
«Das Leben wäre langweilig, wenn es keine Verrückten gäbe»
Das Verlassen der Komfortzone mache einen stärker, sagt Extremausdauersportler Jonas Deichmann. Aus Sicht des Psychologen Allan Guggenbühl fehlt Jugendlichen oft genau das: die echte Herausforderung.
Das vollständige Gespräch ist auch als Podcast verfügbar.
Jonas, du hast 120 Ironmen an 120 aufeinanderfolgenden Tagen absolviert. Das heisst: jeden Tag 4 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Velofahren und dann noch einen Marathon laufen. Welcher Tag war der härteste?
Jonas Deichmann: Die ersten drei Tage waren noch locker. Dann kam die Erschöpfung – es sind ja doch 13 bis 14 Stunden Sport täglich. Es gab dann eine Adaptionsphase um die Tage 5 bis 8, in der sich der Körper anpasst. Das waren die härtesten Tage. Natürlich gab es auch danach noch Rückschläge und Wehwehchen. Die grosse Herausforderung ist, nicht an die noch verbleibenden 115 Ironmen zu denken, wenn einem nach 4 oder 5 bereits alles wehtut. Stattdessen gilt es, fest daran zu glauben, dass es besser wird. Und das wird es tatsächlich.
Ist es auch eine psychologische Herausforderung?
Deichmann: Definitiv. 20 Prozent sind Kopfsache. Ich bin bedingungsloser Optimist und glaube daran, es werden bessere Zeiten kommen. Das lernt man durch den Extremsport.
Als Laie stellt man sich die Frage: Wie kommt man überhaupt auf eine solche Idee?
Deichmann: Das ist ein Prozess. Ich bin ja nicht irgendwann aufgewacht und habe gedacht: «Ich mache 120 Ironmen hintereinander.» Tatsächlich habe ich mein ganzes Leben lang viel Sport gemacht. Früher bin ich Radrennen gefahren und habe irgendwann angefangen, Fahrradweltrekorde aufzustellen. Dann habe ich einen Triathlon rund um die Welt gemacht. Irgendwann kam der Punkt, wo ich wissen wollte, was machbar ist. Für einen Ultraausdauerathleten ist die Ironmandistanz die Königsdisziplin. Daher kam ich zu der Frage: Schaffe ich den Weltrekord für die meisten hintereinander?
Allan Guggenbühl, wie bewertest du das aus psychologischer Sicht? Ist jemand, der 120 Ironmen am Stück macht, verrückt?
Allan Guggenbühl: Verrückt ist er natürlich in dem Sinn, dass er etwas macht, was nicht der Normalität entspricht. Psychologisch gesehen ist er nicht verrückt, sondern er lässt sich von einer Idee, einer Fantasie leiten. Das, was Jonas macht, können die allerwenigsten. Allerdings zeigt es gut auf, dass man viel mehr kann, als man denkt. Bei dieser Herausforderung ist es wichtig, nicht gleich auf die Körpersignale einzugehen, sondern zu denken: «Es geht noch mehr.» Das ist mentale Stärke.
Deichmann: Die Frage ist ja immer: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Bei Firmenvorträgen frage ich oft: «Wer von euch kann morgen einen Marathon laufen?» Nur wenige Hände gehen hoch. Dabei frage ich nicht nach der Zeit, sondern nur danach, wer 42 Kilometer laufen kann. Ich behaupte: Das kann jeder gesunde Mensch. Es ist eine Frage der Grundhaltung. Sagt man sich «Das schaffe ich nicht, das habe ich noch nie gemacht»? Oder aber «Das habe ich noch nie gemacht, dann bin ich noch nie gescheitert – also geht’s wahrscheinlich»?
Allan, bist du schon mal einen Marathon gelaufen?
Guggenbühl: Ich bin ein Mountainbiker, kein Läufer. Beim Velofahren erlebe ich ähnliche Herausforderungen. Wenn ich einen Berg überwinden muss, kommen Phasen, wo ich denke: «Das geht nicht, ich kann nicht!» Da muss ich mir selbst befehlen: «Doch, es geht! Easy!» Einfach langsam vorwärtskommen, dann geht es wieder. Das Gleiche gilt für stressige Tage: Pausen machen, Tempo reduzieren und die innere Ruhe bewahren.

Jonas, wie hast du gemerkt, dass du deutlich mehr kannst? War das beim Sport oder auch bei anderen Dingen? Was du tust, halten die meisten Leute für total extrem.
Deichmann: Schon in der Jugend habe ich viel mehr Sport gemacht als alle anderen. Das war immer meine grosse Leidenschaft. Die Erfolgsfaktoren sind überall die gleichen: Ob man Kinder grosszieht oder ein Unternehmen gründet, man muss mit Rückschlägen umgehen können und dranbleiben. Auf dem Sofa hat noch keiner mentale Stärke entwickelt. Diese entwickelt man nur, wenn man seine Komfortzone verlässt.
