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Das dreifache Ende der Kunst

Rearistokratisierung, Starkult und harte Konkurrenz:
Was bleibt, wenn der autonome Künstler, sein Werk und Ideal Geschichte sind?

Das dreifache Ende der Kunst
Wolfgang Ullrich, photographiert von Christoph Busse / Visum.

Wolfgang, was macht die Kunst?

Sie zerstiebt in alle Richtungen. Und diffundiert langsam in andere Bereiche unserer Gesellschaft.

Optimistisch interpretiert bedeutet das: Kunst ist überall. Pessimistisch ausgelegt: Kunst verschwindet.

Wir leben heute in einer Welt, in der Kunst sich immer mehr an andere kreative Berufe annähert, den Designer, den Architekten, den Regisseur, den Modemacher. Die sind alle strukturell ähnlich organisiert. Da droht tatsächlich der Sonderstatus der Kunst verloren zu gehen. Heutige Künstler entwerfen längst auch Lampen und Stühle, Sofas und Teppiche. Sie statten ganze Räume aus. Wenn man etwa das Haus eines Sammlers betritt, kann man nicht sofort erkennen, was von ihm als Design, was als Kunst gekauft wurde. Erst wenn man die Marktverhältnisse kennt, weiss man: das eine hat 10 000, das andere aber 500 000 Franken gekostet. Die Besonderheit der Kunst gegenüber Design oder Mode wird heute überwiegend durch extrem hohe Preise zu wahren versucht.

In deinem Buch «Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust» spürst du diesem Phänomen nach. Zunächst: was ist das, «Siegerkunst»?

Die simpelste und für sich allein noch nicht sehr viel aussagende Definition ist: Siegerkunst ist Kunst von Siegern für Sieger. Dahinter steckt die These, dass Siegerkünstler nicht mehr unbedingt die Rolle eines Bohémiens, eines Aussenseiters, eines verkannten Genies, eines in irgendeiner Form am Rande der Gesellschaft stehenden Künstlers innehaben, sondern Sieger in ökonomischem Sinne sind, auch ihren Status betreffend. Sie werden wie Stars gehandelt. Künstler kokettieren vielleicht manchmal noch mit dem alten, seit der Romantik gepflegten Selbstbild, aber eigentlich inszenieren sie sich viel lieber als Stars, als Unternehmer, als Inhaber einer Marke. Und ihre Kunst findet besonders viel Aufmerksamkeit bei Siegern der Gesellschaft, den besonders Erfolgreichen, nur Reichen, Berühmten.

Darin liegt ja vielleicht doch eine gewisse ästhetische Eigenschaft: Kunst, die stark auf Repräsentation angelegt ist.

Genau, es geht ihr nicht darum, den Betrachter zu läutern oder ihn in ein neues Erkenntnisstadium zu versetzen. Sie ist nicht mehr am Rezipienten orientiert, der in der Moderne sicher die Leitfigur für den Umgang mit Kunst war, sondern am Sammler und Besitzer, an demjenigen, der demonstrativ viel Geld dafür ausgibt und sich selbst damit in Szene setzt. Und sie ist dann am wirksamsten, wenn in irgendeiner Weise unnachvollziehbar bleibt, warum sie so teuer ist. Damit wird das Geldausgeben selbst zum Gegenstand der Kunst. Denn: wenn jemand viel Geld für eine Segelyacht oder für ein Altmeistergemälde ausgibt, dann wird vielleicht die Mehrheit der Menschen immer noch darüber staunen, dass jemand dieses Geld hat – aber das Investment dennoch für halbwegs nachvollziehbar halten. Wenn aber jemand das Geld für etwas ausgibt, was in irgendeiner Weise als hässlich, trashig, handwerklich schlecht gemacht, nicht lang haltbar, ja obszön erscheint und eigentlich alles dementiert, was man traditionell auch von Kunst erwartete, dann entsteht eine Art von Erhabenheitseffekt. Erhabenes lässt sich nämlich rational nicht fassen, es lässt einfach nur staunen. Die einen schüchtert das ein, andere beunruhigt es. Diese Erhabenheit ist der ästhetische Effekt, auf den Siegerkunst abzielt.

Wenn wir an die Renaissance oder den Manierismus denken, müssen wir feststellen: Kunst war nie billig. Was ist also heute diesbezüglich anders?

