Das Lebewesen als Gebewesen
Im Zentrum der grossen gesellschaftlichen Probleme steht der Mensch, der sich selbst unterbietet. Peter Sloterdijk setzt der modernen schwarzen Anthropologie ein neues Narrativ entgegen. Stolz statt Neid, Grosszügigkeit statt Geiz: die neogriechische Revolution dürfte noch vor der nächsten Eiszeit kommen. Gespräch mit einem, der von sich behauptet, seine Altersradikalität komme erst noch.
Herr Sloterdijk, beginnen wir mit einem der Hauptthemen Ihrer letzten Bücher: dem sorglosen Leben. Sie haben einmal an der Kulturlandsgemeinde in Heiden teilgenommen, der selbsternannten Landsgemeinde der appenzellischen Kulturschaffenden. In Ihrem Reisetagebuch «Zeilen und Tage» steht: «Die Idylle zwingt die Einzelheit in ihren Rahmen. Die Wiesen lachen, wie im Rhetorikkurs gelernt. Das Alphornbläserensemble verbreitet vom späteren Vormittag an unerbittliche Biederkeit.» Es ging um Geld, Spekulation, die Finanzkrise – und irgendwann auch um das bedingungslose Grundeinkommen. Erinnern Sie sich?
Sehr gut sogar.
Sie zeigten sich reserviert gegenüber dem Anliegen, das die Gastgeber offensichtlich teilten, und lenkten das Gespräch zu deren Missfallen auf den Miserabilismus der Überflussgesellschaften, der in allen Bürgern hilfsbedürftige Wesen erkennt. In der EU läuft eine Initiative zu einem Grundeinkommen für alle. Und in der Schweiz wird das Stimmvolk demnächst über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens befinden. Wie stehen Sie zu solchen Vorstössen – sind sie Grund zu Sorglosigkeit oder doch eher zu Sorge?
Ich müsste erst einmal selber mit mir zurate gehen, denn das Thema Grundeinkommen ist für mich durch eine perverse neurologische Assoziation mit diesen Heidener Erlebnissen verknüpft. Wenn ich das Wort «Grundeinkommen» höre, meldet sich bei mir ein inneres Tonband, und ich höre diese meditative Gitarre wieder, mit der die Debatte in Heiden die ersten zehn Minuten eingeleitet wurde – und dann kamen auch noch tibetische Klangschalen hinzu, die zur Einstimmung minutenlang ertönten. Normalerweise gerät man bei solchen Klangerlebnissen in einen Zustand der Tiefenentspannung, wo das bessere Ich – falls es existiert – an die Oberfläche kommt und eine Art von fast transzendenter Freundlichkeit emittiert. Das war damals in Heiden bei mir nicht ganz so, da ich auf eine eher kontroverse Option eingegangen bin.
Sie haben sich dem Ansinnen der Gastgeber elegant entzogen.
Finden Sie? Die Gastgeber hatten geglaubt, dass ich die Frage so erörtern würde, wie sie es sich wohl gewünscht hätten: dass ich nämlich gewissermassen den philosophischen Überbau zu deren Grundeinkommensforderung formuliere. Ich habe eine typisch philosophische Reaktion an den Tag gelegt und das getan, was Philosophen am besten können: Ich bin einen Schritt zurückgetreten. Wir selber sind ja von der Natur her so angelegt, dass wir als Meinungsautomaten funktionieren. Wir haben im Laufe unseres Lebens Erfahrungen gesammelt, haben Gespräche geführt, haben Einflüsse erlitten; die sedimentieren sich zu einer Meinungspersönlichkeit, die an ihren Auffassungen hängt. Die Philosophen sind insofern eine etwas seltsame Gattung, als sie gegenüber diesen Meinungsbesitzern eine nicht konkordante Verhaltensweise praktizieren. Das kam gar nicht gut an…
…allerdings haben Sie auch als Philosoph bestimmt eine Meinung zum Thema – oder wenigstens als Bürger. Hand aufs Herz: wie würden Sie bei der erwähnten Volksabstimmung votieren, wären Sie Schweizer?
Der ebenso vernünftige wie gute Mensch in mir würde spontan sagen: Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine schöne Sache. Der ebenfalls gute, aber noch vernünftigere Mensch in mir würde jedoch entgegnen: Eigentlich haben wir das doch schon.
Wie meinen Sie das?
Wir leben in den europäischen Wohlstandsgesellschaften bereits in einem System, in dem Grundeinkommensgarantien gegeben werden – allerdings unter der Voraussetzung, dass lebensgeschichtliche Notwendigkeiten den Antragssteller dazu bewegen, sich um ein solches zu bewerben. Das heisst, es ist ein bewerbungsabhängiges, ein bedürfnisabhängiges, ein prüfungsabhängiges Grundeinkommen; da darf noch der Nachbar mitreden, die Behörde darf mitsprechen, da gibt es zweite, dritte, vierte Intelligenzen, die beurteilen, ob «Bedürftigkeit» existiert. Die guten Menschen von Appenzell wollten nun einen Schritt weiter gehen, und da war ich etwas zu langsam. Diesen Schritt wollte ich nicht oder zumindest nicht so schnell mitmachen. Denn die entscheidende Frage scheint mir zu sein: Was macht das Grundeinkommen mit den Menschen, oder genauer: was für ein Menschenbild legen wir unserem Umgang mit dem Mitmenschen zugrunde, wenn wir ihn von vornherein als einen Rentner seines eigenen Gemeinwesens deuten?
Die Vertreter des Grundeinkommens sprechen bloss aus, was sich viele Zeitgenossen insgeheim wünschen: etwas zu erhalten, ohne etwas dafür zu leisten. Die frühen Abenteurer und Hasardeure haben nach diesem Schatz gesucht, die Erben träumen davon, die Spekulanten, die heutigen Aktionäre, die ihre Aktien schneller wechseln als ihre Unterhemden, die emanzipierten Konsumenten digitaler Inhalte, die Sozialisten ohnehin – und nun eben auch der normale Bürger.