Guggenbühl: Das Bewusstsein oder das, was du Komfortzone nennst, wird bestimmt durch die Umgebung, in der man lebt. Sie gibt vor, was als normal und was als absurd gilt. Ich beobachte, dass Jugendlichen oft die Herausforderung fehlt – sie bekommen nur bewältigbare Aufgaben in der Schule. Das ist todlangweilig, gerade für männliche Jugendliche. Vor zwei Wochen arbeitete ich mit einer Schulklasse, die als ununterrichtbar galt. Ich sagte provokativ: «Hört mal, ich arbeite nur mit Gewinnern, nicht mit Verlierern.» Die Reaktion war: «Wir sind keine Loser! Wir wollen Winner sein.» Daraufhin forderte ich: «Dann beweist es: Macht eure Aufgaben und seid pünktlich!» Das hat sie gepackt. Oft fehlt genau das: eine echte Herausforderung zu stellen, die ausserhalb der Komfortzone liegt. Viele Jugendliche brauchen und suchen genau dieses Prinzip. Man muss etwas verlangen, von dem man denkt: «Das geht doch nicht!»
«Auf dem Sofa hat noch keiner mentale Stärke entwickelt. Diese
entwickelt man nur, wenn man seine Komfortzone verlässt.»
Jonas Deichmann
Man spricht von der sogenannten Generation Schneeflocke, die nicht widerstandsfähig sei, da sie kaum mit Herausforderungen konfrontiert sei. Auch Eltern und Lehrer scheuen sich davor, wirklich etwas zu fordern, aus Angst vor Überforderung.
Deichmann: Die aktuelle Pädagogik mit Coaching und selbst gesetzten Lernzielen führt dazu, dass Jugendliche in ihrer Komfortzone bleiben. Da braucht es Personen, die sagen: «Das fordere ich von dir! Doch, du kannst es!» In Deutschland diskutiert man darüber, bei den Bundesjugendspielen den Wettbewerb durch Abschaffung der Noten abzuschwächen. Gerade im Sport ist aber offensichtlich, dass es Gewinner braucht. Durch solche Herausforderungen habe ich persönlich Ehrgeiz entwickelt – etwas, das der Generation Schneeflocke zunehmend fehlt.
Guggenbühl: Wir sind natürlich auf sozialen Ausgleich bedacht und müssen denen helfen, die es nicht können. Das ist richtig und muss bei Menschen mit Handicap berücksichtigt werden – aber es darf nicht das Leitbild werden. Wettbewerb ist nicht schlecht, Wettbewerb braucht es! Da gibt es Winners and Losers, aber das ist nicht so schlimm. Man verliert halt mal. Sich zu messen, mehr zu fordern, als man denkt, man kann, ist etwas ganz Wichtiges. Es ist in meinem Gebiet ziemlich verloren gegangen.
Jonas, du hast einmal erwähnt, dass du die Normalität in unserer Gesellschaft hasst. Was meinst du damit?
Deichmann: Wenn man etwas Aussergewöhnliches macht, ist es erst mal etwas anderes. Du, Allan, hast anfangs gesagt, ich sei im positiven Sinne verrückt. Und das stimmt auch: Das Leben wäre langweilig, wenn es keine Verrückten gäbe. Dieses Raus-aus-der-Komfortzone-Gehen, andere Wege gehen, Fehler machen und daraus lernen – das ist etwas, was in Teilen der Bevölkerung einfach verloren geht.

Klar ist aber auch: Nicht jeder kann ein Leben wie du führen und Abenteuer als Job haben.
Deichmann: Ausser Frage, aber ein Abenteuer muss nicht in einem Zelt in Sibirien geschehen – es kann auch vor der Haustüre stattfinden. Für mich ist ein Abenteuer eine Reise ins Ungewisse – es beginnt da, wo ich nicht weiss, was passiert. Wenn man hier in Zürich lebt, dann nimmt man sich vielleicht einfach mal einen Biwaksack, läuft auf einen Berg in der Umgebung und übernachtet dort. Das wird für viele eine lebensverändernde Erfahrung sein, weil sie etwas machen, was sie noch nie gemacht haben. Es hilft einem für alle Lebensbereiche, weil es einem Mut gibt und Ängste nimmt.
Du hast vorhin etwas beschönigend von «Wehwehchen» gesprochen. Was waren das für Herausforderungen?
Deichmann: In den ersten Tagen hatte ich massiven Muskelkater und war fix und fertig. Der ganze Körper dachte nur: «Was tust du mir an?» Aber dann wurde es besser und der Körper passte sich an. Da ich seit vielen Jahren trainiere, war die Basis da. Es gab Zeiten, da ging’s mir super. Natürlich hatte ich auch Herausforderungen: zweimal eine Knieentzündung, zweimal einen Hexenschuss, eine Erkältung, eine Achillessehnenreizung. Aber ich habe weitergemacht und alles immer wieder wegbekommen. Ich kann über mein Pech jammern, aber das ändert nichts. Ich akzeptiere es, schaue nach vorne und konzentriere mich auf die Dinge, die ich beeinflussen kann: Heute den Ironman so gut wie möglich beenden und dann maximal regenerieren für morgen.
