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Das  Erklimmen  der Pyramide ist mühsam
Iris Bohnet, Bild: Phil Dera / laif.

Das
Erklimmen
der Pyramide ist mühsam

Die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt lässt sich nur schwer bekämpfen. Sie ist oft Vorurteilen und impliziten Konventionen geschuldet.

 

Es steht ausser Frage, dass in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung gemacht wurden. Dass Frauen seit 50 Jahren das Stimmrecht in der Schweiz haben, ist ein untrüglicher Ausdruck dieser Verbesserung – auch wenn es im internationalen Vergleich natürlich sehr spät kam. Nicht minder wichtig ist, dass darüber hinaus gerade in globaler Perspektive viele weitere, lange bestehende Unterschiede zwischen Männern und Frauen verringert werden konnten: in der Gesundheit, in der Ausbildung und in der Politik. Zudem gibt es mittlerweile deutlich mehr Frauen in der Arbeitswelt, wobei hier die Unterschiede immer noch sehr gross sind, vor allem was die Führungsetagen anbelangt. An den Veränderungen zeigt sich auch, wie langsam der Fortschritt bisweilen ausfällt – und wie anfällig er für Rückschläge ist. In den entwickelten Ländern sorgte beispielsweise die Pandemie dafür, dass mehr Frauen als Männer den Arbeitsmarkt wieder verlassen haben, darunter vor allem Mütter kleiner Kinder. Ausserdem hat häusliche Gewalt zugenommen, ein Sachverhalt, der in den letzten Monaten aufgrund von Daten aus Krankenhäusern ans Licht kam.

Mittlerweile ist klar: Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt kann es ohne Gleichberechtigung zu Hause nicht geben – und umgekehrt. Lohnungleichheiten haben einen direkten Einfluss auf die Gleichstellung im Privaten. Nehmen wir als Beispiel ein Paar, in dem beide Friseure sind: Verdient der Mann 10 bis 20 Prozent mehr als seine Frau, stellt sich in der Regel die Frage nicht, wer sich auf dem Arbeitsmarkt weiterentwickeln soll. Dass es diesbezüglich Verbesserungen gegeben hat, ist oftmals das Resultat kreativer Lösungsversuche, die von manchen Staaten initiiert worden sind, um der Gleichberechtigung zu mehr Nachdruck zu verhelfen. Forschungsarbeiten aus Skandinavien etwa zeigen, dass Väter, die den Vaterschaftsurlaub in Anspruch nehmen, langfristig mehr Zeit mit ihren Kindern und im Haushalt verbringen werden, was sich wiederum gesellschaftlich positiv niederschlägt, was die Rolle von Männern und Frauen angeht.

In globaler Perspektive wird der Zusammenhang zwischen Eheleben und Arbeitsmarkt besonders deutlich. In Lateinamerika beispielsweise ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Bildung umgedreht worden. Dort gibt es inzwischen mehr Frauen mit tertiärer Ausbildung – das heisst mit Universitätsabschlüssen – als Männer. Das hat sich sowohl auf den Arbeits- wie auch auf den Heiratsmarkt ausgewirkt, da Männer oft eher Frauen ehelichen, die weniger gut ausgebildet sind als sie selbst, Frauen dies aber umgekehrt nicht tun. Gut ausgebildete Frauen und schlecht ausgebildete Männer bleiben daher eher alleinstehend. Auch in der Golfregion können mittlerweile viel mehr Frauen eine universitäre Ausbildung vorweisen als Männer. Dort hat man erkannt, dass der eigene Talentpool riesig ist, was dem Umstand, nicht genügend hochausgebildete Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben zu können – oder dass man solche nicht im Land haben möchte –, entgegenwirkt. Von einer Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt ist man aber noch weit entfernt. Dieser ist in Staaten wie Saudi-Arabien, wo Frauen erst kürzlich das Recht zum Autofahren erhielten, nach wie höchst segregiert.

Hartnäckige Unterschiede in Karriereverläufen

Ein weiteres Problem ist die Karriereentwicklung, die einen grossen Teil der Bruttolohnunterschiede zwischen Männern und Frauen ausmacht. Nach wie vor gibt es nur wenige weibliche CEOs und andere Höchstverdienende, genauso wie nur wenige männliche Kassierer im Supermarkt oder Krankenpfleger im Spital anzutreffen sind. Hier spielen Vorurteile, Diskriminierung und Stereotypen, die Frauenkarrieren beschränken oder verhindern und Männern die Berufswahl einschränken, weiterhin eine Rolle.