Ich sage es geradeheraus: Das leistungslose Grundeinkommen ist der Giertraum der Moderne. Wenn mir dabei ein wenig unheimlich ist, so hat dies damit zu tun, dass ich mich seit vielen Jahren mit politischer Psychologie beschäftige. Ich habe den für die Griechen zentralen Begriff des «Thymos» aus dem Lexikon der Antike wieder ausgegraben. Thymos ist bei den Griechen ein Regungszentrum der menschlichen Seele, in dem stolzhafte Impulse generiert werden. Der Thymos ist der Gegenpol des Eros, jenes Seelenzentrums, in dem das Habenwollen den Ton angibt – wer es schafft, nichts zu geben und alles zu nehmen, hat es hier zur Höchstform gebracht. Mir scheint nun eben, dass die genannten Initiativen eher das gier- als das stolzhafte Erregungszentrum des Menschen ansprechen. Und das ist ein entscheidender Punkt, der in dieser Diskussion, die erst begonnen hat, aus meiner Sicht zu wenig bedacht wird. Denn der Mensch ist immer und überall in eine Art autoplastisches Experiment involviert.
Können Sie das bitte ausdeutschen, also erklären, was genau mit dem Menschen passiert?
Sein Selbstverständnis prägt sein Verhalten und Denken, und wenn er von seinesgleichen als notleidendes Wesen angesprochen wird, dann beginnt er sich irgendwann auch so zu gebärden: wie ein armer Tropf oder eben wie ein giergetriebener Maximierer eigener Vorteile. Damit droht sich der Mensch in ebenso unfreiwilliger wie unnötiger Weise zu unterbieten.
Die Initianten argumentieren nun aber genau umgekehrt: Erst durch die materielle Sicherheit, die das Grundeinkommen gewährt, werden die guten Kräfte im Menschen freigesetzt. Ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens?
Wenn man es so genau wüsste! Frivol scheint mir der Gedanke eines unbedingten Grundeinkommens für alle. Aber ganz abgesehen davon, dass Geld nicht vom Himmel fällt – und das wäre der Punkt, auf den es mir ankommt: Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Initiative neben ihren generösen Implikationen auch eine gewisse fast verächtliche Beziehung zu den selbsthelferischen Tugenden innewohnt, die den Menschen innewohnen. Das ist ein Verdacht, den man nicht ganz loswird, insbesondere wenn man den erwähnten Schritt zurück gemacht hat und sich fragt, was der Mensch eigentlich ist. Ist er von Haus aus ein armes Vieh, dem man eine Art bedingungslose Garantie der Durchfütterung angedeihen lässt? Oder geht man davon aus, dass Menschen von Grund auf in einer höheren Dimension immer reich gewesen sind – denn zum Reichtum gehört ja die selbsthelferische Dimension, die Fähigkeit, die eigene Kraft im Lebensvollzug geltend zu machen.
Und Ihre Antwort darauf wäre?
Nun, ein thymotisches Menschenbild würde dazu tendieren, keine weiteren Angebote über die bestehenden hinaus zu machen, weil man möglicherweise die Menschen dann in einer falschen Tonlage anspricht – als würde man ihnen grünes Licht für miserabilistische Selbstbeschreibungen geben. Das soll man nicht tun, im Gegenteil, man sollte dem Miserabilismus lieber rotes Licht zeigen und nur dann helfen, wenn wirklich geholfen werden muss. Das Ganze hat ja den Charakter einer Hilfsoperation, zumindest kommt es mir so vor. Ich will nicht gerade sagen, dass es Sozialblauhelme sind, die da auf die Schweizer losgelassen werden und ihnen, ob sie nun wollen oder nicht, Geldbündel in die Reverstasche stecken. Aber ich denke, es ist ein Gebot der Lebensklugheit, sich vor unerbetenen Geschenken zu fürchten.
Weil Geschenke immer einen Preis haben? Zumeist ist es ja der Beschenkte, der ihn selbst bezahlt, auch wenn er es nicht merkt.
Ja, natürlich. Diese unerbetenen Geschenke haben aber darüber hinaus immer auch eine infantilisierende Tendenz. Als meine Tochter zur Welt kam, in Wien, klingelte es eines Tages an der Tür, und da stand eine Vertreterin des Wiener Sozialamtes mit einer riesigen Kinderausrüstung. Ich wusste gar nicht, wie es dazu kam – habe es dann aber rekonstruiert, und der Zusammenhang liess sich dann schon noch deutlich machen: Meine Tochter kam zu einem Zeitpunkt zur Welt, da ich mit der Mutter noch nicht verheiratet war, und ich musste in Österreich eine Konkubinatserklärung unterschreiben bzw. ein offizielles Beiwohnungsdokument ausfüllen, mit dem ich mich sozusagen als alternativlosen Haupttäter an der Geburt schuldig bekannt habe. Daraufhin ist die Wohltätigkeitsmaschine angelaufen, und mir wurde die Kinderausrüstung an der Türe geliefert. Ich hatte das Gefühl: Da muss schon seit längerer Zeit etwas falsch gelaufen sein… (lacht)
Wer die Geschenke unbesehen entgegennimmt, begibt sich, ohne es zu merken, in eine Abhängigkeit, der er nicht mehr leicht entkommt. Wie agiert demgegenüber ein Mensch, der sich in seinem thymotischen Zentrum angesprochen und ernst genommen fühlt?
Der Thymos hat in meinen Augen eine Serie von Äusserungsformen, die von einem sehr hohen bis zu einem sehr tiefen Ton reicht. Der höchste Ton auf der thymotischen Skala ist die Jovialität. Das kommt vom lateinischen «Jovis», das ist der Zweitname von Jupiter, und Jupiter ist der Gott der Jovialität par excellence. Das können Männer ab 40 meistens eher empfinden als andere Personengruppen: Wenn man so weit ist, dass man am Nachmittag auf die Veranda des Lebens heraustreten und gelassen hinausschauen kann – man hat geruht, ist weltfreundlich, daseins- und mitmenschenfreundlich, man gönnt der Welt, dass sie noch da ist, obwohl man selber eine Stunde ganz weg war: das ist Jovialität, die höchste Form des Wohlwollens. Das haben die Griechen und die Römer mit der Gestalt des Gottes Zeus beziehungsweise Jupiter verbunden. Jovialität ist in unserer heutigen, modernen Kultur im allgemeinen schlecht angeschrieben, weil man sie für ein aristokratisches Relikt hält. Wenn Sie etwa den Ausdruck im heutigen Feuilleton beobachten, wird er fast immer ein bisschen spöttisch und herabsetzend verwendet, weil das eben ein Ton ist, den die zeitgenössische Seele nicht leicht singt und auch nicht gern bei anderen hört.
Man fragt sofort: Was hat der für einen Grund, so jovial zu sein? Ich bin auch nicht jovial, weshalb ist er es?
