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Das grosse Freudenfeuer

In ihrer Mitte haben sie freien Platz gelassen. Zu Dutzenden sind sie am 11. Februar 2011 herbeigeeilt, um das Auflodern des Feuers auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu feiern. Ein beleibter Mann im dunklen Kapuzenshirt reckt begeistert die Fackel in die Höhe. Ein zweiter, von dem nur Schulter und Kappe zu sehen sind, tut es […]

Das grosse Freudenfeuer
(c) Jonathan Rashad, 2011

In ihrer Mitte haben sie freien Platz gelassen. Zu Dutzenden sind sie am 11. Februar 2011 herbeigeeilt, um das Auflodern des Feuers auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu feiern. Ein beleibter Mann im dunklen Kapuzenshirt reckt begeistert die Fackel in die Höhe. Ein zweiter, von dem nur Schulter und Kappe zu sehen sind, tut es ihm gleich. Gleissend hell strahlt das Licht. Es taucht die Szenerie in brennendes Rot.

Tage zuvor hatte man noch andere Feuer entfacht, als man Brandsätze gegen Polizeistationen und regimetreue Prügelgarden schleuderte. Doch nun bejubeln sie das Feuer der Freude. Einzelne verbrennen Plakate des verhassten Despoten Hosni Mubarak, andere haben irgendwo Feuerwerkskörper aufgetrieben und schiessen ein paar Raketen in den Nachthimmel.

Besonderes Vergnügen bereiten jedoch die Spraydosen. Der entzündete Sprühnebel ergibt ein Blendlicht, das wie ein Fanal wirkt. Der korpulente Mann hält das Sonnenfeuer in Händen, schwenkt es umher, spritzt es stossweise in die Finsternis, nährt es durch den unmerklichen Druck seines Fingers. Nie in seinem Leben stand er derart im Mittelpunkt. Doch in diesem Augenblick ist er der Herr des Feuers.

Aller Augen sind auf die Flammen gerichtet. Immer mehr Menschen kommen hinzu. Dicht drängen sie sich hintereinander. Sie wollen dem Feuer möglichst nahe sein, wollen zumindest einen Blick erhaschen. Von hinten wird geschoben, so dass sich einige an den Schultern des Vordermannes festhalten. Aber niemanden stört die unverhoffte Berührung. Sie können einander gar nicht nahe genug sein. Arme fliegen in die Höhe, Gesänge und Freudenrufe erfüllen den Platz. Nur wenige Minuten sind vergangen, seit im Fernsehen die
Nachricht verlesen wurde, dass der Despot endlich zurückgetreten ist. Wie ein Lauffeuer hat sich die frohe Kunde verbreitet. Der anfängliche Unglaube ist rasch verschwunden. Manche rufen Freunde an, um ihnen die ungeheure Begebenheit mitzuteilen. Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme. Von einer Sekunde zur anderen ist die Stimmung umgeschlagen.

Wut und Angst sind auf einmal verflogen. Wilde Freude durchströmt die Menge und elektrisiert Geist und Körper. Einige beten. Die Gesichter strahlen, jubilieren. Im Nu sind am Rande des Platzes die Absperrungen aufgehoben. Jeder hat nun Zugang. Und jeder will dabei sein. Panzer drehen den Kanonenturm zur Seite. Demonstranten schütteln Soldaten die Hände. Nationalflaggen werden geschwenkt. Endlich, nach Jahren des Unmuts, der Bedrückung, der Hoffnungslosigkeit, können sie stolz sein auf ihr Land – und auf sich selbst.

Auf dem riesigen Platz im Zentrum Kairos bilden sich Inseln der Verdichtung. Wo einer auf einem Fahrzeug eine Fahne emporhält oder ein Vorrufer den Gesang anstimmt, da schiebt sich die Menge zusammen. Aber nichts zieht Menschen stärker an als das Feuer, diese überlebendige, gefrässige, alles vertilgende, alles läuternde und alles erhellende Kraft. Um die Flammen haben sie einen Ring gebildet. Im Schein des Feuers steht die Menge sich selbst gegenüber.Jeder einzelne hat dutzende, hunderte Köpfe vor sich, die vom Licht angestrahlt werden. In allen Augen ist das Feuer zugleich, es vereinigt die Gesichter unter seinem unabwendbaren Zwang. Was den einen erregt, das erregt auch die anderen.

Unterschiede verwischen sich im flackernden Licht. Alle sind sie sich ähnlich, und sie benehmen sich ähnlich. Jeder bemerkt an anderen, was ihn selbst bewegt. Ihre Erregung steigert die seine. Jeder fühlt sich mit seinen Nächsten vereinigt, versöhnt, verschmolzen. Er ist eins mit ihnen, hat sich verloren in höherer Gemeinschaft. Sofort verlernen die Menschen das Gehen und Sprechen. Alle sind sie dabei, sich jubelnd und tanzend in die Lüfte zu erheben.

Obwohl ringsum Dunkelheit herrscht, leitet das Feuer den Blick hinaus in weite Ferne. Seiner selbst ledig, öffnet sich dem Menschen ein neuer Raum, eine neue Welt. Viele trauen ihren Augen nicht und wollen das Ereignis auf Photos festhalten. Aber auch seiner Uhr kann man nicht mehr sicher sein. Plötzlich scheint die Zeit stillzustehen. Die Last der Vergangenheit ist vergessen, die Bedrohungen der Zukunft sind ohne Bedeutung. Freude kennt nur die Gegenwart des Hochgefühls.So bedrückend waren Zwang und Verzagtheit, dass sich in der Minute der Befreiung eine unermessliche Weite öffnet. Auf der Schwelle des glücklichen Augenblicks stehen sie ohne Furcht und Zweifel. Alles ist Feuer und Tanz, Presto und Leichtigkeit, Ausgelassenheit und Abenteuer, Sieg und Erlösung. Den Kleinmut überlassen sie den fernen Zuschauern auf dem alten Kontinent, die den Rausch der Freiheit kaum mehr vom Hörensagen kennen.

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