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Das Gespenst der Mainstream-Medien

Verschwörungstheorien, Gleichschaltungsverdacht, Thesenjournalismus:
Was charakterisiert die alten Zeitungen in einer neuen Zeit?
Eine Bestimmung unserer medialen Gegenwart.

Das Gespenst der Mainstream-Medien
Veit Dengler, Bild: NZZ.

«Mainstream-Medien sind in erster Linie die ‹alteingesessenen› Medien – Zeitungen, Sender etc. –, die eine grosse Reichweite haben, dem Mainstream-Denken, der politischen Korrektheit usw. hinterherhecheln, die mit dem Strom schwimmen und unglaublich angepasst sind […]. Diese Medien dulden abweichendes Denken nicht […] und beschimpfen alle, die eine andere Meinung haben als sie selbst.»

So heisst es irgendwo im WorldWideWeb. Verschwörungstheorien können viele Gründe haben, manchmal auch den, dass sie über einen wahren Kern verfügen. Meistens jedoch sind sie bloss Ausdruck einer Intransparenz bestimmter Vorgänge für den Blick all jener, die eine Verschwörung diagnostizieren – und damit Ausdruck eines grundlegenden kommunikativen Defizits. Ich werde versuchen, den Nebel etwas zu lichten.

Im Fall der Mainstream-Medien (MSM) wird oft vermutet, dass sie «gleichgeschaltet» seien. Zum einen liest man in vielen Medien dieselben aktuellen Meldungen, übereinstimmend bis hin in einzelne Formulierungen. Der Gedanke, dass hier eine lenkende Hand im Hintergrund steht, ist durchaus plausibel – aber es ist nicht die Hand einer finsteren Gruppe von Verschwörern, sondern die invisible hand des Adam Smith, die unsichtbare Hand der Marktgesetze. Schon seit jeher konnten sich die meisten Medien keine eigenen Korrespondenten leisten. Daher entstanden Nachrichtenagenturen, die Depeschen aus der ganzen Welt für einen bestimmten Medienmarkt lieferten, so wie bis heute die SDA oder Reuters und AP. Aufgrund rückgängiger Einnahmen reduzierten in den letzten Jahren viele Medien ihre eigenen Korrespondentennetze. Und aufgrund der Menge an Information kann kein Medienunternehmen es sich leisten, zu jedem aktuellen Geschehnis einen eigenen Artikel zu verfassen.

All das hat dazu geführt, dass sehr oft Agenturmeldungen mehr oder minder unverändert übernommen und erst in der Berichterstattung und Analyse weiterverarbeitet werden. Mittlerweile ist selbst die Anzahl der Nachrichtenagenturen geschrumpft – aus genau denselben ökonomischen Gründen.

Ein weiterer Grund für eine vermutete MSM-Verschwörung mag sein, dass heute aufgrund des Internets die Vergleichsmöglichkeiten zugenommen haben: Was hier Pixel für Pixel (und eben nicht mehr schwarz auf weiss) steht, wird im anderen Nachrichtenmedium nicht erwähnt. Das ist Nahrung für verdachtsaffine Mitmenschen. Aus Sicht älterer Leser, die sich weiterhin am gedruckten Wort orientieren, stellt sich die Situation freilich anders dar. Die Anzahl der Kaufzeitungen ist in der Welt zunehmender Vergleichsmöglichkeiten rückläufig. In der Schweiz haben sie sich in den letzten 75 Jahren von einst knapp 400 halbiert. In Luzern, zum Beispiel, gab es das konservativ-katholische «Vaterland», das 1991 mit dem liberalen «Luzerner Tagblatt» zur «Luzerner Zeitung» fusionierte. Die nicht parteigebundenen «Luzerner Neuesten Nachrichten», die seit 1973 zum Ringier-Konzern gehörten, fusionierten 1995 mit der «Luzerner Zeitung» zur «Neuen Luzerner Zeitung». Diese ist, wie die meisten Schweizer Regionalzeitungen, eine sogenannte Forumszeitung mit diffus-bürgerlicher Ausrichtung und meist wenig zugespitzten politischen Standpunkten.

