Das Buch im Netz
Das «soziale Buch», der «klügste Mensch im Facebook» und das «Wort als Betriebssystem» – Verleger André Gstettenhofer über die wichtigsten Digitaltendenzen und die Schweizer Online-Ohnmacht in der Verlagsbranche.
Irgendwann um 2008 gingen der Buchbranche die Inhalte verloren. Die dominanten Schlagworte auf allen Buchmessen seitdem waren «Digital» und «E-Book», nicht die Autoren und ihre neuen Bücher. Grosse Teile der digitalen Versprechungen blieben bis heute Hypes von Start-ups, die der Buchbranche Lösungen für Probleme verkaufen wollten, die sie gar nicht hat – trotzdem erscheinen heute, anders als noch vor wenigen Jahren, viele neue Titel parallel als gedrucktes Buch und E-Book. Haben sich in der zwischen Weltuntergangs- und Aufbruchsstimmung schwankenden Verlagsbranche also die Wogen geglättet? Krise vertagt, das E-Book ins Programm eingebunden? Nein, dieser Eindruck täuscht. Denn: die grossen Publikumsverlage pflegen einen ambitionslosen Umgang mit dem Digitalen. Sie umgehen die Innovation, indem sie PDF-Druckfahnen in profane E-Books konvertieren. Unbequeme Fragen diesbezüglich werden vertagt oder einfach ignoriert. Warum ist das so?
Die Denkarbeit, was denn das «Digitale» mit der «Literatur», dem «Buch» machen kann, findet bis heute nicht bei den herkömmlichen Verlagen statt, sondern bei Aussenstehenden, die nicht an die starren Regeln des klassischen Buchbetriebes gebunden sind. Sie beginnen bei null und erfinden die Branche in relevantem Ausmass neu. Der grösste Teil dieser Denkarbeit konzentriert sich im deutschsprachigen Raum auf Berlin, in der Schweiz ist bis heute wenig zu spüren von einer digitalen Kompetenz hinsichtlich der Literatur. Während also in Deutschland beim Branchenverband ein offizieller «Arbeitskreis elektronisches Publizieren» mit Strahlkraft und prominenten Auftritten blüht, wird sich die Schweiz mit ihren roten SBVV-Sitzbänken auch beim grossen Gastlandauftritt 2014 in Leipzig wieder in hohem Masse analog präsentieren.
Vielleicht liegt das daran, dass sich in den Schweizer Verlagen seit Jahrzehnten wenig auf der Teppichetage geändert hat: Viele Schweizer Verleger kommen noch aus einer Welt, in der ein Text untrennbar mit dem gedruckten Buch verbunden ist. Diejenigen, die heute nicht bloss über die Verlegerbrille, sondern auch in die Zukunft der Branche hinausschielen, sind Mitte der 1970er Jahre oder später geboren. Auch sie sind keine «Digital Natives», immerhin aber «Digital Immigrants», die sich die digitale Kompetenz erarbeiten mussten, statt sie von klein auf als selbstverständlich wahrzunehmen. Sie widmen sich den zentralen Fragen der Zukunft: Ist ein Buch ein sozialer Ort oder ein privater? Was ist überhaupt ein «Buch», und ist ein «E-Book» vielleicht doch mehr als ein digitaler Text auf einem E-Reader? Wie entsteht Literatur in Zukunft, im Schwarm oder weiterhin im stillen Kämmerlein? Wie und wo kauft und liest man die Bücher in Zukunft und wer macht das Geld damit? Im folgenden vier aktuelle Beispiele, die Antworten auf diese Fragen geben.
Ist Lesen sozial oder privat?
«We read to know we’re not alone.» – C.S. Lewis
Wenn Sascha Lobo etwas verkündet, dann hört man zu in Deutschland. Lobo ist «Internetexperte», wie es so schön heisst, und er schreibt nicht nur seine oft scharfsinnige und kluge Kolumne bei «Spiegel Online», sondern auch Bücher, darunter den Roman «Strohfeuer». Lobo twittert, postet, bloggt und hält Vorträge. Er kommt aus dem Marketing und dementsprechend laut und werbewirksam sind seine Ankündigungen.
Seine aktuelle Idee heisst sobooks (Social Books) und soll ein revolutionär neuer E-Book-Shop sein, dessen Entwicklungskosten anscheinend bereits im sechs- bis siebenstelligen Euro-Bereich liegen. Die E-Books aller möglichen Verlage werden dabei komplett im Browser gelesen, jede Buchseite erhält eine eigene URL, und somit können die Texte an jeder Stelle im Buch kommentiert, diskutiert und verlinkt werden.
Die Verantwortlichen von sobooks, das offiziell zur Buchmesse Leipzig 2014 startet, lassen verlauten, dass sie die Bücher im Sortiment haben wollen, über die man aktuell spricht, um die Leser mitten in den Büchern an den relevanten Textstellen Debatten führen zu lassen. Dass dies bei Fachbüchern und zum Teil auch bei Sachbüchern für Akademiker und Experten interessant ist, daran besteht kein Zweifel. Im belletristischen Bereich und bei Sachbüchern beträgt der Anteil der E-Books am Gesamtumsatz aber erst etwa 2,5 Prozent; davon entfällt ein Grossteil auf die üblichen Bestseller. Der Marktanteil an den von sobooks gewünschten Debattentiteln ist also verschwindend klein. Ist Lobos Idee wenn schon scheinbar nicht ökonomisch, so doch wenigstens intellektuell reizvoll? Auch da gibt es Bedenken.