Genau. Man hat immer das Gefühl, es sei eine Art von Herablassung darin. Dabei muss ich sogleich hinzufügen: Das Wort «Herablassung» gehört gewissermassen zum Kampfwortschatz des Bürgertums zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert – und Menschen, die Herablassung zeigen, drücken damit ja aus, dass sie sich selber hoch positionieren. Im Französischen nennt man das auch «condescendance». Allerdings findet man noch bei Johann Wolfgang von Goethe und anderen Autoren des frühen 19. Jahrhunderts Stellen, an denen deutlich ist, wie der Ausdruck in einem positiven Sinne verwendet wird. Goethe war zweifellos ein jovialer Mensch, der die höchste Form des Wohlwollens mit souveräner Gelassenheit praktizierte, unberührt von der nicht immer erfreulichen Welt, von der er sich seine Heiterkeit aber nicht trüben lassen wollte. Kurzum, was ich sagen will: Da hat sich über die Jahrhunderte eine Verdüsterung vollzogen, die für die Moderne bezeichnend ist.
Sie meinen: jovial gibt sich heute höchstens, wer im Lotto sechs Richtige hat. Wie geht es weiter auf der thymotischen Skala?
Der zweite Ton auf der absteigenden Skala der thymotischen Affekte ist der Stolz. Er hat nicht mehr die Färbung der Jovialität, denn bei dieser ist der Stolz mit der Gelassenheit verknüpft, so dass ein höherer Ton, ja der höchste Ton, entsteht. Wenn die Gelassenheit nicht hinzutritt, ist nur Stolz da, und der bedeutet reine Selbstaffirmation.
Konkreter?
Das ist der Affekt, der die Menschen dazu bewegt, auftreten und nach vorne gehen zu können. In der Demokratie ist es ja meistens so, dass sich die Menschen so verhalten wie die Pfeilerfiguren in gotischen Kathedralen: die sind mit dem Rücken in den Stein hineingemeisselt und könnten gar nicht nach vorne treten, selbst wenn sie wollten. Die modernen Menschen lehnen sich auch gerne an den Pfeiler und können die Geste des Nach-vorne-Gehens nicht ohne weiteres vollziehen. Wenn einer es tut, dann kommen gleich Kommentare von der Art: Der produziert sich ja nur so gerne selber. Oder wenn man es positiv meint, sagt man: eine Rampensau. Der Stolz kann dann aber beliebig weiter hinabsteigen, zum Beispiel dadurch, dass er sich ins Leere manifestiert – man hat einen Anspruch auf Achtung, Applaus, Anerkennung angemeldet, und von der anderen Seite kommen immer nur Pfiffe oder Undankbarkeit oder ein Herabsetzungsbedürfnis, das neben dem gesunden Menschenverstand zu den am besten verteilten Dingen der Welt gehört. Das Herabsetzungsbedürfnis ist ein sehr moderner Affekt, der Menschen hilft, nie nach oben schauen zu müssen. Wenn aber unser Stolz verletzt wird, tritt der Zorn auf, als der dritte Ton auf der thymotischen Skala.
Den gilt es von der Wut zu unterscheiden?
Oh ja – insofern der Zorn die stolzgetönte Regung der Psyche ist, die sich dann artikuliert, wenn der Affekt des verletzten Stolzes mit der Empfindung der Gerechtigkeit verknüpft wird. Frei nach Aristoteles: Gerechtigkeit ohne Zorn ist machtlos, ja die Gerechtigkeit selbst braucht den Zorn als treuen Diener. Das einzige, was nicht geschehen soll, ist, dass der Diener losstürmt, ohne den Auftrag des Herrn bis zu Ende angehört zu haben. So umschreibt Aristoteles elegant diese Arbeitsteilung zwischen dem zornhaften Affekt und dem Verlangen nach Gerechtigkeit.
Diese Themen sind hochaktuell, auch wenn wir gerade Textexegese der guten alten Griechen betreiben. Was geschieht gemäss Ihrer thymotischen Lehre, wenn der Zorn sich nicht äussern kann? Gelangen wir dann zu jenem Typus, der unter dem Titel des Wutbürgers gerade seine philosophischen Weihen erhält?
Der Wutbürger ist im besten Falle ein Zerrbild des Zornbürgers, dessen Aufwallungsfähigkeit mit Restbeständen an Gerechtigkeitsempfinden zusammenhängt. Er verspürt Regungen, die gänzlich diffus sind und sich gegen alles Mögliche richten – seine Erregung ist habituell geworden. Wer vom Wutbürger spricht, kann darum vom Ressentiment nicht schweigen. Wenn der Ausdruck des Zorns unterdrückt wird, weil es Machtverhältnisse zwischen Menschen gibt, die keinen adäquaten Zornesausdruck erlauben, dann staut sich der Zorn an. Zornunterdrückung ist dabei alles andere als eine Tugend – sie ist eine Krankheit. Seinen Zorn zu befreien, galt früher als lobenswerte Eigenschaft eines freimütigen, auch vornehmen Menschen. Die konnten freimütig poltern und schimpfen. Die Mitwelt stellte sich darauf ein und sagte: Das ist einer, der kann schimpfen wie ein Rohrspatz, aber zu seinen Gunsten ist zu erwähnen – das hat man früher tatsächlich über solche Menschen gesagt –, dass er seinen Zorn nicht über das Abendessen behalten kann.
Also darf man raten: Hüte dich vor den Menschen, die sich nie Luft machen!?
Wenn der Zornesausdruck in seiner eruptiven Form gehemmt, unterdrückt, angehalten und gestaut wird und in den ganzen affektiven Habitus eines Individuums einsickert, erzeugt er das, was Nietzsche den «Menschen des Ressentiments» nannte. Das ergibt den vierten Ton auf der thymotischen Skala. Steigt man auf der Affekttonleiter noch weiter hinab, muss man über das normale habitualisierte Ressentiment hinaus auch nochmals höhere Grade an Giftigkeit diagnostizieren, bis hin zu einer nihilistischen Vernichtungswut, einem generalisierten Hass, einem generalisierten Herabsetzungsbedürfnis und dergleichen. Man sollte die ganze Tonleiter überblicken, damit man weiss, wie mächtig der Affektbereich des Thymos ist. Um nun zu unserem Thema zurückzukommen: Ich hatte mir bisher erfolgreich die Vorstellung bewahrt, die Schweiz sei innerhalb Europas eine relativ aktive thymotische Enklave geblieben. Oder war es bloss eine Illusion?
