«Die etablierten Parteien jubeln selten, wenn Bürgerinnen und Bürger eine Initiative starten; natürlich verteidigt das
Establishment seinen Einfluss auf die politische Agenda»
Die Digitalisierung habe die Partizipation für die Bürger erleichtert, sagt der Campaigner Daniel Graf. Sie tragen damit auch eine höhere Verantwortung.
Daniel Graf, wann wurde dir zum ersten Mal bewusst, welche Auswirkungen das Internet auf die Demokratie haben könnte?
Ein Moment, an den ich mich gut erinnere, war, als ich 2007 das erste iPhone kaufte. In Schweizer Läden war es damals noch nicht erhältlich, ich erwarb es auf dem Graumarkt. Als ich das Gerät sah, ahnte ich, dass es etwas verändern würde.
Wieso?
Direkte Demokratie hat viel mit Information und Kommunikation zu tun. Mit einem Gerät, das man ständig bei sich trägt, ändert sich vieles grundlegend. Auf den ersten Blick hat sich das schweizerische politische System seither aber nicht wahnsinnig stark gewandelt; wir haben noch keine elektronische Identität (E-ID), auch demokratische Prozesse sind nicht digitalisiert oder wie E-Voting nicht flächendeckend eingeführt. Wir sind also noch nicht da, wo wir sein könnten. Gleichzeitig hat sich paradoxerweise sehr viel verändert.
Was denn?
Demokratie hat immer ein Preisschild. Politik kostet. Es kostet, Inhalte zu produzieren und zu verbreiten. Es braucht Zeit, damit Menschen sich organisieren und kommunizieren. Mit einem Smartphone in der Tasche sinken die Kosten der direkten Demokratie auf vielen Ebenen massiv. Bestimmte Hindernisse fallen einfach weg: etwa die Kosten für die Organisation von Menschen, die Verteilung von Informationen, das Sammeln von Unterschriften. Das Smartphone öffnet Netzwerken und Organisationen die Tür zur politischen Teilhabe. Die Einstiegshürde ist gesunken, und sie sinkt immer weiter.
Da hast du gedacht: Das muss ich nutzen!
Damals arbeitete ich bei Amnesty International. Mit dem Internet und dem Smartphone poppten ganz neue Möglichkeiten auf: Briefe oder Kampagnenmaterial versenden, Adressen sammeln – all das braucht eine Infrastruktur. Mit den neuen technischen Möglichkeiten kann diese viel leichter aufgebaut und organisiert werden, mit einer Dynamik, die vorher unvorstellbar war. Innerhalb weniger Tage und Wochen können wir eine Kampagne mit Zehntausenden von Menschen starten. Das ist das sogenannte «Pop-up»-Prinzip.
Haben sich deine damaligen Erwartungen erfüllt?
Ich erinnere mich an die Diskussion bei der Wahl von Obama zum US-Präsidenten 2008 darüber, wie die sozialen Medien die Politik verändern würden. Auch in der Schweiz wird vor jeder Wahl gesagt, Social Media würden dieses Mal alles verändern. Was ist passiert? Wenig bis nichts. Das schweizerische System ist, historisch bedingt, sehr resilient. Es ist darauf ausgerichtet, die grössten Differenzen zu absorbieren. Es ist derart widerstandsfähig, dass es auch den Auswirkungen von sozialen Medien – im Vergleich zum Ausland – besser standgehalten und diese abgemildert hat. Die hektische Natur der sozialen Medien konnte nicht in unsere langsamen politischen Prozesse eindringen. Tatsächlich kann ich mich an keine einzige Schweizer Abstimmung erinnern, bei der die sozialen Medien eine Schlüsselrolle gespielt hätten. Eine Ausnahme war vielleicht der Klimastreik 2019, als eine soziale Bewegung entstanden ist und die nationalen Wahlen dominierte. Ohne Smartphones wäre das nicht möglich gewesen.
«In der Schweiz wird vor jeder Wahl gesagt, Social Media würden dieses Mal alles verändern. Was ist passiert? Wenig bis nichts.»
Ist die behauptete Trägheit wirklich eine Besonderheit der Schweiz? Auch in anderen Ländern scheinen sich die politischen Systeme durch die Digitalisierung nicht grundlegend verändert zu haben.
Das Phänomen Donald Trump wäre ohne soziale Medien nicht möglich gewesen. Trump steht für eine neue Form der Politik: eine «Tweet-Politik», die persönlich kommuniziert, in einer Unmittelbarkeit, die es vorher nicht gab. In der Schweizer Politik hat sich das nicht durchgesetzt. Auch Bundesräte twittern, aber das ist völlig nebensächlich.
Dies könnte zur pessimistischen Schlussfolgerung führen, dass die Politik schnelllebiger, populistischer und weniger verlässlich wird.
Die sozialen Medien führen zu einer Dynamisierung der Politik. Politiker präsentieren sich anders. Sie sind nicht mehr die grossen Strategen, sondern Instantpolitiker, die im Minutentakt auf kurzfristige Trends reagieren. Das bringt Vorteile, aber auch Herausforderungen für das politische System. Die Herausforderungen sind in anderen Ländern aber grösser als in der Schweiz.
Wo siehst du die grösste Chance der Digitalisierung?
Computer und Internet sind der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar, durch den Ideen schneller verbreitet werden konnten. Die Möglichkeiten der Bürger, sich zu informieren und zu partizipieren, haben sich dadurch massiv verbessert. Sie tragen aber auch eine grössere Verantwortung. Das führt zu einer Spannung: Die Bürgerinnen und Bürger können mehr Aufgaben selber übernehmen – unabhängig vom Parlament oder der Regierung.
Das Gegenargument ist, dass die Digitalisierung auch die Manipulation von Bürgern vereinfache. Man denke an Fälle wie von Cambridge Analytica.
