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Bruno S. Frey, zvg.

Das Ende der Geschichte?

Nein. Sie entwickelt sich neu.

 

1992 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama das Buch «The End of History and the Last Man». Es wurde gerade wegen seines eingängigen Titels zu einem Riesenerfolg und im gleichen Jahr unter dem Titel «Ende der Geschichte. Wo stehen wir?» ins Deutsche übersetzt. Das Buch wurde intensiv diskutiert, denn es erschien zu einer Zeit, in der die Geschichte für manche zu Ende schien. Die mächtige und bedrohliche Sowjetunion mit ihren vielen Satellitenstaaten in Osteuropa war ­gerade zusammengebrochen. Der Sieg der demokratischen Marktwirtschaft über die Planwirtschaft war offensichtlich.

Manche Diskutanten des Buches haben jedoch bald festgestellt, dass diese Folgerung voreilig war: Die Geschichte war keineswegs zu Ende, sondern entwickelte sich neu. Chinas Aufstieg als wirtschaftliche und politische Weltmacht wurde deutlich – und damit der Machtverlust der Vereinigten Staaten und Europas. Der Terrorismus ist aufgeblüht und hat in vielen Staaten Schrecken verbreitet. Flüchtlinge werden in vielen europäischen Ländern als Bedrohung angesehen und haben zu einem politischen Rechtsrutsch geführt. Ein autokratisch regiertes Land wie Singapur ist für manche Betrachter zu einem Vorbild für eine rasche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung geworden.

In seinem Buch «Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment» aus dem Jahr 2018 weist Francis Fukuyama auf ein fundamentales Missverständnis hin. Er schreibt: «The word end was meant not in the sense of termination but target or objective.» Er behauptet somit keineswegs, die Geschichte sei zu Ende, sondern befasst sich mit der Frage, auf welches Ziel die Geschichte hinsteuert, und ist damit in der Tradition von Hegel und Marx. Der deutsche Titel «Ende der Geschichte» ­verleitet jedoch zu einer falschen Interpretation.

Fukuyama kann dennoch sehr zufrieden sein. Gerade weil er weitherum falsch verstanden wurde, ist sein Buch ein Best­seller geworden. Vermutlich hätte seine Interpretation von ­Hegel und Marx weit weniger Aufmerksamkeit gefunden. Es zeigt sich wieder einmal: Glück muss der Mensch haben!

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