Gute Frage. Wir neigen hierzulande dazu, unsere kleine Confoederatio Helvetica zu verklären – und dabei kommen uns unsere Nachbarn oftmals nur allzu gerne zu Hilfe. Die Neidkultur – und Neid gehört ja zweifellos nicht zu den thymotischen Affekten – ist auf jeden Fall ein Thema, das die helvetische Öffentlichkeit seit Jahren beschäftigt. Ich möchte das Gespräch in diesem Lichte nochmals auf das Grundeinkommen lenken – um etwas anderes explizit zu machen. Warum freuen wir uns eigentlich in Mitteleuropa nicht über das de facto bestehende Grundeinkommen? In der reichsten Gegend der Welt, in unglaublich wohlhabenden Gesellschaften – ist das dominierende Thema bekanntlich ein anderes: die Armut.
Das Armutsthema kommt auf in einer Kultur, in der sehr viele Menschen von der Empfindung durchdrungen sind, dass sie etwas zu verlieren haben. Wir haben eine neue virtuelle Form von Armut vor Augen, nämlich als die Möglichkeit der Wiederverarmung nach dem Durchgang durch eine historisch beispiellose Wohlstandsperiode. Das gibt der Debatte über Armutsprobleme in der zeitgenössischen Situation ihre besondere Färbung.
Konkreter?
Bei den aktuellen Klagen wird ein Armutsbegriff konstruiert, der so anspruchsvoll ist, dass er der Überprüfung durch den gesunden Menschenverstand nicht mehr standhält. Denn wenn als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in einer reichen Nation verdient, dann müssten sich ja eigentlich die wirklich Armen, die in der Sphäre der absoluten Armutsdefinition existieren, verhöhnt vorkommen. Wenn sie ihre Brüder und Schwestern in der Wohlstandszone, die 2000 oder 1500 Euro im Monat haben, aufgrund der neuen soziologischen Sprachregelungen als ihre Statusgenossen in puncto Armut umarmen dürfen, hat man das Gefühl, dass grosse Teile der Menschheit aneinander vorbeireden.
Sie meinen: wir haben es der Verlustangst zu verdanken, dass wir uns ständig arm fühlen, obwohl wir eigentlich reich sind.
Richtig. Die Angst hemmt zugleich unsere Antriebskräfte – und irgendwann sind wir wirklich arm. Man kann die sozialpsychologische Spur dieser Empfindungsweise bis etwa in die 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zurückverfolgen. Damals hat eine amerikanische Kolumnistin, Barbara Ehrenreich, ein vielbeachtetes Buch publiziert, das die Zeitstimmung genau getroffen hat: «Fear of Falling» – Angst vorm Fallen. Das war ein zeitdiagnostischer Schuss ins Schwarze; sie hat in diesem Buch das Lebensgefühl der amerikanischen Mittelschichten auf breiter Front porträtiert und aufgezeigt, dass Amerika im Begriff war, von einer Kultur der Zuversicht in eine Kultur der Furcht zu mutieren. Die Amerikaner haben für die westliche Welt in sozialpsychologischer Hinsicht den Kammerton der nächsten zwei, drei Jahrzehnte gesetzt. Da kam der tragische, zugleich aber unendlich überinterpretierte, narzisstisch hochgeputschte 11. September hinzu, der ganz im Sinne der «Fear of Falling»-Ideologie weiterinterpretiert wurde und der die Amerikaner weiter in die bellizistische Reaktion hineintrieb. Es kam eine Culture of Fear als Remilitarisierung und Reparanoisierung der Gesellschaft auf.
Bleiben wir rasch in den USA: Sie haben unlängst Vorlesungen an der Irvine University in Kalifornien gehalten. Wie war Ihr Eindruck vom sogenannten Land der Freiheit?
Mir brennen immer noch die Fingerspitzen von meiner letzten Einreise. Wenn Sie heute in die USA einreisen, macht Ihnen der Immigration Officer folgendes vor: eine Geste, die bedeutet: legen Sie vier Finger hier drauf! Sie sollten nicht glauben, dass Sie ihm «take five» erwidern müssen, sondern Sie legen Ihre Hand besser einfach auf ein gläsernes Lesegerät. Dann sagt der Herr: «thumb». Dann legen Sie Ihren Daumen drauf. Darauf sagt er: «left hand». Dieselbe Prozedur. Von mir zirkulieren da also im Moment zehn Fingerabdrücke im amerikanischen Polizeinetz, das heisst, sie können mich auf zehn verschiedene Arten ermitteln.
Aber eine Genprobe hat der Officer nicht genommen?
Das ist mir zumindest nicht aufgefallen. Die US-Behörden haben aber zusätzlich eine Iris-Aufnahme gemacht. Ich war erstaunt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das erlebe, aber man fragt sich schon: Was ist eigentlich aus diesem Land geworden? Mir fällt in diesem Zusammenhang eine Geschichte ein, die Salman Rushdie erzählt hat. Als er einmal nach Amerika einreiste, nahm ein Immi-gration Officer Anstoss an seiner Physiognomie; die sah irgendwie so orientalisch und bombenlegerisch aus, er hatte ausserdem einen frechen intellektuellen Augenglanz – das rechtfertigt offenbar eine Spezialuntersuchung. Sie haben ihn also rausgezogen aus der Schlange, haben ihn abgetastet und in dem typischen rüden Grenzwächterton behandelt. Dann aber berichtet Salman Rushdie etwas sehr Schönes: Eine Amerikanerin, eine 70jährige Dame, trat auf ihn zu und sagte zu ihm: «Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika entschuldige ich mich für dieses Verhalten des Beamten; er tut das nicht in meinem Namen und nicht im Namen eines grossen Teiles unserer Bevölkerung.» Da hat Salman Rushdie plötzlich grosse Ohren bekommen und gedacht: In dieses Land, wo diese Leute leben, wollten wir eigentlich immer fahren. Doch dieses Land wurde sich von seiner eigenen Regierung gestohlen. Es ist in eine Form von Paranoisierung hineingetrieben worden, die durchwegs beunruhigend und erschreckend ist. Und wenn wir jetzt nicht einen relativ besonnenen, vielleicht sogar grossen amerikanischen Präsidenten hätten, wäre die Sache noch schlimmer.
Wie Sie wissen, führen die Amerikaner auch so etwas wie einen Steuerkrieg gegen die Schweiz – die Schweiz steht unter Druck, und die Amerikaner treten, so das allgemeine Empfinden, ziemlich dreist auf.
