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Das hässliche Entlein als Flaggschiff

Es mag Produkte mit mehr Sexappeal geben. Wenn es ums Geschäft geht, macht dem Stützstrumpf so schnell aber kein Kleidungsstück etwas vor: Seit 50 Jahren beflügelt die Kompression den Gang der Traditionsfirma Sigvaris. Ein Gespräch über die Innovationskraft von Krisen und die Beinform der Bayern.

Das hässliche Entlein als Flaggschiff
Stefan und Christian Ganzoni, photographiert von Giorgio von Arb.

Stefan und Christian Ganzoni, Sie sind Eigner eines seit 150 Jahren bestehenden Familienunternehmens: Verstehen Sie sich in dieser Position als Patrons?

Stefan Ganzoni: Heute fast mehr als früher. 2010 ist Christians Bruder aus der Firma ausgestiegen und wir beide mussten dann zum ersten Mal entscheiden, was wir machen wollten: Bis dahin war das Unternehmen quasi ein «Geschenk». Als wir dann aber beschlossen, das frei werdende Aktienpaket zu übernehmen, sprich: Geld aufzutreiben und uns zu verschulden, änderte sich dadurch auch mein Selbstverständnis als Eigner.

Inwiefern? Führte das höhere Investment zu tieferer Verbundenheit?

SG: Zu einer anderen Verbundenheit, würde ich sagen.

Christian Ganzoni: Ich glaube, wir beide versuchen Patrons zu sein, indem wir Präsenz markieren, also die Nähe zu den Mitarbeitenden suchen, uns etwa an allen möglichen Treffen und Essen zeigen – das ist extrem wichtig und wird auch sehr geschätzt. Und natürlich habe ich seit je gerne an unserem «patrimoine» gearbeitet, es verwaltet und zu vermehren versucht.

SG: Mein Vater war noch ein Patron im klassischen Wortsinn, wie man ihn aus dem 19. Jahrhundert kennt: ein Schwergewicht mit allem, was dazugehört. So habe ich mich nie verstanden, für mich spielt der Begriff auf der Ebene der Werthaltung. Als Patron versuche ich, Werte vorzuleben, die die Firma prägen sollen: Auf dem Teppich bleiben, anständig bleiben, bescheiden bleiben.

«Wert» ist ein ebenso grosses wie unscharfes Wort. Können Sie ein Beispiel eines Werts geben, der Ihr Alltagsgeschäft konkret prägt?

CHG: Die unternehmerische Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die in unserem Familiencredo festgeschrieben ist, zum Beispiel.

SG: Deutlicher formuliert: Es gibt keine mittel- oder langfristigen Bankkredite in unserer Firma. Seit einem halben Jahrhundert ist Schritt um Schritt alles nur gemacht worden, wenn es bar bezahlt werden konnte, wenn eine solide Aufstellung es erlaubte. Das Credo meines Vaters lautete: Hände weg von den Banken! Das haben wir bis heute befolgt, sind damit gut gefahren – und so soll es auch bleiben.

Zusammen mit dem Begriff des Patrons, der sich in Abgrenzung zum Manager wieder zu etablieren scheint, haben auch die Familienunternehmen als solche zurzeit viel gute Presse. Üblicherweise hat man dabei lineare Vater-Sohn- oder bestenfalls -Tochter-Abfolgen im Kopf, Ihr Stammbaum hingegen ist etwas komplexer…

CHG: …nein, es ist ganz einfach: Stefans Vater ist mein Grossvater.

SG: Ich bin Christians Onkel, sein Vater ist mein Bruder.

CHG: Halbbruder!

…respektive sehr komplex. Bitte langsam, zum Mitschreiben!

SG: Gut – aber es ist eigentlich wirklich simpel: Ich entstamme einer «unkonventionellen» Beziehung. Jahre nach der Gründung seiner ersten Familie hat mein Vater – der Patron – aus einem später legalisierten Verhältnis mit seiner Sekretärin nochmals drei Kinder bekommen; das jüngste davon bin ich. Ich gehöre also zur vierten Generation, bin aber in etwa gleich alt wie Christian, der als Enkelkind aus der ersten Familie schon zur fünften gehört. Mein Vater war immer darauf bedacht, die zwei Stämme zusammenzuhalten, weshalb wir beide auch seit je ein enges und gutes Verhältnis zueinander haben.

Das ist quasi Patchwork avant la lettre. Wie wirkt sich diese Komplexität – und heutige gesellschaftliche Realität! – auf das Funktionieren des Modells «Familienunternehmen» aus?