Dies führt zu einer Pyramide: Es gibt zwar viele Frauen am Karrierebeginn, aber immer weniger, die es tatsächlich ins mittlere Management schaffen – und noch weniger an die Spitze von Unternehmen. Ihr Aufstieg wird durch verschiedenste Faktoren verhindert. Oftmals sind die Vorurteile implizit und die Barrieren informell – der Chef, der nicht daran denkt, seine Mitarbeiterin vor dem Verwaltungsrat sprechen zu lassen, sie weniger ins Rampenlicht stellt oder nicht auffordert, sich mit wichtigen Kunden und Kundinnen zu treffen. Wer Gleichstellung zwischen Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt fördern will, muss deshalb informelle Unterstützungsstrukturen genauso ausleuchten wie formelle Prozesse wie Anstellung und Beförderung.

Beförderungsverfahren sind dabei speziell aufschlussreich. Viele Firmen bewerten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinsichtlich ihrer bereits erbrachten Leistungen und ihres Potenzials, weitere Karriereschritte zu machen. Hier zeigt sich, dass der Unterschied in der Bewertung der Leistung von Männern und Frauen in den letzten Jahren geringer geworden ist, während es in der Frage des jeweiligen Potenzials jedoch kaum Veränderungen gegeben hat. Das hat mit beharrlichen Stereotypen zu tun, denn viele können sich immer noch nicht vorstellen, dass eine Frau tatsächlich an die Spitze eines Unternehmens gelangen möchte. Als Teufelskreis haben sich zudem firmeninterne Selbstbeurteilungen herausgestellt, mit denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich als Teil der alljährlichen Beurteilung selbst einschätzen. Frauen tendieren dazu, ihre Leistung weniger positiv als Männer zu sehen, und weil die Resultate solcher Selbstbeurteilungen ihren Vorgesetzten übergeben werden, kann dies unmittelbare Folgen für die Bewertung haben. In vielen Firmen sind solche Mitarbeiterbeurteilungen ausschlaggebend für Boni und beeinflussen auch, wer in Karriereförderprogramme aufgenommen oder für eine Beförderung vorgesehen wird.

Während die Kategorie «Geschlecht» in den Sozialwissenschaften zu einem festen Parameter der Analyse geworden ist, liegt ein Problem für die Forschung zur Ungleichheit zwischen Mann und Frau nun darin, dass viele Firmen risikoavers sind, was die Freigabe entsprechender Zahlen anbelangt. In manchen Ländern, Frankreich etwa, dürfen gewisse Daten gar nicht erst erhoben werden – so etwa Zahlen zur Ethnizität, die, wie wir aus Studien aus den Vereinigten Staaten wissen, als interdependente Kategorie mit Geschlecht eine erhebliche Rolle auf dem Arbeitsmarkt einnimmt. Glücklicherweise spielen harte Fakten aber auch im Personalwesen eine immer wichtigere Rolle. Interessanterweise lernen die Firmen dabei häufig von anderen Bereichen, in denen Evidenz schon länger auf der Tagesordnung steht. In der Marktforschung wird beispielsweise sehr rigoros eruiert, ob ein Shampoo hellblau oder rosafarben sein und ob es nach Veilchen oder nach Rosen riechen soll, damit es von möglichst vielen Kundinnen und Kunden gekauft wird. Genau die gleiche Rigorosität müssen wir im Personalwesen anwenden, um verschiedene Fragen besser zu verstehen: Wer bewirbt sich für eine ausgeschriebene Stelle und wer nicht? Wie viel verdienen Männer und Frauen in der gleichen Funktion, bei gleicher Ausbildung und Erfahrung, wenn sie gleich gute Leistung bringen? Wie lange müssen Männer und Frauen in einer Funktion tätig sein, bevor sie befördert werden? Die meisten Firmen würden sagen, dass talentierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre wichtigste Ressource seien. Entsprechend sollten wir sie auch behandeln.

«Nur wer 100 Prozent

des Talentpools nutzt, wird im zunehmenden

Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte bestehen.»