Dass es eine gewisse antiamerikanische Nervosität gibt in der Schweiz, das habe ich von meinem fernen Beobachtungsposten in Karlsruhe natürlich auch mitbekommen. Ich wohne dort, wie Sie wissen, in einem Elfenbeinturm und empfehle das nach wie vor als die zeitgemässeste Form der Architektur. Ich bin freilich auch Tierschützer und liebe Elephanten über alles. Daher plädiere ich für künstliches Elfenbein. Der Mensch, der einen Schritt zurück tut, braucht auch eine geeignete Wohnung, und das kann nur der Elfenbeinturm sein. Ich propagiere den Elfenbeinturmbau, wo immer es möglich ist…
… Sie weichen aus…
… nein, ich stimme mich auf die Antwort ein, die ich Ihnen auf Ihre Frage geben will. Aus meinem Elfenbeinturm heraus rufe ich den Schweizern also nicht zu: Haut den Amerikanern auf die Schnauze! Das wäre ein falsches Signal. Ich gebe nur zu bedenken, dass das grosse Land, das Ihnen jetzt Ärger macht, selber in den letzten 25 Jahren eine problematische Entwicklung durchlaufen hat. Ein paar Andeutungen haben wir eben schon gegeben. Das Land hat sich selbst durch seine unerhörte Verausgabungspolitik an den Rand des Ruins manövriert. Das masslose Gelddrucken, das seit rund 20 Jahren die amerikanische Finanzpolitik prägt, hat einen unmittelbaren kausalen Bezug zu den militaristischen Überanstrengungen, die für die USA typisch sind.
Ein interessanter Punkt. Sie vermuten hier einen Dreiklang: Kriegspolitik, Verschuldungspolitik, Politik des leichten Geldes?
Der Staat finanziert die Kriege – die Deutschen haben bei dem absurden Unternehmen gegen Saddam Hussein unerwarteterweise gesagt: Wir zahlen nicht, und manche andere Länder haben es Deutschland gleichgetan. Das hiess, jetzt mussten es die Amerikaner selber bezahlen, und zwar mit Luftgeld, das aus der Notenpresse fliesst. Das ist eine originelle Art und Weise, Kriege zu finanzieren. Die syrische Währung wird ja auch in Russland gedruckt und in Flugzeugen nach Syrien eingeflogen. Das Geld, mit dem Assad seine Soldaten bezahlt, wird in Russland hergestellt, auf Druckplatten, die man dort bereitgestellt hat – es ist auf seine Weise ebenso pures Kriegspapiergeld, bei dem man den Zusammenhang zwischen einer falschen Politik und falschen Vorstellungen über das Wesen der Wirtschaft mit Händen greifen kann.
Die Amerikaner sind zweifellos die Vorreiter der Politik des leichten Geldes – als einzig verbliebene Weltmacht können sie sich dies auch leisten. Allerdings würde ich den Amerikanern hier ihre Direktheit hoch anrechnen, indem sie nämlich das Gelddrucken transparent machen: Die Fed kauft unter dem wunderbaren Titel «Quantitative Easing» direkt die Schulden des Staates auf, während die EZB das eher verschleiert tut.
Die Europäer folgen hier nur zögernd, weil unsere Gehirne in einer Zeit programmiert wurden, die der Kreditidee des 19. Jahrhunderts folgte: dass man Schulden zurückzahlt.
Das haben mir meine Eltern auch so eingebleut. Aber um ehrlich zu sein: das klingt heute fast schon naiv.
Ja, das ist richtig Old School. Man hat heute den Eindruck, diejenigen, die noch an die blosse Möglichkeit der Rückzahlung glauben, die müssten schon total rückständig sein und hätten das Wesen der modernen Kreditwirtschaft noch nicht begriffen.
Kredite refinanziert man neuerdings über neue Kredite, das hat sich offensichtlich herumgesprochen.
Es sind immerhin noch ein paar übriggeblieben, die wenigstens den Willen haben, sich die Erinnerung an ein moralisches Altertum zu bewahren, dessen Spuren uns gerade noch berühren. Im moralischen Altertum hat man die Symmetrie-Idee hochgehalten: das Geben und das Nehmen, das Leihen und das Zurückzahlen. Das sind Ursymmetrien, auf denen die klassische Ethik aufgebaut wurde. Zu den luzidesten Passagen von Nietzsches Ethik gehört die Einsicht, dass eigentlich das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner dasjenige ist, das in den frühen Hochkulturen, also im ersten Jahrtausend vor Christus, allenthalben die eigentliche Grundlage der Ethik bildete, im Sinne eines an Symmetrie-Ideen orientierten Gerechtigkeitsbegriffes. Gerechtigkeit, wenn man das definieren will, kann man am besten dadurch zum Ausdruck bringen, dass ein Schuldner sich seiner Schuld entledigt. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir…
… vergeben unseren Schuldigern…
… den Griechen einen Schuldenschnitt gewähren! Dass Schuld und Schulden nicht nur etymologische Zufallsverwandte sind in der deutschen Sprache, sondern dass sie aus der Sache heraus aufeinander verweisen und dass daher gerecht nur jener Mensch sein kann, der alles, was er sich zuschulden hat kommen lassen, auch selbst zu begleichen antritt, das sollte man sich im gegebenen Kontext klarmachen. Das ist der gute alte Schuldner oder Europäer, der im Augenblick am Horizont verschwindet. Da sieht man noch einzelne Feuilletonisten oder Old-School-Wirtschaftsmenschen, die stehen am Pier und winken. Am Horizont läuft sozusagen schon die Party der fröhlichen neuen Schuldner, die fahren los aufs offene Meer, und Jens Weidmann steht am Ufer und weint. Ich weiss, auch Weidmann, der Präsident der deutschen Bundesbank, ist kein Star in der Schweiz, aber dennoch einer von denen, die noch an reelle Äquivalenzbeziehungen glauben. Und in ganz Europa scheint er der einzige zu sein, der noch so denkt. Unter 26 oder 27 Wirtschafts- oder Finanzministern bzw. Nationalbankpräsidenten ist er in einer verzweifelten Minderheitsposition, denn überall sonst sind die Inflationisten an der Macht, die an der Zinsschraube drehen, bis der Hahn auf null einrostet.
Sie bringen es hier, viele andere bringen es auch: Ich bin immer wieder erstaunt, wie leichtfertig das Wort «Inflation» im politischen Diskurs verwendet wird, ebenso wie das Wort «Abwertung». Eigentlich ist «Inflation» ein Synonym für «Enteignung». Wenn man eine neue Steuer von 10 Prozent einführte, statt «abzuwerten», dann würden gleich alle auf die Barrikaden gehen. Wenn man aber sagt, man «werte bloss ab» im Rahmen der anvisierten Teuerung, dann sind sich plötzlich alle einig, das sei eine gute Möglichkeit, Schulden zu reduzieren.