CHG: Ob Patchwork oder nicht, ich glaube, es gilt ganz grundsätzlich: Je mehr Fami-
lienmitglieder, desto schwieriger!

SG: Ich verstehe die Familie als Mikrokosmos – als Raum des ersten sozialen Trainings –, den man auf eine Unternehmung übertragen kann: Die ist ein soziales System wie eine Familie auch; die Familie ist klein, die Unternehmung gross, aber die «comédie humaine» – das Lachen und Weinen, die Tragik und die Emotionen –, die in den beiden Räumen spielt, ist letztlich die gleiche. Vielleicht ist Patchwork das anspruchsvollere Drama, vermutlich ist es dafür aber auch der Wahrheit näher.

Das «klassische» Modell des Familienunternehmens haben Sie auch insofern etwas angepasst, als seit gut drei Jahren ein externer CEO die operative Leitung des Geschäfts innehat. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

SG: Ich habe den Entscheid schon sehr früh für mich gefällt, weil ich spürte, dass neue Herausforderungen – etwa allfällige Expansionen nach Fernost – auf die Gruppe zukommen würden, die nach neuen und jungen Ideen und Impulsen verlangen. Ich hatte den Eindruck, dass mein Ideenreservoir diesbezüglich langsam austrocknete – und überdies auch den Wunsch, mehr Zeit für mich zu haben.

Wie stellen Sie denn nun sicher, dass die externe Person im Interesse der Familie weiterwirtschaftet und das Traditionserbe nicht verspielt, indem sie ihre eigenen In-teressen verfolgt?

CHG: Bei der Rekrutierung des CEO beispielsweise haben wir zur Bedingung gemacht, dass er aus einer Familienunternehmung kommt. Die Personalfrage ist aber ganz allgemein eine der schwierigsten, unsere grössten Herausforderungen drehen sich nicht um Probleme der Markterschliessung, sondern darum, ob wir die richtigen Personen an den Spitzen unserer lokalen Einheiten haben. Diese Leute sind Schlüsselelemente, und auch wenn man sorgfältige Auswahlverfahren durchführt, ist es nicht auszuschliessen, dass man sich täuscht.

Freilich sind in Personalfragen auch Blutsbande keine Erfolgsgaranten.

SG: Völlig richtig. Ein Vertreter der Familie hat auf lokaler Ebene einfach einen gewissen «patronalen Vorschuss» – die Leute vertrauen darauf, dass er als «einer von denen» schon weiss, was zu tun sei.

Sie haben beide auch Kinder, ist es Ihr Wunsch, dass eines davon dereinst die Firmenleitung übernimmt?

CHG: Es ist auf jeden Fall unser Ziel, dass das Unternehmen langfristig zum allergrössten Teil in den Händen der Familie bleibt. Dafür müssen unsere Kinder aber die entsprechenden Neigungen, Interessen, Ausbildungen und Hintergründe mitbringen: Wenn eines frisch von der Uni ohne externe Erfahrungen zu uns käme, fände ich das nicht gut. Schliesslich hat ja auch die Firma ihre Ansprüche. Ein Personalentscheid muss nicht nur für die Familie, sondern auch fürs Geschäft gut sein. Bei einigen unserer Nachkommen ist sicher ein Interesse am Unternehmen da; wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

Wenden wir uns derweil Vergangenheit und Gegenwart zu. Einer Chronik habe ich entnommen, dass Ihre Vorfahren vor Jubiläen aufgrund krisenhafter Konstellationen immer wieder unsicher waren, ob die Firma den Tag ihrer Feier überhaupt noch erleben würde. Heuer steht der 150. Geburtstag ins Haus: Wie blicken Sie dem Fest entgegen?

SG: Mit einer gewissen unruhigen Gelassenheit (lacht). Natürlich spüren wir den Euro, die damit einhergehenden Probleme betreffen uns in hohem Masse. Alles in allem dürfen wir aber doch sagen: Das Geschäft läuft immer noch zufriedenstellend. Wir fühlen uns gut gerüstet und können die vergangenen 50 Jahre als wirklich erfolgreich bezeichnen.

Mit dieser Bilanz wird Ihre Firma zu einer veritablen Rarität: Laut Statistik scheitern rund zwei Drittel aller Familienunternehmen in der zweiten oder spätestens dritten Generation und ganze 3 bis 5 Prozent erleben die vierte. Was hat Sie vor dem gängigen Schicksal bewahrt?

SG: Fokussierung und Komplexitätsreduktion.

Was heisst das?

