Das Dorf ist ein Fluch
Alice Grünfelder: Jahrhundert-Sommer. München: dtv-Verlagsgesellschaft, 2023.
Geschieden zu sein, ist heutzutage ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen. Doch in den 1960er-Jahren in einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg war das ein Skandal. Magda erlebt das am eigenen Leib, als sie von ihrem Mann für dessen Sekretärin verlassen wird. Sie gilt fortan als Dorfschande: Niemand grüsst sie, ihre zwei Kinder werden gehänselt, und alle tratschen über sie. Fast zwei Jahre traut sie sich nicht mehr aus dem Haus, obwohl sie nichts verbrochen hat. Als ihre gute Freundin Snežana sie überredet, an ein Fest im Nachbardorf mitzukommen, zögert sie lange und gibt schliesslich nach. Hoffentlich sieht sie nur nicht ihren alten Mann, denn die Scham in der Öffentlichkeit ist zu gross. Doch im Verlauf des Abends lernt sie einen blonden amerikanischen Soldaten kennen und verbringt mit ihm einen unvergesslichen Sommer: «Ihr ganzes Glück damals. Ein Albtraum danach.»
Wieder ist sie alleine, und die Leute aus dem Dorf tuscheln, sie habe das blonde Neugeborene geklaut. Magda ist wütend auf die Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt, und fest entschlossen, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Als ihr Enkel Viktor eine neue Geschäftsidee vorschlägt, scheint es das Schicksal endlich gut mit ihr zu meinen. Doch das Glück erweist sich als Illusion.
Die Zürcher Autorin Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, erzählt vom Schicksal eines Menschen und zeigt am Beispiel einer Scheidung, was eine alleinstehende Frau in ländlicher Umgebung durchlebte. Ihr Roman lässt Magdas Verwandtschaft einzeln zu Wort kommen und ermöglicht es dem Leser so, die Erzählung aus verschiedensten Perspektiven zu verfolgen. Die mitreissende Familiengeschichte ist geprägt von diversen Überlebenskämpfen, dem Wunsch nach Selbstbehauptung und der Suche nach Glück, was zugleich die Kehrseite jedes Dorfidylls aufdeckt. Eine Lektüre, die viel über die Ära vor ’68 preisgibt und die man nicht so schnell aus der Hand legt.