Es ging damals nie darum, den Effekt zu erzielen, dass Kunst unnachvollziehbar teuer war. Es war Prunk, es war Protz, es war Inszenierung von Reichtum – aber es war nicht das Erarbeiten dieser Art von Erhabenheitseffekt. Das scheint mir das historisch Neue und Besondere der Siegerkunst zu sein. Dennoch kehrt vieles mit dieser Kunst wieder, was in der Moderne überwunden war und was sich als Rearistokratisierung des Kunstsystems beschreiben lässt.

Eine Art neue Hofkunst also. Die zielte aber auch damals schon auf das, was du den Alleinstellungseffekt des Auftraggebers nennst, nicht?

Die Rückkehr einer Kunst, die primär repräsentative Funktionen erfüllt, sagt heute oft mehr über ihren Besitzer, ihren Käufer, ihren Sammler als über sich oder die Beziehung des Betrachters zum Werk. Das bringt viele Konsequenzen mit sich, so eben, dass jetzt der Besitzer, der Sammler zur Leitfigur des Umgangs mit Kunst wird. Dies wirkt sich wiederum auf die Produktion der Kunst aus – wir finden hier eine Erklärung dafür, warum heute wieder mehr und offen als solche verhandelte Auftragskunst entsteht. Die Künstler, die in diesem Segment tätig sind, sehen sich in gewisser Weise als gehobene Dienstleister, selbstverständlich mit dem Anspruch, eine Marke, ein Global Player und sehr gut vernetzt zu sein.

Also sind Siegerkünstler gar nicht mehr autonom, schaffen nicht mehr aus der Unabhängigkeit heraus Werke, sondern sehen sich auch als Teil der grossen ökonomischen Welt?

 Ja. Auftragskunst gibt es aber natürlich nicht nur im Bereich der Siegerkunst, sondern genauso im Bereich der Biennalen-Kunst oder bei Bauwettbewerben. Auch in der Moderne gab es immer Auftragskunst, nur wurde sie eher verschwiegen, weil sie mit dem Selbstbild der Künstler als autonome Figuren inkompatibel schien. Heute wird sie dagegen sehr offen kommuniziert und kann sogar als positiver Imagefaktor verwendet werden.

Ähnlich dem positiven Imagefaktor, der entsteht, wenn ein Künstler sagt, dass er seine Kunst «outsource», seinen eigenen Mitarbeiterstab hat und gar nicht mehr selbst den Pinsel schwingt?

 Genau. Noch bis vor zwei Jahrzehnten wäre ein Künstler, der solcherlei verrät, weg vom Fenster gewesen.

Was gewinnt denn der Gegenwartskünstler, wenn er seine historisch erkämpfte Autonomie öffentlich aufgibt?

Er gewinnt Weltläufigkeit, eine Art von Sprezzatura, eine Souveränität. Er ist nie in die Enge zu treiben, nie in Verlegenheit zu bringen. Seine neuen Leitbegriffe heissen Flexibilität und Vielseitigkeit. Der Künstler beweist sich darin, dass er auf jede Art von Auftrag, jede Art von Situation angemessen reagieren kann. Site-specific ist ein Zauberwort in diesem Zusammenhang. Denken wir an jemanden wie Olafur Eliasson, der weltweit rumtingelt, oder Ai Weiwei, der jeden Tag woanders ist. Ihnen geht es darum zu sagen: «Ich kann auch hier – in dieser Kultur, an dem Ort, in diesen Proportionen, mit dem Budget, mit dem Auftraggeber – meine Kunst machen.»

Wie wird man denn Teil dieses Systems? Anders als auf den Massenmärkten Musik, Literatur oder Film, die doch recht demokratisch funktionieren, herrschen in der bildenden Kunst nach wie vor Gatekeeper wie Kritiker oder Museumsdirektoren. Wer entscheidet heute?

Auch bei den Gatekeepern kann man eine Rearistokratisierung feststellen, so dass einige wenige im Grunde ihren Geschmack durchsetzen können. Der Weg zum Erfolg ist im Bereich der Siegerkunst völlig abhängig von ein paar Sammlern, ein paar Galeristen, ein paar einflussreichen Kuratoren, die im Wesentlichen unter sich ausmachen, wer jetzt zu den ganz Erfolgreichen gehört.

Konkreter?