Es gibt nicht nur weniger Kaufzeitungen, oft sind deren Positionen auch weniger ausgeprägt. Die Gratiszeitungen in der Schweiz sind – wie auch andernorts – apolitisch oder politisch gesichtslos. Verschwunden sind viele Parteiorgane und andere Zeitungen kleiner politischer Gruppierungen. Die von der Sozialistischen Arbeiterpartei herausgegebene «Bresche» überlebte sie noch einige Jahre bis 1994. «vorwärts» gibt es noch, getragen von einer Verlagsgenossenschaft, erscheint aber fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Klare Standpunkte vertreten die WOZ – nostalgisch softsozialistisch – und die «Weltwoche», einst eine renommierte liberale Wochenzeitung und jetzt ein etwas weniger renommiertes und vorhersehbares Thesenblatt. Rechts davon gibt es noch die «Schweizerzeit» – immerhin pointiert, wenn auch maximal vorhersehbar.

(Die NZZ, so viel darf in eigener Sache gesagt sein, kombiniert – jetzt wieder stärker als in der Vergangenheit – eine klare weltanschauliche Ausrichtung mit analytischer Distanz und Seriosität.)

Auch beim Schrumpfen der politischen Bandbreite hat der Markt seine unsichtbare Hand im Spiel. Die meisten der genannten Zeitungen waren wirtschaftlich seit jeher wenig oder gar nicht rentabel und konnten nur aufgrund von Zuschüssen oder dank geduldiger Verleger existieren.

Ihre politischen Positionen sind aber nicht verschwunden, sondern oft ins kostengünstigere Internet abgewandert. Ihre journalistische Aufbereitung erfolgt auf diversen Websites und in Blogs – aber eben nicht mehr in den in ihrem Betrieb vergleichsweise finanzintensiven physischen Medien, d.h. nicht in den sogenannten MSM.

 

Der mediale Wandel

Die aktuelle Flut an Verschwörungen, die den MSM angelastet werden, ist aber nicht nur die Tat der unsichtbaren Hände. Sie ist auch und vor allem durch den gegenwärtigen medialen Umbruch begründet, dessen Opfer und Nutzniesser wir sind. Das scheint mir der entscheidende Punkt.

Im Jahr 1990, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, formulierte der US-amerikanische Rechtsanwalt Mike Godwin eine Regel zum Ablauf von Online-Diskussionen: «Je länger eine Online-Diskussion dauert, desto stärker nähert sich die Wahrscheinlichkeit eines Vergleichs mit dem Nationalsozialismus und Hitler dem Wert 1.» Dieses Aperçu hat verschiedene Online-Communities zu einschlägigen Regelungen inspiriert, mitunter zum Usus, beim Auftreten eines solchen Vergleichs automatisch die jeweilige Debatte zu schliessen. Oder zur Verleihung ironischer Godwin-Punkte für die reductio ad Hitlerum («Rückführung auf Hitler», nach der logischen Schlussform der reductio ad absurdum).

Diese Regel, oft als Godwin-Gesetz bezeichnet, trifft einen wesentlichen Punkt des durch die neuen Medien eröffneten globalen Kommunikationsraumes: Diskurse in diesem Kommunikationsraum tendieren mit beeindruckender Regelmässigkeit dazu, ihr eigenes Funktionieren durch informationsfreies, nichtargumentatives Verhalten ihrer Teilnehmer – Denunziation, Unterstellung, Beschimpfung – zum Kollabieren zu bringen. In solchen Fällen wird jeder weiteren Diskussion die Grundlage entzogen. Man könnte das metaphorisch die «diskursive Entropie»1 der neuen Medien nennen.

