Das Gesundheitssystem
behandelt auch die Reichsten wie Arme
Historisch betrachtet war Gesundheitspolitik immer auch Sozialpolitik. Heute führt diese Gleichsetzung dazu, dass mehr Eigenverantwortung als Zumutung für alle taxiert wird – obwohl sich die Ausgangslage grundlegend verändert hat.
Was wir heute als Gesundheitswesen bezeichnen, ist viel älter als der Begriff selbst. Der Ursprung lässt sich bis zur Geschichte des barmherzigen Samariters in der Bibel zurückverfolgen. In der Schweiz trat der Vorläufer des KVG, das erste Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, im Jahr 1911 in Kraft. Damals plagten ansteckbare Krankheiten die Bevölkerung, Impfungen waren unbekannt, die hygienischen Zustände nicht vergleichbar mit heute, die Ernährung ungesund, Antibiotika nicht erhältlich.
Besonders von Krankheiten betroffen war, wer nicht zur Oberschicht gehörte. Im Unterschied zu heute gab es auch keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wer krank wurde, hatte keinen Lohn. Krank sein bedeutete für die meisten: arm sein. Krankheit war nicht nur eine medizinische Herausforderung, sondern ebenso eine soziale. Und da die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, blieb gar nichts anderes übrig, als wenigstens die soziale Unterstützung der kranken Menschen auszubauen. Gefragt war eine Sozialversicherung und kein Gesundheitsgesetz, gefragt war Sozialpolitik für die vielen hilflosen kranken Menschen.
Die Gesundheitspolitik entwickelte sich seither wesentlich unter diesem sozialpolitischen Fokus – und entspricht bis heute keiner expliziten Gesundheitspolitik, sondern eher einer angewandten Sozialpolitik im Falle einer Krankheit. Wir haben auf Bundesebene kein Gesundheitsgesetz und im Parlament auch keine Gesundheitskommission, sondern – aufgrund der erwähnten historischen Ausgangslage nachvollziehbar – eine Kommission für «soziale Sicherheit und Gesundheit».
«Die Gesundheitspolitik entspricht bis heute keiner expliziten
Gesundheitspolitik, sondern eher einer angewandten Sozialpolitik im Falle einer Krankheit.»
Gerechtigkeit als Gleichheit
Die Entwicklung führte zu einem hervorragenden Gesundheitswesen für kranke und gleichzeitig finanziell schwache Menschen. Alle Menschen haben heute ohne lange Wartefrist Zugang zur besten medizinischen und pflegerischen Versorgung im Land. Das ist gut so, denn, wie es in der Präambel der Bundesverfassung heisst: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Das Gesundheitswesen trägt zum Wohl der Schwachen bei und ist deshalb eine Stärke der Schweiz.
Was die angewandte Sozialpolitik aber übersieht, sind die enormen Veränderungen seit 1911: Heute sind die wenigsten Kranken finanziell schwach und generell hilflos. Wer angestellt ist, erhält den Lohn, auch wenn er krank geworden ist. Die individuellen finanziellen Möglichkeiten der grossen Mehrheit und die Fähigkeit, Eigenverantwortung wahrzunehmen, sind heute meilenweit von der Situation von 1911 entfernt.
Die angewandte Sozialpolitik stülpt die für die Schwachen geeignete Regulierung aber der grossen Mehrheit der Bevölkerung über, die das gar nicht in diesem Ausmass nötig hat. Gerechtigkeit wird als Gleichheit verstanden. Was für die Schwachen notwendig ist, soll auch für die Stärkeren gelten. Doch damit werden Vorschläge, die für die weniger schwache Mehrheit der Bevölkerung mehr Eigenverantwortung fordern, diskussionslos abgewürgt. Was spricht zum Beispiel dagegen, von Vermögenden höhere Franchisen einzufordern? Heute werden alle gezwungen, spätestens ab 2500 Franken pro Jahr (was in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung der höchsten Franchise entspricht) die Eigenverantwortung aufzugeben und die Solidarität der anderen, auch der finanziell schlechter Gestellten, zu beanspruchen. Mit Blick auf die Schwachen wird Eigenverantwortung im Gesundheitswesen für alle als Zumutung taxiert.
Nährboden für Interessengruppen
Damit lässt man ein grosses Potenzial an Eigenverantwortung brachliegen: Eigenverantwortung in Bezug auf den individuellen Umgang mit Krankheitsrisiken, Eigenverantwortung in Bezug auf den Umgang mit einer akuten oder chronischen Krankheit und Eigenverantwortung bei der Finanzierung von medizinischen und pflegerischen Leistungen. Kein Wunder, wird damit das Gesundheitswesen auch zum Nährboden für Interessengruppen gemacht. Das Gesundheitswesen ist ein 90-Milliarden-Franken-Business, zu zwei Dritteln mit Kunden, die nicht nach dem Preis fragen, weil alle andern über Steuern und Prämien bezahlen. Da mag es für viele Anbieter attraktiv sein, bei der antiquierten Gleichung krank = finanziell arm und generell hilflos zu bleiben.
«Das Gesundheitswesen ist ein 90-Milliarden-Franken-Business, zu zwei Dritteln mit Kunden, die nicht nach dem Preis fragen, weil alle andern über Steuern und Prämien bezahlen.»
Eine Gesundheitspolitik sollte der heutigen Medizin und den individuellen finanziellen Möglichkeiten der grossen Mehrheit der Bevölkerung gerecht werden und damit die Eigenverantwortung stärken. Eine solche Regulierung wird nicht taugen für die Schwachen. Das ist klar, und hier – aber erst hier – soll die Sozialpolitik ins Gesundheitswesen kommen und die Schwachen mit Beratung, Begleitung und finanzieller Unterstützung ermächtigen, zu den für ihre Gesundheit notwendigen Leistungen zu kommen. Nur dort, wo Eigenverantwortung und private Initiative zu ungenügender Pflege und Versorgung führen, soll der Staat ergänzend aktiv werden. Von den Stärkeren darf Solidarität für die Schwachen gefordert werden, auch wenn sie nicht im gleichen Ausmass von der Solidarität profitieren.