Das sind Phänomene, die man im Rahmen einer psychopolitischen Gesellschaftsanalyse gut beschreiben kann. Die Menschen haben eine viel höhere Enteignungstoleranz, wenn die Schröpfung unter Schonung des Nominalwertscheins geschieht. Hingegen strebt die Aversion dem Höhepunkt zu, wenn es zu sichtbaren Lohnverminderungen kommt. Die Autohypnose funktioniert besser, wenn man das Enteignungsgeschehen ohne Veränderung der Zahlenwerte auf den Geldscheinen zum Ausdruck bringen kann. Wenn wir intelligente Geldscheine hätten – was ja in der besten aller möglichen Welten vielleicht einmal kommen wird –, auf denen man jeden Morgen nachgucken könnte, wie viel sie noch wert sind, mit einem digitalen Zählwerk versehen – nun, wenn wir solche Geldscheine hätten, dann könnten wir uns nicht mehr selber betrügen. Ich bin sicher, dass irgendein kluger Gymnasiast in einer amerikanischen Garage das längst erfunden hat. Da steht 100 Dollar drauf, und am nächsten Morgen oder nach einer Woche blinkt es ein bisschen, man schaut genau hin, und da stehen nur noch 90 – und es zählt konsequent nach unten. In Washington wurde das nur noch nicht rezipiert.
Das neue Geld informiert den Geldesitzer also immer über die aktuelle Kaufkraft.
Genau. Insofern wäre dieses intelligente Geld immer noch Old School. Das korrupte Geld hingegen wäre solches, wo am nächsten Morgen plötzlich 200 draufstünde. Das wäre dann das Lieblingsgeld der herrschenden Inflationisten. Die Leute kommen sich immer reicher vor. Vielleicht liegt da auch die Zukunft des Euro, dass man eines Tages wieder zur Lira für ganz Europa zurückkehrt, denn die Menschen lieben die grossen Zahlen. Ich weiss noch gut: Als Student mit einer Reisekasse von 1000 D-Mark war ich einmal im Leben Millionär, in Italien nämlich, denn die Reise geschah zu einer Zeit, als die Tauschparität bei 1:1000 lag. Ich fand das hinreissend. Hinterher habe ich natürlich auch etwas über das Wesen des Geldausgebens gelernt. Wenn du einen Tausender hast, ob das jetzt D-Mark oder Lira sind, und du musst schon für eine Pizza 10 000 zahlen, dann bestätigt man das, was uns unsere Freunde, die Neurologen, in jüngerer Zeit erläutert haben: dass eine grosse Anzahl von ökonomischen Operationen, insbesondere das Zahlen, im Schmerzzentrum des Gehirns dargestellt werden. Dagegen ist der Mensch, so wie wir ihn bisher kennen, weitgehend hilflos. Es gibt nur eine Alternative, das ist die Umwandlung von Zahlungen in Schenkungen. Die werden im Lustzentrum dargestellt.
Wir hangeln uns zurück zu unserem eigentlichen Thema. Sie fordern seit einigen Jahren den Bürger auf, seine gebenden Tugenden neu zu entdecken. Können Sie Ihr Anliegen näher erläutern?
Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der bereits angesprochene Unterschied zwischen Eros und Thymos. Ich rege an, den Menschen wieder so zu beschreiben, wie es die Griechen getan haben, als ein Wesen, das mit einer bipolaren Grundantriebsanlage ausgestattet ist, oder, wenn man so will, mit einem psychologischen Hybridmotor, der stolzhafte Antriebskräfte mit eroshaften, also gierhaften Antriebskräften zusammenschaltet. Wenn wir uns zu dieser Art der Beschreibung entschliessen, dann müssen wir die gebenden Tugenden wieder stärker beachten. Nichts gegen den Eros – aber er ist eben nur die halbe Wahrheit. Die modernen Denker – und unter ihnen insbesondere die Psychoanalytiker – haben sich darauf kapriziert, den Menschen allein als giergesteuertes Wesen zu konzipieren, ihn also ganz vom Erotizismus her zu denken, wobei Eros Begehren heisst und das erotische Begehren sich nur auf das beziehen kann, was der Begehrende noch nicht hat. Kurzum, der Eros ist ein Einverleibungs- und Aneignungstrieb, dem ein Mangel zugrunde liegt.
Und dabei wird vergessen, dass der Mensch immer auch aus einem inneren Reichtum und Überfluss handelt.
An diese luxurierende Grundausstattung versuche ich in meinen Schriften zu erinnern. Meine Aufgabe ist dabei alles andere als leicht, wir leben ja in einer völlig übererotisierten Kultur.
Wie meinen Sie das?
Gehen Sie doch einmal durch die Zürcher Einkaufsstrassen und schauen Sie sich dort die Schaufenster an. Das letzte Mal, als ich so viel Damenunterwäsche auf so wenig Raum sah, stieg ich im Pariser Kaufhaus Samaritaine im falschen Stockwerk aus dem Lift.
Ich meinte eigentlich: Was hat es nun mit dieser erotisierten Kultur in bezug auf unser Thema auf sich?
In einer so hocherotisierten Kultur wie der unseren geht man davon aus, dass der Mensch im Nehmen gut ist und im Geben drastische Defizite aufweist. Mit dem richtigen Training kann der Mensch freilich auf beiden Gebieten Meisterschaft erlangen. Hat man die bipolare Psychologie akzeptiert, so dass man die stolzhaften Regungen als Primäreigentum beschreibt und den Menschen als Gebewesen konzipiert, als Lebewesen, das immer auch ein Gebewesen ist, dann kommt man auf ganz andere Ideen – und zu anderen Verhaltensweisen. Dann wird man irgendwann auch gezwungen sein, das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern auf eine neue Grundlage zu stellen – denn der Steuerzahler ist, recht bedacht, in einer gebenden Position, auch wenn er den Gabecharakter seiner Zuwendung an die Gemeinwesenkasse zumeist verkennt.
Sie haben sich jüngst als Kritiker des real existierenden Steuerstaats unbeliebt gemacht. Sie haben sich angewöhnt, von fiskalischer Kleptokratie zu sprechen. Woran stören Sie sich genau?