SG: In ihren ersten hundert Jahren war unsere Unternehmung ein Gemischtwarenladen, sie hat querbeet alles gemacht, was irgendwie mit elastischen Textilien zu tun hatte: Schmalband, Breitband, Gummiseile für Segelflieger, Schuhgummi, und hopp, den Hosenträger können wir auch noch! Das ging phasenweise gut, manchmal mässig, mehrmals schlecht, und gegen Ende der 1940er, Anfang 1950er Jahre war die Krise so drastisch, dass etwas Fundamentales passieren oder die Firma eingehen musste. Schnell zeichnete sich ab, dass wir aufräumen mussten. Wir hatten zu viele Produkte in zu vielen Ländern, machten alles ein bisschen und nichts richtig. Von da an und bis heute hat das Unternehmen konsequent und erfolgreich auf ein einzelnes Produkt gesetzt…

…den Stützstrumpf!

Beide: Nein, den «medizinischen Kompressionsstrumpf Sigvaris»! (lachen)

Auf den medizinischen Kompressionsstrumpf, pardon, was ist der Unterschied?

SG: Komprimiert und als «Stützstrumpf» verkauft wird heute überall und alles, Sportartikelhersteller geben Socken heraus, die Muskelschwingungen dämpfen, Strumpfhosenproduzenten verkaufen Artikel, die das Bein straffen – wir aber vertreten in unserem Kerngeschäft ein medizinisches Produkt. Unsere Strümpfe sind nach medizinischen Standards gefertigt, sie müssen strengen technischen Standards genügen und werden deshalb vom Arzt verschrieben. Hinter dem medizinischen Kompressionsstrumpf stehen also eine medizinische Indikation und klinische Studien. Hinter dem Stützstrumpf dagegen stehen Begriffe wie Wohlbefinden oder Modebewusstsein. Auf diesen letzteren Feldern sind wir inzwischen auch tätig, das Herz der Firma bleibt aber das Produkt mit dem wahnsinnig langen Namen (lacht).

Gut. Dieser im Volksmund als Stützstrumpf bekannte medizinische Kompressionsstrumpf jedenfalls scheint Ihrer Schilderung gemäss das Kind einer Krise zu sein. Braucht es wirklich Not, um Neues zu gebären?

SG: Krisis und Katharsis, das sind Lebenszyklen, die wohl tatsächlich zusammengehören – auch wenn ich jetzt um Himmels
willen keine Krise herbeireden will! Sicher hat uns die grosse Krise damals gezwungen, volles Risiko einzugehen und auf
die Nische zu setzen. Wenn Risiko und Mut dazugehören, so ist aber das Gelingen durch sie noch lange nicht gewährleistet, letztlich kann man auch als Unternehmer nicht mehr als gewissenhaft und sorgfältig seine Arbeit machen; Erfolgsgarantien gibt es nie.

Im Fall Ihres Produkts scheint die Erfolgswahrscheinlichkeit aber doch sehr hoch: Indem der Strumpf ärztlich verschrieben wird und die demographische Entwicklung für eine permanent steigende Nachfrage sorgt, befinden Sie sich doch eigentlich in einem recht sicheren Hafen.

SG: Man kann es auch genau umgekehrt sehen. Unseren USA-Chef warnte ich vor
seiner Einstellung einst mit diesen Worten: Wenn du in die Firma kommen willst, musst du wissen, dass wir Produkte machen, die niemand will, und sie an Orten verkaufen, an die niemand freiwillig hingeht. Das stimmt eigentlich noch heute – und ist selbstredend eine unternehmerische Herausforderung.

CHG: Klar ist aber auch, dass wir mit dem Produkt eine gute Chance sehen, das Potential ist vorhanden und sehr gross: Wenn man weiss, dass in der westlichen Hemisphäre 12 Prozent der Menschen an venöser Insuffizienz leiden und das Bewusstsein für die Krankheit allmählich auch in Fernost erwacht – dann ist das ein enormer…sagen wir… «Möglichkeitsraum».

SG: Absolut! Der Glaube an das Potential ist ebenso ungebrochen und zentral wie jener an den Sinn des Produkts. Ich bin überzeugt, dass unser «hässliches Entlein» – das ja inzwischen wunderschön geworden ist, schauen Sie sich nur mal all die verschiedenen Farben an! (lacht) – einen sinnvollen Beitrag zur Gesundheit der Menschen leistet. Diese klaren Visionen helfen, auch mal schwierigere Zeiten durchzustehen. Und die gibt es natürlich auch in der Medizinbranche. Die Medizin kennt Paradigmenwechsel, neue Forschungsergebnisse können bisherige Annahmen in Frage stellen – das ist keine statische Angelegenheit, auch auf diesem Feld ist alles dauernd in Entwicklung… und wir damit.