Die Digitalisierung eröffnet der Propaganda neue Möglichkeiten. Doch historisch gesehen ist Propaganda meist mit einem staatlichen Unterdrückungsapparat verbunden. Wo dieser Apparat nicht vorhanden ist, führt die Digitalisierung zu Meinungsvielfalt und einer gut informierten Bevölkerung. Propaganda ist meist langweilig und nutzt sich schnell ab.
Du hast dir mit der Stiftung für direkte Demokratie die «Demokratisierung der Demokratie» auf die Fahne geschrieben. Das klingt sehr blumig. Was kann man sich darunter vorstellen?
Die Digitalisierung öffnet Spielräume und stärkt die Partizipation: Initiativen und Referenden lassen sich einfacher lancieren. Unsere Stiftung hilft dabei, Projekte auf die Startrampe zu schieben, die sonst wenig Chancen hätten.
Ist es möglich, eine Volksinitiative allein aus dem Netz heraus zustande zu bringen?
Ja, das geht. Man braucht eine kritische Masse von engagierten Personen, die bereit sind, Zeit und Geld in das Projekt zu investieren. Man braucht tausend Leute, die je hundert Unterschriften sammeln, dann knackt man die Hürde von 100 000 Unterschriften für eine Initiative. Gerade bei Themen, die Menschen unter den Nägeln brennen, ist das möglich. Und die grosse Veränderung kommt erst.
Nämlich?
Nach wie vor dürfen wir Initiativen nur mit Stift und Papier unterschreiben. Aufs digitale Unterzeichnen, das sogenannte E-Collecting, warten wir in der Schweiz noch immer, im Gegensatz zur elektronischen Stimmabgabe. Technisch wäre E-Collecting schon lange möglich und umsetzbar. Aber die Politik wollte das bisher nicht.
Warum?
Fast alle Interessengruppen, die heute im Parlament vertreten sind, haben null Interesse daran, dass sich neue politische Akteure artikulieren und Initiativen starten könnten.
Das hört sich ein wenig wie eine Verschwörungstheorie an.
Nein, das ist nur unspektakuläre, aber wirksame Verzögerungspolitik. E-Collecting käme der Opposition, kleineren Gruppen und Organisationen zugute, die nicht im Parlament vertreten sind. Die etablierten Parteien jubeln selten, wenn Bürgerinnen und Bürger sich unabhängig organisieren und eine Initiative starten; natürlich verteidigt das Establishment seinen Einfluss auf die politische Agenda.
Andererseits treibt der Bund mit grossem Aufwand die Einführung von E-Voting voran.
Historisch gesehen war die Schweiz eine Pioniernation beim E-Voting, obwohl die technischen Fragen schwierig und die Risiken enorm sind. Der Grund, dass E-Voting vorangetrieben wurde, ist, dass es einen sehr geringen Einfluss auf Abstimmungs- und Wahlresultate hat. Dieser Teil der digitalen Demokratie ändert im Vergleich zum E-Collecting wenig und stört den Status quo nicht.
Welche Rolle könnte künstliche Intelligenz (KI) für die Demokratie spielen?
Mit KI könnte die Schwarmintelligenz grosser Menschenmassen genutzt werden. Wenn zehn Bürger in einem Raum über ein Thema diskutieren und in einem deliberativen Prozess Lösungen für ein Problem suchen, funktioniert das mit Moderation ganz gut. Sind jedoch Hunderte, Tausende oder noch mehr Leute beteiligt, könnten KI-Tools mithelfen, Debatten so zu organisieren, dass etwas dabei herausschaut. KI kann etwa bei Vernehmlassungsantworten, an denen viele mitarbeiten, den Überblick erleichtern und Argumente gewichten. Jede Minute, die ein Bürger für ein politisches Projekt aufwendet, ist in irgendeiner Weise kostspielig. Solche Prozesse sollten deshalb zeitsparend und effizient sein.
Aber wollen die Bürger überhaupt mehr digitale Instrumente in der Demokratie? Viele scheinen zufrieden zu sein mit unserem politischen System, wie es ist.
Die Nachfrage ist eindeutig da und wird zunehmen, wenn der Aufwand, sich an der Demokratie zu beteiligen, durch Onlineangebote sinkt. Schwarmintelligenz kann aber leicht in eine Kakophonie umschlagen. Es reicht nicht aus, dass Tausende von Menschen zusammenarbeiten, man benötigt Werkzeuge, sodass aus Quantität Qualität werden kann. Die Vernehmlassung ist ja eigentlich das Herzstück der Schweizer Demokratie, hat doch jede Person theoretisch das Recht, an einer Vernehmlassung teilzunehmen. Dass das Verfahren immer noch mit PDFs funktioniert, ist absurd.
Auf einer Skala von 1 bis 100: Wie viel des positiven Potenzials der Digitalisierung für die Demokratie wird derzeit genutzt?
Heute sind es weniger als 50 Prozent. Aber die heutige Skala wird in den nächsten Jahren gesprengt werden. Wir stehen ganz am Anfang der Digitalisierung von politischen Prozessen, gerade was die Skalierung der Bürgerbeteiligung betrifft. Deshalb sollten wir über den Umbau der direkten Demokratie nachdenken: Neben Initiativen und Referenden braucht es neue Instrumente für die Partizipation, beispielsweise die Volksmotion. Sie ist in einigen Kantonen ein etabliertes Volksrecht, um Forderungen direkt ins Parlament zu tragen. Die Volksmotion ist auch ein schönes Beispiel dafür, dass das föderale System ein hervorragendes Demokratielabor ist. Wir müssen die Demokratie in der Schweiz also nicht neu erfinden, aber wir sollten sie zügig weiterentwickeln.