Nun ist es nicht so, dass es in den guten alten Zeiten vor der Erfindung des Internets keine gescheiterten Diskussionen gegeben hätte, keine Missverständnisse, Untergriffe, Beleidigungen und Diffamierungen. Der Unterschied steckt nicht im Scheitern, sondern in dessen Konsequenzen: Traditionellerweise gibt es eine Reihe von – nichtdiskursiven – Konsequenzen gescheiterter Kommunikation, die dem Verlassen des gemeinsamen Gesprächsraumes entgegenwirken, beispielsweise Gebrüll, Raufhändel, Anzeigen vor Gericht, soziale Ächtung bis hin zu Krieg.

Diese Hemmschwelle ist dank der inhärenten Anonymität der neuen Medien – wo man meistens nicht einmal den richtigen Namen der Gesprächspartner kennt, geschweige denn deren Aufenthaltsort – de facto inexistent. Am Ende steht oftmals Diffamierung gegen Diffamierung – oder der Shitstorm.

In der europäischen Geschichte gibt es ein altehrwürdiges Modell für das Führen von Gesprächen, die zu ihrem Gelingen keiner externen Regelung bedürfen: die klassische dialektikē téchnē, Gesprächskunst, die zuerst Aristoteles systematisch beschrieben hat. In diesem Anwendungsgebiet der Logik geht es darum, einen Gesprächsraum zu schaffen, auf den die bestehenden Machtbeziehungen der Gesellschaft keine Auswirkungen haben und in dem ausschliesslich die Überzeugung der – grundsätzlich gleichwertigen – Teilnehmer über das Ergebnis entscheidet. Die einzigen argumentativen Zwänge sind jene der nach den Regeln der Logik verwendeten Sprache.

Das ist auf die damalige politische Situation in Athen zugeschnitten: auf die Gespräche unter freien Bürgern zur gemeinsamen Meinungs- und Entscheidungsfindung auf der Agora. Die klassische Dialektik hat also einen sehr begrenzten Anwendungsbereich: Zieht man von den etwa 120 000 Bewohnern der antiken Athener pólis die Sklaven, Metöken, Frauen und Kinder ab, die allesamt keine Bürgerrechte hatten, bleibt das Äquivalent einer etwas ausgedehnteren Kleinstadt als mögliche Gesprächsteilnehmer. Dementsprechend spielt dieses Modell in den Riesenreichen der Mazedonier und Roms kaum eine Rolle.

Die Karriere der Dialektik findet darum auch nicht primär im Bereich der Politik, sondern in anderen, vor den Machtmechanismen der Politik weitgehend geschützten Bereichen statt, in Theologie, Philosophie und Wissenschaft.

Daneben gibt es ab dem späteren Mittelalter in Europa immer wieder kleinere, im Rahmen umfassender Machtstrukturen privilegierte freie Gesprächsräume: das normannische Parlament auf Sizilien; die vom germanischen Thing abgeleiteten Parlamente in Nordeuropa; die Landsgemeinden in verschiedenen Schweizer Kantonen oder das spätere britische Parlament («Parlament» heisst buchstäblich «Gespräch»).

Gemeinsam war all diesen Gesprächs-Inseln, dass die Hürden für die Zulassung als Teilnehmer äusserst selektiv waren und die überwiegende Mehrheit der in einem Land lebenden Personen grundsätzlich ausgeschlossen blieb. Das betraf natürlich die Unfreien und Zugereisten, aber zum Beispiel auch die Armen und die Frauen.

Gesprengt wurde diese strenge Exklusivität demokratischer Gespräche Ende des 18. Jahrhunderts zuerst durch die Amerikanische, dann durch die Französische Revolution. Frankreich führte 1792 das gleiche Wahlrecht für alle Männer ein, ohne Eigentumsbeschränkungen. Griechenland folgte im Jahre 1830. Neuseeland führte 1893 als erstes Land das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ein. Das erste europäische Land, das Frauen in der Politik zuliess, war vor einem guten Jahrhundert Finnland, die letzten drei waren Frankreich (1944), Griechenland (1952) und die Schweiz (1971).2

Diese Entgrenzung des demokratischen Diskursraumes verlief nicht problemlos: Frankreich schlitterte nach einem Jahrzehnt der Massenhinrichtungen wieder in eine Monarchie, die US-Amerikaner, etwas langsamer, in einen Bürgerkrieg, das heisst in durchaus undiskursive Formen der Politik.