Die Karriere eines Siegerkünstlers verläuft in mehreren Etappen. Er muss natürlich erst einmal die Aufmerksamkeit einiger grosser Sammler finden, dann muss er aber auch in der Lage sein, seine Produktion so auszubauen, dass er «globalisierbar» wird. Man kann nicht Siegerkünstler werden, wenn man eigenhändig in aufwendigster Technik malt und nur drei Bilder im Jahr zustande bringt – man muss eine globale Nachfrage auch befriedigen können. Auch muss der Künstler auf interne Konkurrenz zwischen den Sammlern eingehen können, erst so kann er irgendwann die oberste Stufe erreichen.

Haben die neuen potenten Sammler das alte, traditionelle Museum-Archiv-Werte-Modell abgelöst?

Das Museum ist nun eine Institution, die höchstens das abbildet, was sich andernorts längst entschieden hat. Es sind nicht die Museen, die einen neuen Trend identifizieren, neue Künstler rausbringen oder einen Kanon stiften – Museen zeigen eigentlich nur, was der Markt an Kanonbildung bereits geleistet hat.

Aber Museen könnten doch auch einen Kanon bilden, indem sie ganz bewusst eben nicht die Top Five des Kunstmarktes zeigen?

Einige versuchen das. Insbesondere kleinere Institutionen und Kunstvereine. Ich habe aber das Gefühl, dass sie nicht wahnsinnig erfolgreich sind, denn die Macht der Zahlen ist so gross, dass Kunst, die damit nicht aufwarten kann, im Vergleich immer schon schwachbrüstig daherzukommen scheint. Zumindest beim Typ des Siegerkünstlers ist es jetzt eher das Ziel, in bestimmten grossen Privatsammlungen vertreten zu sein, irgendwelche Rekorde zu erzielen und neue Maxima an Aufmerksamkeit zu finden. Ein Jeff Koons denkt vielleicht noch an Museen; er achtet auch sehr auf die Haltbarkeit seiner Kunst. Aber Siegerkünstler à la Damien Hirst und Takashi Murakami haben die Idee, zu Lebzeiten zu einer so starken Marke zu werden, dass diese Marke auch ihren biologischen Tod überlebt. So wie es heute noch Walt Disney oder Versace gibt, so könnte es auch im 22. Jahrhundert noch Damien Hirst geben.

Du sprachst bisher nur von Siegerkünstlern – was ist mit Starkünstlerinnen wie etwa Marina Abramović?
Verhindert das Fehlen von physischen Werken den Zugang zu den Siegerkünstlern?

Abramović ist für mich tatsächlich keine Siegerkünstlerin, sondern steht für einen Künstlertypus, der den in der Moderne vorherrschenden Begriff vom Künstler in anderer Weise überwindet. Abramović hat verstanden, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Kreativität eine von allen verlangte, aber für alle zugleich knappe Ressource ist und in der dem Künstler eine ganz neue Aufgabe zukommt. Wo die Siegerkunst exklusiv, repräsentativ, elitär ist, beruht das Künstlerbild, das Abramović – zumal in den letzten Jahren – verkörpert, auf einer Idee des Gebens, ja von «Free Access». Es gibt keine Zugangshürden, man muss nicht Geld ausgeben, um partizipieren zu können. Der Künstler als eine Art Muse, die selbst keine Werke schafft, aber ermöglicht, dass andere Werke schaffen – oder zumindest teilhaben und inspiriert werden können.

Beide Typen – Siegerkünstler und Musenkünstlerin – gibt es heute gleichzeitig und mit ähnlichem Bekanntheitsgrad. Und beide scheinen das Bild des modernen Künstlers hinter sich gelassen zu haben.

Ja. Nur laufen sie in entgegengesetzte Richtungen. Der Siegerkünstler ist Unternehmer und Auftragskünstler. Er sucht und schätzt das Exklusive. Der Typus des Musenkünstlers dagegen möchte andere Menschen stimulieren und ihnen die Chance geben, an der Kreativität gleichberechtigt teilzuhaben.

Wir sind damit beim Kreativitätsdiskurs angelangt. Dein zweites neues Buch heisst «Der kreative Mensch. Streit um eine Idee». Zunächst: wer streitet denn da?

Im ersten Kapitel inszeniere ich ein fiktives Streitgespräch zwischen Joseph Beuys und Jonathan Meese. Beuys wurde ja mit der Losung berühmt, dass jeder Mensch ein Künstler sei, auch wenn er als Krankenschwester arbeitet oder im Büro – er kann immer seinen eignen Dreh finden, sich letztlich gestalterisch betätigen. Für Jonathan Meese ist das absurd. Kunst ist für ihn: l’art pour l’art. Alles andere ist: alles andere. Dadurch versucht er noch einmal das alte Bild des Künstlers als einer autonomen Figur zu retten. Zugleich spricht er alle anderen Menschen von dem Imperativ frei, kreativ sein zu müssen.

