Das Glück des Gehens
Der Basler Volksmund – es ist im Grimmschen Wörterbuch vermerkt – hat das Verb «spazifizozle» hervorgebracht, eine Mischung aus «spazieren» und «zotteln». Allein die Existenz dieser sanftmütig-sarkastischen Lokalform macht deutlich: unauslotbar ist die Thematik des Gehens (und suchte man sich zu retten, in die Metaphernwelt der Seefahrt zum Beispiel, es drohte immer noch der «Untergang»). […]
Der Basler Volksmund – es ist im Grimmschen Wörterbuch vermerkt – hat das Verb «spazifizozle» hervorgebracht, eine Mischung aus «spazieren» und «zotteln». Allein die Existenz dieser sanftmütig-sarkastischen Lokalform macht deutlich: unauslotbar ist die Thematik des Gehens (und suchte man sich zu retten, in die Metaphernwelt der Seefahrt zum Beispiel, es drohte immer noch der «Untergang»).
Für den Basler Publizisten Aurel Schmidt verbindet sich das Gehen schlicht und einfach mit dem Glück. Sein «Buch des Gehens» ist zwar nicht durchgehend auf einen hymnischen Ton gestimmt; aber bestimmt zeugt es von der Grösse dieses Glücks, dass es sich indirekt ausspricht: in einer Lust nämlich, nebst zu gehen auch die Kulturgeschichte des Gehens zu durchmustern. Diese handelt nun keineswegs nur vom Gehen als Glücksspender, sondern auch von Gewaltmärschen, falschen Fluchten und zwanghaften Gesundheitstrends. Schmidt hat einen dichten, fast gedrängten Buchessay geschrieben, der teils philosophisch, teils historisch gehalten ist und eine eigentliche Parteinahme darstellt für das Gehen.
Doch worin liegt es nun, das Glück des Gehens? Oder: Welches Gehen ist es, das beglückt? Für den einen mag es ein gemeinsames Gehen sein. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Félix Valloton, das ein ebensolches Gehen in Gemeinsamkeit abbildet. Auf einem Strandabschnitt, nicht Land, nicht Meer. Prekäres Gelände. Für den anderen dagegen mag das Glück im Aufbruch liegen, in dem Ausnahmezustand, vorübergehend (oder bloss vermeintlich) aller Bindungen enthoben zu sein.
Eine Eigentümlichkeit des Buchs liegt nun darin, dass es zwar ein Glücksversprechen enthält, dass das kulturhistorische Panorama in seiner eher verwirrenden Fülle sich aber gleichsam vor dieses Versprechen schiebt. Und doch macht es sich dann und wann wieder bemerkbar, das persönlich erfahrene, schützenswerte Glück; in einigen Schroffheiten des Tons nämlich, die etwa gegen das Phänomen der Fussgängerunterführung oder gegen die Miesepetrigkeit der Stubenhocker gerichtet sind.
Aus dieser eigentümlichen Spannung – Glücksversprechen und Kulturgeschichte sind nicht zur Deckung zu bringen – resultiert ein interessanter, überraschender und letztlich schöner Effekt. Man sorgt sich nämlich am Ende um das Glück, um dessentwillen es sich lohnt, zu gehen. Deshalb nochmals: Worin liegt es? Versuch eines Fazits, das nur persönlich sein kann, gewonnen aus Lektüre und Erfahrung. Das Gehen relativiert, setzt in Beziehung. Das tut das Sitzen/Stehen zwar auch; aber das Gehen relativiert mit jedem Schritt neu. Im schönsten Fall: die Ereignislosigkeit durch die Begegnungen des Zufalls; die Perspektivlosigkeit durch die Aussicht; die Erdenschwere durch die sich einstellende Beschwingtheit; die Ideenlosigkeit durch die Zirkulation der Gedanken; die Weglosigkeit durch die unversehens gefundene Route. In der Summe: Entfaltung einer Fülle des Lebens (oder, mit Paul Nizon: «zu Leben kommen») – als Effekt des Gehens und in ihm. In der Variante der Autors: ein Weg hat sich gefunden. Will heissen (infolge der Verwandtschaft des Schreibens mit dem Gehen): ein Buch, ein Werk hat seine Form gefunden.
besprochen von Dietrich Seybold, Bottmingen
Aurel Schmidt, «Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden». Frauenfeld: Huber, 2007