Ein wesentlicher Grund für das Scheitern der jungen modernen Demokratien waren die Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Durchsetzung von kommunikativen Möglichkeiten und Regeln, die für einen politischen Diskurs dieses Ausmasses adäquat waren. Denn die modernen Demokratien lassen sich – anders als die klassische Demokratie und die isolierten demokratischen Bereiche des Mittelalters und der frühen Neuzeit – nicht mehr auf das persönliche Gespräch aller mit allen zurückführen. Sie erfordern daher deutlich leistungsstärkere Kommunikationsstrukturen.

Die modernen Demokratien umfassen eine Vielzahl lokaler Gesprächsräume, die durch komplexe Hierarchien von Parlamenten zusammengehalten werden. Damit derartiges funktioniert, reicht es nicht, per Verfassung allen Erwachsenen eine Stimme zu geben, die alle paar Jahre über die Zusammensetzung der Parlamente entscheidet. Man muss auch einen umfassenden Diskursraum schaffen, der die Stimmabgabe von einem irrationalen demokratischen Urereignis zu einem begründeten kollektiven Entscheid nach einem den gesamten Staat umfassenden «Gespräch» macht. Und hier kommen die Medien ins Spiel. Die modernen Demokratien sind mediale Demokratien.

1792, keine fünf Jahre nach der Verfassung, regeln die USA ihr Postwesen neu: Das Postnetz wird enorm ausgeweitet und verdichtet, Behinderung und Verzögerung bei der Zustellung unter Strafe gestellt, auf Postdiebstahl steht gar die Todesstrafe. Zwei Personengruppen haben das Recht auf Gratisnutzung des Verteilernetzes: Politiker in hohen Ämtern, deren Korrespondenz in beide Richtungen kostenlos ist (übrigens bis heute), und Zeitungsherausgeber, die anderen Herausgebern ihre Ausgaben zusenden.

Auch in Frankreich explodiert das Postnetz nach der Revolution, wenn auch aufgrund der besseren Infrastruktur nicht so dramatisch wie in den USA. Dramatisch aber ist die Entwicklung der Zeitungen: Diese werden von einem raren Vorrecht der Eliten zu Massenmedien. Die Anzahl der politischen Nachrichtenblätter steigt im ersten Jahr nach der Revolution von einer einstelligen Zahl auf 300, insgesamt während der Revolutionsjahre auf 1600.

Diese Explosion des Zeitungsmarkts geht einher mit einem folgenschweren Problem: Da der politische Diskurs zu einem Gutteil nicht mehr von Angesicht zu Angesicht erfolgt, mithin Präsenz als Grundlage politischer Entscheidungen entfällt, wird die Einschätzung der Absichten hinter politischen Aussagen zu einem äusserst schwierigen Unterfangen. Es gibt keine Möglichkeit für unmittelbare Nachfragen: Der jeweilige Sprecher muss nur noch über verschlungene Umwege Rede und Antwort stehen. Bezeichnenderweise wird um diese Zeit der französische Ausdruck canard für Betrug, Falschspiel zu einer umgangssprachlichen Bezeichnung für «Zeitung».3 In der deutschen Sprache findet sich dieser Ausdruck dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder als «Zeitungsente». Die neue mediale Konstruktion des politischen Diskurses erzeugt ein massives Vertrauensdefizit.

Und derart defiziente mediale Situationen sind ein ausgezeichneter Humus für Verschwörungstheorien. Die Begründungen für die zehntausenden, vor allem durch Robespierre veranlassten Hinrichtungen der Französischen Revolution lesen sich heute zu einem guten Teil wie Auszüge aus einem Lexikon der Konspiration. Noch weiter als Robespierre ging sein Weggefährte Marat, der eine sechsstellige Zahl von Hinrichtungen forderte, um der von ihm vermuteten omnipräsenten Komplotte und deren Drahtzieher Herr zu werden. Jean-Paul Marat hat sich redlich den Titel «Patron der Verschwörungstheoretiker» verdient.