Nun bin ich – ehrlich gestanden: gezwungenermassen – selber Trägerin Ihres Produktes, muss aber zugeben, dass ich an meinen Strümpfen über die Jahre hinweg keine namhaften Veränderungen feststellen konnte. Wo konkret passieren denn bei Ihnen Entwicklung und Innovation?

SG: Alle Welt spricht von Innovation, doch was ist das eigentlich? Wir haben es einst so definiert: Innovation ist, wenn der Kunde klatscht. Fertig. Und sonst ist es keine. Applaus können nun aber nicht nur Produkte, sondern auch Verfügbarkeiten, Preise, Distributionskanäle und vieles ähnliches mehr finden. Auch in diesen Feldern arbeiten wir intensiv.

CHG: Es stimmt schon: Eine bahnbrechende Erneuerung des Strumpfes hat es in den letzten 50 Jahren nicht gegeben. Hingegen lässt sich die Frage, wo Innovation geschieht, geographisch gut beantworten. Wir setzen auf eine Vierländergruppen-Struktur – wir produzieren in der Schweiz, in Frankreich, in den USA und in Brasilien –, und es sind immer die Leute vor Ort, die das Ohr am Markt haben, wachsam sind und herausfinden und dann auch entwickeln, was die Kunden brauchen – denn den Impuls für die Innovation geben immer die Kunden, und die sind nun mal in verschiedenen Weltteilen sehr unterschiedlich geartet. In den USA sind Beinformen und Bedürfnisse völlig anders als im Bayerischen Wald, und die mokkafarbenen Strümpfe, nach denen die Brasilianer verlangen, interessieren in Frankreich nicht die Bohne, mal ganz abgesehen davon, dass die Damen dort sowieso viel mehr Bein
zeigen als anderswo.

Mit Verlaub: Ein stützbestrumpftes Bein wird doch gerade die modebewusste Französin nicht freiwillig vorzeigen!

SG: Da muss man die Strümpfe dann eben entsprechend feiner und eleganter machen, vielleicht den Druck etwas reduzieren. Der nordische Mensch will offensichtlich mehr leiden und glaubt, dass nicht hilft, was nicht weh tut. Der Franzose hingegen sagt: So etwas ziehe ich nicht an! So werden Produkte auf lokale Mentalitäten abgestimmt, und letztlich ist eigentlich auch die hinter diesen Prozessen stehende Haltung eine Innovation: Wir trauen unseren Mitarbeitenden zu, dass sie die Dinge besser beurteilen können als wir in der Schweizer Zentrale – und lassen sie ihre eigenen Produkte entwickeln und vermarkten, solange sie den lokalen technischen Vorschriften und unseren Standards entsprechen.

Die Institutionalisierung von Innovation gleicht der Quadratur des Kreises. Wie schaffen Sie die?

SG: Festschreiben lässt sich der innovative Geist natürlich nicht, die dezentrale Struktur unserer Firmengruppe leistet aber sicher einen wichtigen Beitrag zu ihrer Lebendigkeit. Leute, die neu in unsere Gruppe kommen, wundern sich zwar immer über unsere Heterogenität, wir sind aber einfach der Überzeugung, dass Harmonisierungen häufig nicht sinnvoll sind.

CHG: Die Dezentralisierung gehört deshalb auch zu unserer formulierten Strategie und ist eine Stärke. Ihr Erfolg steht und fällt aber wiederum mit den Menschen, die sie umsetzen. Wir auf unserer Seite müssen den lokalen Leitern vertrauen…

SG: …und auf lokaler Seite müssen Leute sein, die sich trauen, auch mal quer reinzugehen, zu stören und zu provozieren. Denn nur dann beginnt man zu denken. Nur durch Reibung entsteht Reflexion, nur an Widerstand wachsen Kreativität und Innovation.

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Stefan und Christian Ganzoni, photographiert von Giorgio von Arb.
Das hässliche Entlein als Flaggschiff

Es mag Produkte mit mehr Sexappeal geben. Wenn es ums Geschäft geht, macht dem Stützstrumpf so schnell aber kein Kleidungsstück etwas vor: Seit 50 Jahren beflügelt die Kompression den Gang der Traditionsfirma Sigvaris. Ein Gespräch über die Innovationskraft von Krisen und die Beinform der Bayern.

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