Mangel an Vorbildern

In der Gegenwart gibt es wohl so viele weibliche Staatsoberhäupter wie noch nie zuvor in der Geschichte, und auch Verwaltungs- und Aufsichtsräte in der Privatwirtschaft sind mittlerweile weitaus diverser, als sie es jemals waren. Allerdings zeigt die Forschung, dass diese neu gefundene Vielfalt an der Spitze nicht automatisch zu mehr Diversität in Firmen führt. In Norwegen beispielsweise beträgt der Anteil von Frauen in Verwaltungsräten schon seit etwa 15 Jahren 40 Prozent; der Anteil von Frauen in anderen Führungsfunktionen ist aber nicht entsprechend gestiegen. Warum? Mitarbeiterinnen sehen Verwaltungsrätinnen nur selten als Vorbilder. Sie sind zu abgehoben, zu wenig sicht- und greifbar – ähnlich, wie der frühere amerikanische Präsident Obama als Vorbild oftmals nicht greifbar war für schwarze Amerikaner. So stellt sich die Frage: Wie weit darf ein potentielles Vorbild von den konkreten Lebenserfahrungen eines Menschen entfernt sein, dass es noch motivierend wirkt?

Am Beispiel Indiens lässt sich dies erläutern: Indira Gandhi, die von 1966 bis 1977 und von 1980 bis 1984 Premierministerin des Landes war – damals auch für die westliche Welt noch ungewöhnlich –, hat für die durchschnittliche Inderin kaum eine Rolle gespielt. Ganz ein anderes Bild zeigte sich, als Indien 1993 Quoten für Bürgermeisterämter einführte, gemäss denen ein Drittel dieser Posten mit Frauen besetzt werden müssen. Die Entwicklungen seither sind gut dokumentiert. Ein Dorf, das in den vergangenen 28 Jahren nur einmal eine Bürgermeisterin hatte, denkt heute nicht anders über Gleichberechtigung. Stand einem Dorf jedoch mindestens zweimal eine Frau vor, kam es zu auffälligen Veränderungen: Frauen trauten sich öfters zu, sich für politische Ämter zu bewerben, sich öffentlich zu äussern oder häusliche Gewalt bei der Polizei anzuzeigen. Zudem ist an diesen Orten bei vielen Familien zu beobachten, dass beispielsweise eine politische Karriere eine wichtige Aspiration für ihre Töchter ist. Je greifbarer ein Vorbild für ein Individuum ist, desto mehr verleihen solche Menschen anderen den Mut, selbst einen solchen Weg einzuschlagen.

Um Chancengleichheit eine Realität werden zu lassen, müssen Firmen diese Aufgabe genauso ernst nehmen wie andere Firmenziele. CEOs können Gleichberechtigung nicht einfach an eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter delegieren, denn Diversity-Beauftragte allein werden nichts ändern: Es muss ein Thema sein, das – ähnlich dem Umweltschutz – nicht unter «ferner liefen» abgetan werden kann. Während Forschung und Datenanalysen den Weg aufzuzeigen vermögen, wie Firmen ein Personalsystem schaffen können, das Männern und Frauen tatsächlich die gleichen Chancen gibt, braucht es den Willen der Führung, damit diese Einsichten auch tatsächlich umgesetzt werden.

«Mittlerweile ist klar:

Gleichberechtigung auf dem ­Arbeitsmarkt

kann es ohne Gleichberechtigung zu Hause

nicht geben – und umgekehrt.»

Den ganzen Talentpool nutzen

Kürzlich hat eine Gruppe von Führungspersonen aus Forschung und Praxis sozusagen ein Rezept für Chancengleichheit in der Tech-Branche, den ACT-Report («Action to Catalyze Tech»), zusammengestellt. Mehr als 30 Firmen haben bereits unterschrieben, entsprechende Massnahmen einzuführen, und sich verpflichtet, gleichstellungsrelevante Daten transparent zu machen, sich Ziele zu setzen und sich regelmässig zu treffen, um Fortschritte und Rückschlage zu diskutieren und gemeinsam zu lernen. Dieses Modell könnte Vorbildfunktion für andere Sektoren haben.

Chancengleichheit muss für alle gelten. Wenn ein Mädchen aus einem kleinen Ort in abgelegener Region eine Bürgermeisterin sieht oder eine Frau, die eine Bankfiliale leitet oder einen Lebensmittelladen führt, kann sie sich eher vorstellen, in solche Berufe einzusteigen und die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Führungsfrauen müssen im 21. Jahrhundert zur Normalität werden. Nur wer 100 Prozent des Talentpools nutzt, wird im zunehmenden Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte bestehen.

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Gabriela Manser & Sabina Schumacher Heinzer, fotografiert von Daniel Jung
«Wir müssen Vorbilder sein für die jungen Frauen»

Zwei Chefinnen von Schweizer Familienunternehmen geben Auskunft über Frauenkarrieren im Jahr 2021. Dabei geht es um Ausbildungswege, militärische Ausdrucksweisen und weibliche Führungsqualitäten.

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