Das graue Rauschen der Gegenwartsliteratur
Ingolds skeptische Kolumne vom vorigen «Monat» zum «grossen Rauschen» in den kommunizierenden Röhren der Informationsgesellschaft gibt mir die willkommene Gelegenheit, hier und jetzt die etwas speziellere Frage nach dem Rauschen des hiesigen Kulturbetriebs zu stellen. Auch die Kultur, der ja heute zwischen Elfenbeinturm und Auktionshaus, Festspielhügel und Hallenstadion beliebig viele Positionen eingeräumt werden und die […]
Ingolds skeptische Kolumne vom vorigen «Monat» zum «grossen Rauschen» in den kommunizierenden Röhren der Informationsgesellschaft gibt mir die willkommene Gelegenheit, hier und jetzt die etwas speziellere Frage nach dem Rauschen des hiesigen Kulturbetriebs zu stellen.
Auch die Kultur, der ja heute zwischen Elfenbeinturm und Auktionshaus, Festspielhügel und Hallenstadion beliebig viele Positionen eingeräumt werden und die von Rankings und Ratings genauso beherrscht wird wie das Börsengeschäft oder der politische Alltag, ist weithin von betrieblichem Rauschen überlagert und ebenso durch Nützlichkeits- wie durch Profitkriterien determiniert. Massgeblich sind heute Kriterien wie Konsensfähigkeit (share), Gefallen (like), Teilnahme (Quoten), Umsatz (Ertrag) – lauter Kriterien, die der Quantität vor der Qualität Vorrang geben beziehungsweise die Quantität als eine Qualität beliebt machen wollen.
Das Rating eines Künstlers, eines Schriftstellers, eines Musikers bemisst sich und wird bestimmt anhand der Anzahl von Publikationen, Ausstellungen, Auftritten, Preisen, Stipendien, die er in seinem CV oder auf seiner Website anführen kann. Demgegenüber scheint die Qualität künstlerischer Arbeit kaum noch Interesse zu finden – gut ist, was gut ankommt, und was gut ankommt, ist das, was man leicht «reinziehen», leicht verstehen, leicht mit anderen teilen kann. Anspruchsvollere, mithin minoritäre Autoren werden von der Kritik dafür gerügt, dass sie es dem Publikum «nicht leicht» machen; mehrheitsfähige Autoren wiederum belobigt man, wenn – und weil – sie «sich treu bleiben». Akzeptanz wird gewonnen und gesichert durch das Gewohnte, das als «Trend» Akzeptierte, aber auch durch das Skandalöse, das – als Inszenierung geplant und als solche durchschaubar – bestehenden Erwartungen ebenfalls «leicht» zu entsprechen vermag.
«Leichtigkeit» – wir essen, rauchen, kleiden uns ja auch noch so gern light – ist in kulturellen Dingen zu einem «Must» geworden. Nur bitte keine Komplexität, keine Verstörung, überhaupt nichts, was die Rezeption erschweren könnte – auch die Tragödie, der Wahnsinn, die Niedertracht, die grosse Leidenschaft sollen in der Kunst bekömmlich sein, und wo sie’s nicht sind, werden sie bekömmlich gemacht, damit das grosse Rauschen keine Dissonanzen bekommt. Beispielhaft dafür ist die staunenswert rasche und positive Rezeption, die neuerdings den tausendseitigen Grossromanen von Wallace, Littell, Vollmann oder Nádas zuteil geworden ist – Werke, für deren Lektüre man viele Wochen investieren müsste und deren Verständnis höchste kritische Anstrengung erfordert. Keiner der voreiligen Rezensenten kann diese Bücher gelesen haben, aber jeder hat sie gesehen, hat wohl die meist umfängliche Verlagswerbung zur Kenntnis genommen, hat da und dort im Text ein paar Dutzend Seiten überflogen (mehr ist in so kurzer Zeit ganz einfach nicht zu leisten), und von diesen ersten Eindrücken sind dann die weitgehend übereinstimmenden Statements hergeleitet worden, die diesen ungewöhnlich sperrigen, in mancher Hinsicht provokanten Texten zwar in keiner Weise gerecht werden, sie aber vordergründig in der literarischen Landschaft verorten, will heissen: sie domestizieren und eben dadurch für den allgemeinen Geschmack vereinnahmen.
Werke der künstlerischen Kultur bekömmlich und somit für ein grösseres – ein möglichst grosses – Publikum konsensfähig zu machen, ist das Anliegen von Künstlern und Autoren wie von Kritikern und Kuratoren. Eben deshalb wird genau dies an Kunsthochschulen und Literaturinstituten vorrangig gelehrt: Wie muss ich arbeiten, wie muss ich mich und mein Schaffen inszenieren, um erfolgreich zu sein? Denn nicht das Werk, vielmehr der Künstler muss durchgesetzt und in die Garde der Mediokrität aufgenommen werden, deren unzählige verwechselbare Personalstile den einheitlichen, grau rauschenden Epochenstil ausmachen. Von den zwanzig Romanen, die in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert sind, habe ich drei gelesen und einige weitere angeblättert – ich vermag diese Texte stilistisch kaum voneinander zu unterscheiden, kann nur erkennen, dass sich bei den Autorinnen und Autoren ein gemeinsamer, auf der Alltagssprache beruhender Plauderton durchgesetzt hat, der kaum noch individuelle Erkennungsmerkmale, stattdessen aber umso freimütiger das grosse Rauschen einer mittelmässigen Allerweltsprosa aufkommen lässt.