Der Fiskus in Deutschland ist strukturell spätmittelalterlich oder frühneuzeitlich geblieben. Wie Sie wissen, war der mittelalterliche Fiskus zunächst die Privatschatulle des Fürsten. Wenn er neue Einnahmen brauchte, musste er jedes Mal eine Ständeversammlung einberufen und sich neue Steuern bewilligen lassen. Alle Steuern waren zunächst Ad-hoc-Steuern: für ein Mal und nur für dieses Mal. Und er musste immer begründen, warum und wozu. Die Steuern entsprangen also zuerst einer Notfallpraxis. Dann traten zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert Juristen auf, die mit Erfolg suggerierten: Der Notfall, zu dessen Behebung der Fürst an die Abgaben der Gefolgsleute appelliert, hat sich in einen permanenten Notstand verwandelt. Die Erfindung des permanenten Notstandes, die necessitas perpetua: ich würde sagen, das war, bevor Trotzki das Konzept der permanenten Revolution geprägt hat, die geistreichste und folgenschwerste Begriffserfindung der alteuropäischen Herrschaftstechnik.
Wenn der Staat immer in Not ist, dann kann man auch Steuern erheben, ohne die Untertanen jedes Mal neu fragen zu müssen. Aus dieser Entwicklung heraus hat sich der moderne, der frühneuzeitliche Steuerstaat entwickelt – wie genau?
Er steht auf der Basis nun regelmässig erhobener Zwangsabgaben – genau so ist es. Witzigerweise nennt sich der Staat eben Staat, weil er behauptet, fest zu stehen – in Wahrheit gleitet er von Instabilität zu Instabilität, seit es ihn gibt. Früher waren die Könige als Wanderhöfe auf den Territorien ihrer Vasallen unterwegs und liessen sich von diesen bewirten. Das war faktisch eine Sondersteuer, die im Mittelalter «alberga» hiess. Seit sich der Fürst in einer eigenen Residenz festsetzte, liess er sich sein Nichtauftauchen in den Häusern der andern bezahlen. Steuergeschichte ist intellektuell stimulierend, da sie – neben der Kunstgeschichte – den Triumph der Einbildungskraft bestätigt. Kein Mensch kann sich vorstellen, wofür bereits alles Steuern erhoben wurden.
Das klingt so, als hätten Sie sich kundig gemacht und könnten einige besonders einleuchtende Beispiele darbieten. Ich bitte darum.
In der Tat. Ich war vor kurzem in St. Petersburg und habe mich mit der Lebensgeschichte von Peter dem Grossen etwas näher beschäftigt. Erstens, weil er der letzte Politiker in Europa war, der einen ordentlichen Beruf gelernt hatte, ehe er zu regieren begann. Er war im Schiffbau tätig, sprich auf der höchsten High-Tech-Ebene seiner Zeit, denn Schiffe waren bekanntlich die komplexesten Artefakte, die damals gebaut wurden. Und zweitens war er auch Steuerschöpfer von eindrucksvoller Phantasie. Er hat für russische Männer eine Bartsteuer erhoben. Stellen Sie sich das vor, alle diese bärtigen, schrecklichen Bässe aus den russischen Chören müssen für ihre Kinnhaare eine Abgabe leisten. Wenn ein Russe immer noch auf altrussische Weise den Bart tragen wollte, musste er dafür teuer bezahlen. Die Franzosen haben es ähnlich gemacht: Sie haben die Zahl der Kamine an einem Haus gezählt und dementsprechend die Steuern erhöht. Fragen Sie sich doch, warum die Häuser in ganz Südfrankreich nach der Strassenseite hin keine Fenster haben – weil der französische Fiskus auch eine Fenstersteuer eingeführt hatte, die man nur durch Selbstverbarrikadierung unterlaufen konnte. In Preussen gab es bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts die sogenannten Mahl- und Schlachtsteuern. Immer wenn ein Bauer ein Tier zum Metzger führte, griff der preussische Staat zu. Wenn ein Bauer seine Getreideernte zur Mühle brachte, griff der Staat ebenfalls zu…
… der Staat: das ist bis heute der unsichtbare Dritte, der jeder Transaktion still beiwohnt. Er macht sich bemerkbar, aber man bemerkt ihn nicht. Warum eigentlich?
Vielleicht weil der Staat ein Wesen ist, das nicht erröten kann. Deshalb haben sich solche Bräuche bis in unglaubliche Nähe zu unserer Gegenwart erhalten. Worauf ich aber hinaus will mit diesen Überlegungen: In diesem Verhältnis zwischen dem Staat und dem Steuerzahler ist ein uraltes, aus dem Absolutismus stammendes Missverhältnis weitertransportiert worden. Die Schweiz ist das einzige Land der Welt, in dem deutliche Ansätze zu einer Revision dieses Missverhältnisses vollzogen worden sind. Aber in fast allen übrigen Ländern ist die Fiskokratie auf dem vordemokratischen Stand von einst geblieben.
Verstehe ich Sie richtig: Sie wollen eine Art Demokratisierung des Finanzwesens in Deutschland durchsetzen?
Das wäre ein Anfang. (lacht)
Na dann: Good luck!
Sehen Sie, wir haben in Deutschland zwar einen Bund der Steuerzahler, der jährlich die Verschwendungsquote ausrechnet, die bei den Tätigkeiten der öffentlichen Hand beanstandet werden kann. Wir geben gerne mal eine Milliarde aus für eine Drohne, von der man schon in einer frühen Stufe der Entwicklung wusste, dass sie auf deutschem Boden niemals fliegen wird; das hat man immer nebenbei geduldet und hat den Staat als den universalen Einnehmer verherrlicht. Und vor allem hat man sich in bezug auf das Finanzamt mit einer Haltung eingerichtet, die absolut vordemokratisch ist, nämlich mit einer Form von Duldung, Passivität, zivilistisch unwürdigem, unmöglichem Verhalten.
Konkreter bitte.
Man erhält seinen Steuerbescheid, man zahlt, man versucht, das Schmerzzentrum nach Möglichkeit zu umgehen – wobei bei dieser Operation natürlich das banktechnische Instrumentarium, das man Dauerauftrag nennt, sehr hilfreich ist: Verteilt man den Schmerz über das ganze Jahr, ist das fast wie ein Bypass auf einer neurologischen Ebene. Ich glaube, es ist tatsächlich der Moment gekommen, wo man das in aller Deutlichkeit aussprechen kann: Der heutige Steuerstaat ist, wie viele andere Aspekte der Staatlichkeit auch, eine psychopolitische Fehlkonstruktion. Es geht einfach nicht an, dass man den Bürger in dem Augenblick, in dem er seine grösste Zuwendungsleistung zum Gemeinwesen erbringt – im Moment der Steuerzahlung –, in die passivste, würdeloseste, ja fast bedrohteste Position bringt: Zahle so viel, wie dieses Dokument von dir fordert, sonst schicken wir dir auch noch die Steuerprüfung hinterher, denn die führt in den meisten Fällen dazu, dass es noch mehr wird.