Wer gewinnt diesen Streit?

Insgesamt natürlich Beuys. Im aktuellen Zustand unserer Kultur hat sich sein Paradigma durchgesetzt. Nur zeigt sich auch, dass die Menschen nie zuvor so bedürftig nach Inspiration waren wie heute, nicht zuletzt weil sie nun eben kreativ sein müssen. Und die Inspiration dazu erwarten die Menschen erneut vom Künstler.

Das klingt nach doppeltem Kreativitätszwang – gegenüber dem Künstler, aber auch gegenüber sich selbst.
Genau. Von diesem Bedürfnis her rührt auch der ganze Wellness- und Ernährungsboom; unsere Konsumkultur ist darauf ausgerichtet, dem Menschen das Gefühl zu geben, durch den «richtigen» Konsum könnte er inspiriert und damit kreativer werden. Nicht zuletzt die Wirtschaft fordert, dass jeder ein «starkes», «innovatives» Individuum sein soll. Ich denke, Beuys hat uns mit seinem Paradigma überfordert.

Also wäre wahre Avantgarde und Luxus, gar nicht kreativ sein zu müssen?

Ja. Und vielleicht wird irgendwann der Tag kommen, an dem man sich hinstellen und – ohne dafür ausgelacht zu werden – sagen kann: Ich bin nicht kreativ und das ist gut so.

Wobei dabei die Gefahr wäre, dass das selber als besonders originelle Idee erschiene und damit auch wieder unter dem Imperativ stünde, etwas Kreatives zu sein.

Es müsste wohl eine Geste sein, die die Kreativität nicht demonstrativ verweigert, sondern eher ein bisschen unterläuft. – Apropos Kreativitäts- und Originalitätszwang: neben der Siegerkunst und der Musenkunst gibt es noch eine dritte Form von Kunst, die auf Wiederholung, Reenactment setzt und so tatsächlich den Drang zum Immerneuen unterläuft. Ein Künstler, der in diesem Feld tätig ist, hat schon abgerüstet und definiert sich nicht mehr darüber, grosse autonome Werke zu schaffen, sondern als jemand, der das, was schon in der Welt ist, noch einmal reflektiert, der es in einen anderen Kontext, in ein anderes Format, in einen anderen Zusammenhang bringt. Das ist eine Anerkennung von Kreativität und vielleicht auch ein Ausloten von Grenzen der Kreativität.

Kunst über Kunst?

Ja, im weitesten Sinn eine Diskurskunst mit Restschwingungen der Moderne. Diese kommen hier langsam zum Erliegen, indem noch einmal sehr schön reflektiert wird, welche Möglichkeiten innerhalb des Paradigmas der Moderne bisher noch ungenutzt geblieben sind.

Heisst Ausschwingen dann auch Verschwinden?

Ja, der idealistische Begriff von Kunst, den wir seit der Romantik hatten, ist Geschichte. Auch die Siegerkunst bleibt nicht. Irgendwann wird die Grenze von Design und Kunst doch keine Rolle mehr spielen. Irgendwann gibt es einfach Luxusdesign – und darin wird das mit eingehen, was jetzt noch Siegerkunst ist.

Ob ein Auto oder ein Bild, ist letztlich egal. Endstation Design.
Wohin führt denn der andere Strang, die Musenkunst?

Dieser Strang führt dazu, dass das Artefakthafte der Kunst verloren geht. Auch ein Ende.

Und danach?

Nun, es wird auch viele andere, vielleicht ganz neue Formen geben, in denen sich Menschen schöpferisch betätigen, sie nennen sich dann aber nicht mehr «Künstler». Kreativität wird zur egalitären Substanz – und letztlich gehen dann auch Wellness und Kochen als eine Art «Kunst» durch und werden dahingehend aufs Podest gehoben, heroisiert. Schon heute werden ja Köche als künstlerisch tätige Stars gehandelt. Und wer hätte zum Beispiel vor 100 Jahren gedacht, dass man als Schweizer Tennisspieler Karriere machen, weltberühmt und «Role Model» für ganze Generationen werden kann? Jede Gesellschaft braucht herausgehobene Typen, an deren Schaffen man sich aufrichten oder orientieren kann. Für einige Jahrhunderte war das der Künstler – nun treten andere an seine Stelle.

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