Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
«Das ‹Hiltl› war nie mit erhobenem Zeigefinger unterwegs»
Rolf Hiltl, zvg.

«Das ‹Hiltl› war nie mit erhobenem Zeigefinger unterwegs»

Rolf Hiltl besitzt in Zürich das weltweit älteste vegetarische Restaurant in vierter Generation. Während das Vegetarierheim und Abstinenzcafé seiner Urgrosseltern belächelt wurde, boomen die fleischlosen Lokale heute.

 

Sie sind Gemischtköstler. Was ist Ihr liebstes Fleischgericht?

Rindstatar. Das vegane Hiltl-Tatar ist aber mindestens so gut, weswegen es keinen grossen Unterschied macht.

Ein französisches Gericht. Was halten Sie von der Schweizer Küche?

Ich bin Schweizer und habe meistens in der Schweiz gelebt. Die Schweizer Küche ist eine gute, solide Küche, wenn auch nicht gerade die leichteste, da tendenziell sehr milch- und käselastig. Aber sie hat durchaus tolle Gerichte – ­Gehacktes mit Hörnli und Apfelmus mag ich auch in der veganen Variante sehr gern.

Haben Sie einen besonderen Bezug zur hiesigen Küche?

Eine Food-Nation wie Frankreich oder Italien sind wir eher keine. Sobald ich aber in den Bergen bin, geht eigentlich nichts anderes als Schweizer Küche.

Sie essen Fleisch, das Familienunternehmen ist jedoch ­vegetarisch und vegan. Wie war das bei Ihren Vorfahren?

Ganz anders. Mein Urgrossvater war Schneidergeselle aus Bayern und ist als 20-Jähriger nach Zürich gekommen. Er litt bereits jung an Gicht. Ich gehe davon aus, dass er in München viel Fleisch gegessen hat. Darauf hat ihm ein befreundeter Arzt empfohlen, seine Ernährung umzustellen. Das hat er getan, und siehe da, nach drei Monaten war er geheilt! Was ihn zu einem überzeugten Vegetarier gemacht hat, der über 90 Jahre alt wurde. Seine Geschichte dient in unserer Familie als Beweis, dass vegetarische Ernährung sicher nicht ungesund ist.

Wurde das in Ihrer Familie auch als ethischer Anspruch ­weitergegeben?

Ja, wir sind sehr werteorientiert und übernehmen Verantwortung gegenüber der vielfältigen Schöpfung von Mensch, Tier und Natur – in dieser Reihenfolge. Das Tier steht gleich an zweiter Stelle nach dem Menschen, das ist ganz tief drin. Meine Grossmutter hat sich prinzipiell vegetarisch ernährt. Meine Eltern sind aber Gemischtköstler.

Wie häufig essen Sie karnivor?

Ich bin jemand, der ab und zu auch Fleisch isst. Ich werde deshalb teilweise kritisiert von Veganern, die behaupten, ich sei ein Verräter, weil ich das älteste vegetarische Restaurant der Welt besitze, mich selbst aber nicht ausschliesslich vegetarisch ernähre. Ich selbst sehe mich eher als Türöffner für Flexitarier.

Inwiefern?

Das «Hiltl» war nie mit erhobenem Zeigefinger unterwegs, und wird das auch nicht sein. So kommen alle, die Freude an unserer Art von Gastronomie haben, zu uns. Oft merken sie auch gar nicht, dass das, was sie gegessen haben, vegetarisch war, vor allem Touristen. Wenn wir ein gutes ­Schokoladenmousse haben, das vegan ist, und die Leute nehmen das und sagen, dass es lecker sei, dann ist es gut.

Gründungsjahr Ihres Hauses war 1898. Hat irgendein ­Rezept, das damals gekocht wurde, das 20. Jahrhundert ­überdauert?

Ja, seit den 1930er-Jahren haben wir etwa die «ländliche Platte» auf der Karte: Pellkartoffeln mit verschiedenen ­Salaten, Käse und Butter – ein Klassiker bei uns. Ich werde oft gefragt, ob mein Urgrossvater Veganer gewesen sei. Dieses Wort gibt es allerdings erst seit den 1950er-Jahren und stammt aus England. Ich habe mir diesbezüglich die historischen Speisekarten angeschaut. Es gab damals viel Rohkost und eine Menge vegane Gerichte, die Unterscheidung wurde aber nicht strikt gemacht.

Der erste Spitzname – oder besser Schimpfname – des Restaurants war «Wurzelbunker». Was waren die ersten Reaktionen auf das Restaurant in Zürich?

Zu Beginn galt das Haus als Zentrum für Spinner, es war äusserst verschrien. Gerade ist der Film «Monte Verità» ­erschienen, den wir unterstützt haben und der sich der ­damaligen Stimmung widmet. In der Aussteigersiedlung im Tessin lebten eben nicht totale Spinner, sondern Jetsetter – reiche Menschen, die einfach genug hatten von der Tradition, der Völlerei und den gesellschaftlichen Zwängen. Mein Urgrossvater wurde gehänselt, weil er in den 1950er-Jahren ein vegetarisches Restaurant hatte. Das war lange so.

«Eine Food-Nation wie Frankreich oder

Italien sind wir eher keine.

­Sobald ich aber in den Bergen bin,

geht eigentlich nichts anderes als Schweizer Küche.»

Ein anderer Name war «Vegetarierheim».

