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Das Internet wird zu einer politischen Waffe

Wer hat eigentlich kein Handy? Und wer hat noch nie versucht, über Chat oder Social Network zu kommunizieren? Es ist klar: die unzähligen Neuentwicklungen im Bereich der Kommunikation fördern die Vernetzung untereinander; und die Vernetzung hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten stärker verändert als in den Jahrhunderten zuvor. Das neu entstandene Bedürfnis nach Dauerverbindung […]

Wer hat eigentlich kein Handy? Und wer hat noch nie versucht, über Chat oder Social Network zu kommunizieren?
Es ist klar: die unzähligen Neuentwicklungen im Bereich der Kommunikation fördern die Vernetzung untereinander; und die Vernetzung hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten stärker verändert als in den Jahrhunderten zuvor. Das neu entstandene Bedürfnis nach Dauerverbindung zu allem und jedem könnte eine Reaktion auf die Entfremdung und Vereinsamung der modernen «unabhängigen Individuen» sein. Die reale Gesellschaft nämlich zerfranst.

Die Freiheit und die Demokratie des Internets haben in jenen Ländern, in denen es frei zugänglich ist, gleiche Möglichkeiten für viele geschaffen. Blogger können sich darstellen und mitteilen, über Themen, die nur sie selbst bestimmen. Sie können sich überlegen, wie sie ihr eigenes Image und Glück gestalten wollen, nur aufgrund ihres Talents, ohne dabei auf Zwischenhändler angewiesen zu sein. Künftige Stars werden neuerdings deshalb bereits im Kindesalter entdeckt – und zwar aufgrund ihres Wohnzimmerauftritts in einem selbst hochgeladenen Film auf einer Online-Videoplattform.

Die Frage ist: fühlen wir uns durch diese permanenten Partizipations- und Interaktionsmöglichkeiten psychologisch verpflichtet, immer und überall erreichbar und online zu sein, um das Gefühl der Gemeinschaft, sozusagen einer einzigen grossen Familie zu empfinden? «Stop calling me, I’m kind a busy» singt US-Popstar Lady Gaga und bringt es damit auf den Punkt. Das Ausschalten des Handys und die damit verbundene Unerreichbarkeit für einige Tage sind zu einem Luxus geworden. Was vor 40 Jahren noch völlig normal war, können sich heute nur noch wenige, sozusagen in der Realität verankerte Menschen leisten. Wenn der Chef also mitten in der Nacht auf Ihrem Blackberry anruft und Sie es nicht sehen – Ihr Fehler!

Damit taucht eine weitere Frage auf: Gibt es jemanden, der von unserem Bedürfnis nach Erreichbarkeit profitiert? Unsere Handys übermitteln unsere gegenwärtige Position an den Mobilfunkanbieter, selbst wenn sie ausgeschaltet sind. Damit sind wir überall und immer auffindbar, auch wenn wir das vielleicht nicht wollen. Das ist ein unbehagliches Gefühl. Paradoxerweise entscheiden wir uns aber auch oft genug dafür, unseren Aufenthaltsort mit Freunden freiwillig auszutauschen und zu teilen. Soziale Netzwerke zeigen unsere Meinungen über Statusmeldungen und Fanseiten. Was beim Musikgeschmack beginnt, erstreckt sich über Güter und Dienstleistungen und endet mit politischen Präferenzen.

Wir geben viel preis. Und der Punkt ist: wir tun dies, ob wir wollen oder nicht. Google ist symptomatisch, wenn es Statistiken über unser Such- und Konsumverhalten indexiert, verarbeitet und nicht nur theoretisch dazu in der Lage ist, Suchergebnisse «in unserem Sinne» zu manipulieren. Der Onlinedienst zeigt uns und unsere Lebenswelt nun gar auf einer 3-D-Karte – was dann wiederum als aufdringlich und sogar als potentiell gefährlich empfunden wird. Haben wir also überhaupt noch die Freiheit, zu entscheiden, was wir zeigen und was wir verstecken wollen? Ist Big Brother zu unserer Realität geworden?

Der Unterschied zwischen der Welt Huxleys oder Orwells und unserer besteht darin, dass nicht nur die Regierungen imstande sind, uns zu überwachen und zu kontrollieren. Es funktioniert auch andersherum: jede Person kann sich heute Gehör verschaffen – und das leichter und mit einem grösseren Publikum als je zuvor. Julian Assange und die «arabischen Revolutionen» sind Beweise dafür, wie schnell Einzelpersonen neuerdings ganze Nationen erreichen, aufklären oder verunsichern können. Die weltweit ausstrahlende Kontroverse wird also nunmehr im Netz angestossen – aus dem «Bullshitreservoir» Internet ist damit nicht bloss ein unendlicher Kreativpool geworden, sondern eine politische Waffe. Wollen wir lernen, wie man sie bedient?

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