen ihrer Geräte und laden Milliarden ihrer Apps herunter. Selbst prominente Insider aus dem Silicon Valley – etwa der Apple-Designchef Jonathan Ive oder der legendäre Investor Roger McNamee – äussern mittlerweile Bedenken hinsichtlich der Gefahren, die von ihren Kreationen ausgehen könnten.5 Social-Media-Apps wurden geschaffen, eine «verwundbare Stelle der menschlichen Psyche auszunutzen», sagte der ehemalige Präsident von Facebook Sean Parker jüngst in einem Interview: «Wir waren uns dessen bewusst. Und haben es trotzdem getan.»

Smarter dank Smartphone?

Vor einem Vierteljahrhundert, als wir zum ersten Mal online gingen, schien es ausgemacht, dass das Internet uns schlauer machen würde: Mehr Informationen würden zu schärferem Denken führen. Mittlerweile wissen wir, dass das zu einfach gedacht war. Die Art und Weise, wie ein Mediengerät konstruiert ist und wie wir es nutzen, übt auf unseren Geist einen mindestens ebenso starken Einfluss aus wie die Information, die das Gerät ausspuckt. So seltsam es scheint – womöglich führt der immer leichtere Zugang zu vernetzten Datenspeichern dazu, dass wir immer weniger wissen und verstehen. Je mehr wir davon ausgehen, dass uns Wissen in digitaler Form permanent zur Verfügung steht, desto weniger strengen wir uns an, es in unserem Gedächtnis zu speichern.

Nachdem es mit Hilfe des Smartphones so einfach geworden ist, online nach Informationen zu suchen, delegieren unsere Gehirne die Aufgabe des Erinnerns verstärkt an die Technik. Solange das nur Erinnerungen an Triviales betrifft, gibt es wenig Grund zur Sorge. Doch es gilt, was William James, Philosoph und Wegbereiter der Psychologie, in einer Vorlesung sagte: «Die Kunst des Erinnerns ist die Kunst des Denkens.»6 Nur indem wir Informationen in unserem biologischen Gedächtnis verzeichnen, können wir jene gehaltvollen geistigen Verbindungen spinnen, die persönliches Wissen ausmachen und auf denen kritisches und konzeptuelles Denken aufbauen. Egal wie viel Information um uns herumschwirrt – je dürftiger unsere geistigen Speicher bestückt sind, desto weniger haben wir, um damit zu denken.

Wir scheinen uns unserer Grenzen nicht bewusst zu sein. Wie Dr. Wegner und Dr. Ward 2013 in einem Artikel im Magazin «Scientific American» erklärten: Wo Menschen Informationen mit Hilfe ihrer Geräte abrufen, halten sie sich oft für intelligenter, als sie sind. Es fühlt sich für sie an, als hätten «ihre eigenen geistigen Fähigkeiten die Information hervorgebracht, nicht ihre Geräte». Der Anbruch des «Informationszeitalters» scheint eine Generation hervorgebracht zu haben, «die glaubt, mehr zu wissen als je zuvor», schlossen die Forscher, obwohl sie «womöglich immer weniger weiss über die Welt, die sie umgibt».7 Diese Erkenntnis erklärt auch, warum Menschen heute leichtgläubig auf Lügen und Halbwahrheiten hereinfallen, wie sie auf Social Media verbreitet werden. Wo das Handy unsere Urteilskraft untergraben hat, glauben wir alles, was es uns weismachen will.

Die Schriftstellerin Cynthia Ozick schrieb einmal, Daten seien «Gedächtnis ohne Geschichte». Ihre Bemerkung erhellt, warum es problematisch ist, dass wir unseren Smartphones erlauben, unser Gehirn zu steuern. Indem wir unser Denk- und Erinnerungsvermögen einschränken oder an ein Gerät delegieren, opfern wir unsere Fähigkeit, Information in Wissen zu verwandeln. Wir gewinnen Daten, verlieren aber Bedeutung. Das Pro­blem lässt sich nicht mit noch besseren Geräten lösen. Wir müssen unserem Denken mehr Raum geben, sprich unsere Handys auf Abstand halten.

  1. Cary Stothart, Ainsley Mitchum, Courtney Yehnert: The Attentional Cost of Receiving a Cell Phone Notification. In: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 41 (2015), S. 893–897. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26121498

  2. Russell B. Clayton, Glenn Leshner, Anthony Almond: The Extended iSelf: The Impact of iPhone Seperation on Cognition, Emotion, and Physiology. In: Journal of Computer-Mediated Communication, 20 (2015), S. 119–135. onlinelibrary.wiley. com/doi/full/10.1111/jcc4.12109

  3. Adrian F. Ward, Kristen Duke, Ayelet Gneezy, Maarten W. Bos: Brain Drain: The Mere Presence of One’s Own Smartphone Reduces Available Cognitive Capacity. In: Journal of the Association for Consumer Research, 2 (2017), S. 140–154. http://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/691462

  4. Adrian F. Ward: Supernormal: How the Internet is Changing Our Memories and Our Minds. In: Psychological Inquiry, 24 (2013), S. 341–348. http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1047840X.2013.850148

  5. http://www.theguardian.com/technology/2017/oct/05/smartphone-addiction-siliconvalley-dystopia

  6. William James: Talks to Teachers on Psychology. And to Students on Some of Life’s Ideals. Boston: Harvard University Press, 1983.

  7. Daniel M. Wegner, Adrian F. Ward: How Google is Changing Your Brain. In: Scientific American, 309 (2013), S. 58–61.

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