Das hiess offiziell so. «Wurzelbunker» war der Spitzname, der offizielle Name hingegen «Vegetarierheim & Abstinenzcafé». Ich weiss nicht, wie die Namen damals klangen, heute wirken sie ganz schräg. Wobei: Das könnte man heute fast wieder bringen, «Abstinenzcafé» wäre doch ein cooler Name für eine Bar. Andere Zeiten, andere Sitten.

Weshalb hat sich die Stimmung letztlich gewandelt?

Als in den 1990er-Jahren die Tierskandale rund um Tiermehl und Rinderwahn diskutiert wurden, waren wir ­eigentlich das einzige vegetarische Restaurant in Zürich. Jedes Mal, wenn ein neuer Artikel dazu erschien, erhielten wir enormen Zulauf. Ich kann mich daran erinnern, dass ich oft vor dem Haupteingang stand und den Leuten sagen musste: «Sorry, es ist voll.» Das waren Zeiten! Mittlerweile haben auch andere gemerkt, dass ein vegetarisches Restaurant funktioniert. Heute will jeder auf der pflanzlichen Welle mitreiten.

Sie leiten das Familienunternehmen in vierter Generation und haben Kinder. Gibt es eine Nachfolgeregelung?

Ich bin jetzt 56, habe zwei Töchter und einen Sohn. Die Nachfolge will ich nicht regeln, bevor ich nicht weiss, ob sie wollen und können. Als Inhaber und Vater in einem ­Familienbetrieb habe ich kein Recht, ein Kind zu lenken oder zu zwingen. Es muss sehr organisch geschehen. Uns gibt es schon seit bald 125 Jahren. Jeden Generationenwechsel muss man sehr gut vorbereiten. Man muss sehr ­filigran sein. Seit bald einem Jahr führen unsere drei Co-Geschäftsführer den Familienbetrieb und sie machen das wirklich sehr gut.

Wie steht es um den Wirtschaftsstandort Schweiz?

Ich bin Zürcher, lebe hier seit klein auf und schätze es sehr, dass man mit dem Fahrrad locker durch die Stadt radeln kann. Die Verbesserungen für Velos sind sicher begrüssenswert. Was ich hingegen nicht verstehe, ist, wieso jemand nicht mit dem Ferrari in die Stadt fahren sollte, wieso man das erschwert. Fast alle Städte in der Schweiz sind schon seit Jahren rot-grün regiert. Neben der Verkehrs­politik ist ein anderes Problem, dass die Verwaltung sehr viel Personal hat und sich zu sehr mit sich selber beschäftigt. Die Bürokratie ist enorm. Eine Baugenehmigung ­bedarf eines enormen Aufwands, eines Stapels von Ein­gaben. Wenn man ein Restaurant baut wie wir und für Jahrzehnte Millionen investiert, dann geht man ein hohes Risiko ein und hat sehr viele Vorschriften. Wenn man dagegen für einen Monat ein Pop-up-Restaurant eröffnet, kann man zwischendurchrutschen. Das ist viel einfacher, aber leider nicht sehr nachhaltig.

Die Schweizer Städte sind links-grün orientiert. Bringt das mehr Veganer hervor?

Fahrradfahrer sind eher Veganer als die, die mit dem Porsche fahren, wobei sich heutzutage die Dinge verwischen. Ich finde, es sollte ausgewogen sein und jede Extremität ist für mich schwierig. Wir funktionieren sehr gut in den ­Städten, deswegen haben wir in Zürich mehrere Standorte. Mit unseren Partnerlokalen tibits sind wir immer in die Städte gegangen, obwohl das Vegetarische mittlerweile auch auf dem Land angekommen ist.

Ist Essen auch politisch?

Leider ja. Es ist überhaupt nicht in meinem Sinn, denn bei uns geht es um gesunden Genuss. Ich finde es nicht gut, wenn Essen politisch missbraucht wird. Unser Buffet ist zu 80 Prozent vegan. Und es wird immer stärker so, es wird laufend veganisiert. Das kommunizieren wir nicht. Das interessiert die Veganer, klar, den Mainstream aber nicht – die Leute wollen einfach gut essen.

An der Erfolgsgeschichte von Hiltl und tibits zeigt sich, dass ausgerechnet die Käsenation Schweiz viel Innovation im ­Fleischersatz-Segment birgt. Die Firma Planted ist ein weiteres Beispiel.

Stimmt. Unser erster Vegiburger ist übrigens von 1970, den hat mein Vater schon gemacht. Kulinarische Traditionen gehen sehr tief, sie sollen anscheinend über sieben Generationen bleiben. Wenn also dein Ururgrossvater etwas mochte, dann hast du es irgendwie auch gern. Dass das hier im Fleisch-, Milch- und Käseland Schweiz so ein Erfolg ist, ist schon erstaunlich. Die vegane Idee entsteht nur in hochentwickelten Zivilisationen mit entsprechender Kaufkraft.

Was sind die Perspektiven der fleischlosen Küche?

International ist das eine Riesensache. Die Zukunft liegt ganz klar dort. Ich bin deswegen tiefenentspannt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Nur ein Beispiel: Nach den ­Friday-for-Future-Demonstrationen hatten wir die höchsten Umsätze. Man kann natürlich nicht für das Klima demonstrieren und dann zu McDonald’s gehen. Und wenn ein Daniel Humm vom «Eleven Madison Park» in New York als einer der besten Köche der Welt sein ganzes Lokal auf Pflanzlich umstellt, dann ist das eine klare Ansage.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!