Die europäischen Demokratien haben seither gelernt, mit der Tatsache umzugehen, dass der politische Diskurs eines Staates sich nicht einfach beliebig entgrenzen und verallgemeinern lässt, oder doch nur um den Preis, dass er die gesellschaftlichen Interessen und Machtbeziehungen in das Spiel der Demokratie integriert. Die Athener hatten diese Interessen und Machtbeziehungen aus dem Gespräch auf der Agora verbannt, indem sie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aus diesem Gespräch ausschlossen. Weitet man nun, wie das die modernen europäischen Demokratien tun, dieses Gespräch möglichst auf die gesamte Bevölkerung aus, so verschwindet das zuvor Ausgeschlossene nicht, sondern wird es in gewisser Weise im gesamtgesellschaftlichen politischen Gespräch omnipräsent. Antonio Gramsci, einer der Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, prägte dafür den Begriff der Zivilgesellschaft.

Die Diskurse der Zivilgesellschaft zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die gesellschaftlichen Machtstrukturen gerade nicht ausgeschlossen sind, es darin, der demokratischen Abstimmung vorgängig, um das Zusammenspiel von Privat- und Gruppeninteressen geht. In der Zivilgesellschaft kämpfen Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Interessenverbände, aber auch kulturelle Initiativen, politische Vereine und NGOs um die Hegemonie ihrer politischen Vorstellungen, und erst in dieser Auseinandersetzung entsteht jener politische Grundkonsens, aufgrund dessen staatliche Politik funktionieren kann. Das mag für viele Ohren problematisch klingen, hat aber den unschätzbaren Vorteil, dass der «phantastische Komplex von Schützengräben und Befestigungen», von dem Gramsci spricht und der das Erobern und Halten hegemonialer Positionen ermöglicht, nur noch metaphorisch gemeint ist.

 

Die neue Funktion der alten Medien

«Der beträchtlichste und dynamischste Teil» der durch die Zivilgesellschaft verlaufenden «Fronten» ist laut Gramsci «die Presse im Allgemeinen: Verlagshäuser (die implizit und explizit ein Programm haben und sich auf eine bestimmte Strömung stützen), politische Zeitungen, Zeitschriften jeder Art, wissenschaftliche, literarische, philologische, populärwissenschaftliche usw., unterschiedliche Periodika bis zu den Mitteilungsblättern der Kirchengemeinden». Für die heutige Situation müsste man diese Liste natürlich noch ergänzen.

Wenn das so ist und wir das seit einiger Zeit wissen und damit umzugehen gelernt haben – warum blühen Verschwörungstheorien gerade jetzt wieder so üppig? Wir erleben seit etwa einer Generation einen ähnlich weitreichenden medialen Umbruch wie jenen der Entstehung der medialen Demokratie durch die Gründung der USA und die Französische Revolution. Und dieser Umbruch hat zum Entstehen eines neuen Gesprächstyps geführt, nämlich zur sozusagen radikaldemokratischen Form des Diskurses im Internet.

Wer im Internet spricht, dessen Stimme gleicht weitgehend jener Stimme, die er bei einer Wahl abgibt: Sie ist grundsätzlich gleich viel wert wie jede beliebige andere Stimme und weitestgehend anonym. Aber: sie ist nicht nur ein formaler Zählpunkt wie bei einer Wahl, sondern kann auch Inhalte mitteilen. Damit ähnelt sie in vielem dem demokratischen Diskurs der Antike – aber ohne dessen personelle und geographische Begrenztheit und ohne dessen pragmatischen Rahmen.

Das hat einschneidende Konsequenzen für die Funktion von Medien. Da die neuen Medien bis zu einem gewissen Grad dieselbe Funktion wie die herkömmlichen Medien erfüllen – nämlich die diversen lokalen politischen Diskursräume miteinander zu verbinden und zusammenzufassen –, ist die Aufgabe, die Bürger eines Staates über die Vorgänge im In- und Ausland zu informieren, kein Privileg der Medien mehr. Die traditionellen Medien sind nicht mehr conditio sine qua non des öffentlichen Diskurses und damit nicht mehr staatstragend – auch wenn das geförderte und staatsnahe Medienunternehmen wie zum Beispiel die sogenannten öffentlich-rechtlichen Sender nicht gerne hören.