Steuern sind Zahlungen für staatliche Leistungen – das ist das gängige Bild in der Schweiz. Man bekommt hier etwas für sein Geld – und weiss das auch. Der emanzipierte Bürger ist jedenfalls nicht bereit, einen willkürlichen Prozentsatz seines Einkommens dem Fiskus abzuliefern, ohne zu wissen, was er dafür erhält. Ist das in Deutschland anders?
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Steuern zu deuten: Entweder sind es Preise für Staatsleistungen. Dann wären wir Steuerzahler. Wirkliche Zahler im vollen Sinn des Wortes. Oder aber wir sind, wenn sich die Leistung der Gegenseite nicht objektivieren lässt, Steuerspender oder Steuergeber: Donors. In diesen beiden Positionen drückt sich ein starkes Gemeinwesenverhältnis seitens des zahlenden Bürgers aus. In unserer deutschen Tradition hingegen wird der Bürger in der Position des Steuerzahlers immer noch in die Rolle des Untertanen zurückversetzt. Hierin ist der sozialpsychologische Hauptfehler unseres Systems zu sehen. Ich denke, an der Korrektur dieser Fehlkonstruktion zu arbeiten, auch mit den Mitteln der sozialphilosophischen Besinnung, ist ein lohnendes und notwendiges Projekt.
Diese Arbeit dürfte aber, sollte sie jemals erfolgreich sein, noch ein paar Jahrhunderte in Anspruch nehmen.
Nun, es müssen nicht noch zwei Eiszeiten kommen, bis wir so weit sind, aber es kann ein paar hundert Jahre dauern, ja. Man darf nicht vergessen: Seit 3000 Jahren, also seit das Monstrum des nehmenden Staates existiert, ist in den Menschen eine tiefe Resi-gnation gegenüber der nehmenden Hand des Fiskus eingeprägt. Benjamin Franklin wusste genau, was er sagte, als er in einem Privatbrief an einen Freund im Sommer des Jahres 1789 – übrigens vier Wochen vor der Französischen Revolution – schrieb, und das ist einer der luzidesten Sätze, die ich überhaupt in der ökonomischen Literatur je gefunden habe: «In this world nothing can be said to be certain, except death and taxes.» In dieser niederen Welt gibt es nur zwei Dinge, auf die du dich zu 100 Prozent verlassen kannst: dass man sterben und dass man Steuern bezahlen muss. Das heisst, für den durchschnittlichen Menschen liegen bis heute der Tod und das Finanzamt in derselben Resignationskategorie. Aber Sie haben recht: an der Überwindung dieser Resignation zu arbeiten, ist wirklich ein Jahrhundertprojekt. Daran mitzuwirken, dass Steuerleistungen nicht mehr nur automatische Abschöpfungen und Umverteilungen bleiben; dass das Geld in öffentlicher Hand nicht «Staatsknete» ist, wie wir in der 68er Bewegung zu sagen pflegten, wovon man schon als jugendlicher Sozialhilfeempfänger so viel wie möglich abzapfen wollte, sondern dass die Steuerzahlung zu einer Gabe-Geste wird und dass damit der Zufluss aus dem Meinigen ins Gemeinsame von jedem einzelnen, der zahlt, mitempfunden wird; dass also bei jeder Einzahlung in die Gemeinwesenkassen auch der Fingerabdruck der gebenden Seite wieder spürbar wird – das sind wichtige sozialpsychologische Reformen, ohne welche die modernen Demokratien zu Fiskokratien regredieren. Im übrigen würde das automatisch zu einer Sanierung der Staatsfinanzen führen. Der Staat dürfte sich in der Aussicht auf künftige Steuern nicht mehr verschulden. Sie können Geschenke oder Gaben, die erst erwartet werden, rechtlich gesehen nicht im voraus beleihen. Das wäre so, als wolle man ein Weihnachtsgeschenk weiterverschenken, bevor man es bekommen hat.
Aller Enthusiasmus in Ehren, aber es sieht doch momentan nicht so aus, als würde die staatliche Schuldenorgie in absehbarer Zeit ihr Ende finden. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Es hat sich vor einem deutschen Gericht vor einiger Zeit ein Vorgang zugetragen, der mich zuversichtlich stimmt: Da hat ein Autofahrer in einer deutschen Kleinstadt an der Ausfahrtsstrasse ein fest montiertes Radarsystem zerstört, vermutlich durch eine Unachtsamkeit beim Lenken seines Fahrzeuges. Daraufhin hat die Gemeinde von dem Autofahrer für die sechs Wochen Ausfallzeit, in der das Radarsystem nicht funktionierte, einen Schadenersatz von 100 000 Euro gefordert. Ein deutsches Gericht hat den Anspruch der Gemeinde verneint mit dem Argument, dass der Staat keine Gewinnerwartungen auf noch nicht begangenen Straftaten seiner Bürger begründen dürfe. Ich muss sagen, das hat mein Vertrauen ins Rechtswesen deutlich gestärkt. Denn wenn der Staat erst abwarten muss, ob er von den Bürgern etwas kriegt, ist sein Verschuldungsrecht geschmälert und er darf künftige Steuerzahlungen nicht so behandeln, als wären es schon sichergestellte künftige Schulden des Bürgers.
Sie erkennen also erste Risse im Bild des Fiskaletatismus?
Der Staat hat tatsächlich viel von seinem autoritären, paternalistischen Habitus abgelegt, er hat auch seine Aura der Erhabenheit weitgehend abgebaut – in dem Punkt waren gerade die Schweizer führend, weil sie den erhabenen Staat schon früher als andere auf ein pragmatisches Format reduziert sehen wollten. Genau das gehört zu den Tugenden direkter Demokratie: dass man die Aufrichtung des sakralen Monstrums, das sich Staat nennt, hier nicht mehr dulden wollte. Friedrich Nietzsche war in diesem Punkt ganz auf der Schweizer Seite des Empfindens, wenn er in seinem «Zarathustra» die Formulierung wagte: der Staat, das kälteste aller Ungeheuer. Das ist ein perfekter Helvetismus.
Hoffen wir’s. Eine letzte Frage: würden Sie sagen, dass Sie in einem gewissen Sinne altersradikal geworden sind? Das ist ein Wort, das in einer Notiz von «Zeilen und Tage» auftaucht; Sie schildern, wie Sie in den Spiegel blicken und plötzlich denken: Mir blickt Altersradikalität entgegen.
Die, lieber Herr Scheu, kommt erst noch.