Könnte man sagen, dass das, was du machst, im Prinzip sinnlos ist?
Deichmann: Überhaupt nicht, für mich macht es einen Sinn. Es ist meine grosse Leidenschaft und ich bin glücklich dabei. Das ist am Ende, was zählt.
Aber machst du es für dich, weil es dir Freude macht, oder steht etwas Grösseres dahinter?
Deichmann: Beides. Zum einen geht es um die Leidenschaft für die Bewegung an der frischen Luft, in neuen Ländern und Gegenden. Ich erlebe bei so einem Projekt in ein paar Wochen mehr als andere Menschen in einem Jahr. Es ist eine persönliche Herausforderung, für die es sich zu kämpfen lohnt. Ich wache jeden Morgen auf, um die beste Version von mir zu sein. Darüber hinaus hat es einen tieferen Sinn: Bei meinem letzten Projekt haben Tausende mitgemacht – viele liefen ihren ersten Marathon oder Ironman. Menschen zum Sport zu bewegen und zu motivieren, ihre eigenen Grenzen zu verschieben, das bedeutet mir unglaublich viel.
Guggenbühl: Es geht ja im Leben darum, was wir in den 70, 80, 90 Jahren machen, die wir auf diesem Planeten haben. Ich empfinde die Tendenz, Materielles um sich anzuhäufen, als sinnlos. Leute krampfen sich ab für Ferienhäuser und Luxusautos, aber warum? Man kann ja nichts mitnehmen am Schluss. Die Sinnfrage stellt sich immer in der persönlichen Auseinandersetzung mit sich selbst. Man wird nicht glücklicher durch materielle Dinge allein – Körper und Geist müssen miteinbezogen werden. Wir neigen dazu, uns durch Nebensächlichkeiten abzulenken.
«Ich wache jeden Morgen auf, um die beste Version von mir zu sein.»
Jonas Deichmann
Was auffällt: Die meisten Pioniere und Menschen, die Extremleistungen vollbringen, sind Männer. Stimmt das?
Guggenbühl: Historisch betrachtet haben Frauen die wichtige Aufgabe, Kinder auf die Welt zu bringen. Aber Männer lassen sich stärker von grandiosen Fantasien beeinflussen. Das sehe ich bei den Jungen, mit denen ich als Therapeut arbeite: Sie wollen Influencer sein, Millionäre mit 20 oder bei Real Madrid spielen. Diese Fantasien werden zu 90 Prozent nicht realisiert, aber sie erzeugen Energie. Die Grandiosität ist etwas, das Knaben und Männer auszeichnet – sie definieren sich über grosse Fantasien.
Deichmann: Natürlich gibt es körperliche Unterschiede bei der Ultralangdistanz. Wenn es dann aber ums reine Durchhalten geht, sind Frauen in vielerlei Hinsicht besser. Bei meinem letzten grossen Projekt haben Leute nicht nur einen, sondern gleich drei Ironmen hintereinander mitgemacht. Die Finisherquote bei den Männern war 60 bis 70 Prozent, bei den Frauen fast 100. Frauen gehen überlegter an solche Herausforderungen heran, während Männer eher spontan sagen: «Das probiere ich jetzt aus.»
«Die Grandiosität ist etwas, das Knaben und Männer auszeichnet – sie
definieren sich über grosse Fantasien.»
Allan Guggenbühl
Allan, du hast in einem Essay für den «Schweizer Monat» geschrieben: «Auffallend bei Männern ist, dass sie ihre Tätigkeiten und Aufgaben in einen erweiterten Kontext stellen und sich innerlich in eine übergeordnete Szenerie versetzen. Sie vertreten eine übergeordnete Idee oder versetzen sich in einen imaginierten, oft grandiosen Kontext.» Jonas, erkennst du dich da wieder, wenn du sagst «Ich will nicht einfach laufen oder Velo fahren, sondern ich will Rekorde aufstellen»?
Deichmann: Meine ersten Projekte habe ich nicht für die Öffentlichkeit oder als Job gemacht – es war reine Leidenschaft. Mittlerweile lebe ich davon. Aber die wichtigste Frage bleibt: «Würdest du es auch machen, wenn es nicht dein Job wäre und es niemanden interessieren würde?» Die Antwort muss immer Ja sein. Was mich bei solchen Projekten motiviert, sind die Herausforderungen. Eine einfache Fahrradreise wäre mir zu langweilig – ich brauche eine echte Aufgabe, zum Beispiel einen sportlichen Rekord. Etwas, das machbar ist, aber sehr schwierig zu vollenden. Ich will, dass ich für die Vollendung alles geben muss und dass ich auch scheitern kann.