Das Internet bietet die Rohinformation, an der traditionellerweise die Medien für ihre Berichterstattung ansetzen, grundsätzlich jedem, der sich dafür interessiert, in Echtzeit. Die Aufgabe der Auswahl und Kommentierung ist nicht mehr Voraussetzung für die Information der Öffentlichkeit, sondern gewissermassen ein «Zusatznutzen» der Medien geworden. Oder eben, je nach Perspektive, eine «Verfälschung». Das ist der Punkt, an dem die MSM-Kritik ansetzt, und zugleich der Grund dafür, dass sich diese Kritik nicht einfach allgemein gegen Medien richtet, sondern (wie es an der eingangs zitierten Stelle heisst) gegen die alteingesessenen Medien – und dass sich die MSM-Kritik vor allem im Internet findet.

Dadurch verschiebt sich nun auch die Aufgabe der Medien. Das betrifft zunächst die professionelle Verarbeitung von Rohinformation: das Prüfen, Vergleichen und Bewerten von Ressourcen, das Recherchieren der Hintergründe und Zusammenhänge, das Deuten und Kommentieren der Vorgänge auf dem Globus. Die meisten Menschen verfügen über Kompetenzen, das für bestimmte Themenbereiche selbst durchzuführen. Niemand aber kann es sich leisten, Tag für Tag und rund um die Uhr Nachrichten zu sondieren, zu prüfen und zu interpretieren. Und das führt zum Befreiungsschlag eines allgemeinen Misstrauens, das sich dann in Verschwörungstheorien äussert, oder aber zum Inanspruchnehmen der Dienste von Spezialisten, d.h. eben: journalistischer Angebote.

Diese Angebote ändern sich auch. Die journalistischen Produkte im Internet sind nicht mehr abgeschlossene Artikel, die in einer kommunikativen Einbahn zur externen Diskussion angeboten werden, sondern offene Informationsangebote, die die Leser – die ja grundsätzlich auf dieselben Rohinformationen zugreifen können wie die Journalisten – ergänzen und kommentieren. Die User-Foren der Nachrichtenmedien dienen der Aufgabe, Diskurse zu ermöglichen, die der diskursiven Entropie der neuen Medien entgegenwirken und damit deren demokratische Funktion absichern. Und damit können die herkömmlichen Medien auf neue Weise zu zentralen Knotenpunkten der Zivilgesellschaft und damit der Demokratie werden.

Die gegenwärtige Blüte der gegen die MSM gerichteten Verschwörungstheorien bedeutet also vor allem eines: nämlich dass die traditionellen Medien es noch nicht geschafft haben, ihre neue, durch die neuen Medien zugewiesene Funktion ausreichend zu erfüllen. Wir arbeiten daran, diesem Missstand abzuhelfen – Sie können sich darauf verlassen.


1 «Die spezifische Akzidenz der Netzkommunikation ist der Kommunikationsüberfluss. Informationsüberflutung im herkömmlichen Verständnis meint eine Situation, in der ein Individuum mehr Reizen ausgesetzt ist, als es verarbeiten kann (information entropy). Im Usenet hat sich die Metapher vom zunehmenden Rauschen (‹signal-to-noise ratio›, Jargon File 1996) eingebürgert, wenn keine sinnvolle Kommunikation mehr möglich scheint.» (http://www.wikiservice.at/gruender/wiki.cgi?OnlineKommunikation)
2
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Länder, die das Frauenwahlrecht zuletzt zuliessen, zu den Pionieren bei der Gewährung des Wahlrechts für Männer zählten.
3
«Le Canard enchaîné», die «in Ketten gelegte Zeitung», ist eine bis heute beliebte satirische Wochenzeitung.

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