Ob es sich nun beispielsweise um eine empörte Diskussion über eine Passage in Stéphane Hessels «Empört euch!» handelt oder um unfreiwillig witzige Kommentare zu einer Sexszene in «50 Shades of Grey»: Was bei sobooks an sozialem Austausch zu erwarten ist, lässt sich erahnen, wenn man die Kommentare zu beiden Büchern bei amazon.de liest. Der Mehrwert dessen bleibt vorerst verborgen. Immerhin kann man bei sobooks all die sozialen Features, mit denen Sascha Lobo so eloquent wirbt, auch ausschalten und einfach ein E-Book lesen, ganz alleine und unkommentiert. Was aus dem Projekt dann einen normalen E-Book-Shop macht, der nur aussergewöhnlich teuer entwickelt und aussergewöhnlich laut eingeführt wurde.
Was ist ein E-Book und wird es sich je rechnen?
«E-books do have their moments.» – Dan Brown, Inferno
«Der klügste Mensch im Facebook» ist der Syrer Aboud Saeed. Sein gleichnamiges E-Book war Anfang 2013 eine der ersten zwei Publikationen im neuen elektronischen Verlag mikrotext und hat der Gründerin Nikola Richter viel Aufmerksamkeit gebracht. Saeeds Text aus ausgewählten und redigierten Facebook-Einträgen, entstanden zwischen 2011 und 2013, ist messerscharf, klug und poetisch. Und eine deutliche Ansage, wofür mikrotext steht: Texte, die oft, nicht immer, im Netz entstehen, werden mit einer verlegerischen Vision ausgewählt, klassisch lektoriert, korrigiert und als E-Book publiziert. Richter legt Wert auf kürzere Formen, und sie mag literarische Essays, die im besten Falle Debatten auslösen. Richter hat selber belletristische Texte als Autorin publiziert, Blogs konzipiert, eine enge Bindung zum Theater. Und sie hat exzellente Kontakte zu Autoren. Das macht mikrotext zu einem traditionellen Programmverlag, nur eben ohne physische Bücher. Wobei sich auch das ändern kann. Für Saeeds Lesungen in Deutschland hat Richter erstmals eine Kleinstauflage drucken lassen. Die Büchlein verkauft sie ausschliesslich bei den Lesungen, über die Verlagswebsite und über ausgewählte und befreundete Buchhandlungen.
Auch Schriftsteller Jan Kuhlbrodt gehört zu Richters Autoren. Mit seinem Essay «Das Elster-Experiment. Sieben Tage Genesis» gibt er ein gelungenes Beispiel dafür, wie «Literatur 2.0» funktionieren kann: Die Quelle seines brillanten Essays war ein von ihm eigens eingerichteter Blog, in dem er während sieben Tagen sieben Themenkomplexe zur Genesis postete und Kommentare seiner Leser einholte. Danach hat er unter Einbezug der Beiträge seinen Text verfasst, der im Sommer bei mikrotext erschien. Im E-Book mit dabei: die inhaltlich wichtigsten Kommentare aus dem Blog, wiederum redigiert und geordnet.
mikrotext versteht sich nicht im klassischen Sinn als Start-up, Nikola Richter sucht keine Investoren, sie will komplett unabhängig bleiben. mikrotext ist für sie ein Experimentierfeld für die eigene verlegerische Handschrift und die Formen, die bei Entstehung und Vermittlung möglich sind. mikrotext funktioniert unabhängig von den üblichen Regeln im Buchmarkt und kann frei und frisch agieren. Anstatt einen teuren Stand auf der Buchmesse Frankfurt zu mieten, an dem man nichts Physisches zeigen könnte, hat Richter zusammen mit dem Berliner eBook-Network eine Party in der Stadt organisiert, um sich sichtbar zu machen. Ob sich mikrotext irgendwann im ökonomischen Sinn rechnet und nicht nur im publizistischen, das ist vorerst ungewiss.
Wie entsteht Literatur in Zukunft, im Schwarm oder im stillen Kämmerlein?
«The first draft of anything is shit.» – Ernest Hemingway
Den Tod des Autors verkündet Dirk von Gehlen nicht gerade, aber der Redaktionsleiter des Jugendportals jetzt.de ist ein Verfechter der «flüssigen Kultur», in der ein Werk sich unter der Offenlegung des Entstehungsprozesses und unter Einbezug der Reaktionen darauf immer wieder verändert. Kultur, und damit meint von Gehlen alles vom Roman über einen Popsong bis zur Oper, soll wie Software verstanden werden. Von einem abgeschlossenen, ewig gültigen Werk ist nicht mehr die Rede, sondern vielmehr von sich stetig wandelnden Updates. Im Gegensatz zu Kuhlbrodts fertigem Essay bei mikrotext gäbe es bei von Gehlen immer wieder neue, gleichberechtigte Versionen.
Dieser Prozess, so von Gehlen in seinem aktuellen Buch «Eine neue Version ist verfügbar», bedeute auch, dass ein Autor direkter für sein Publikum schreibe, weil dieses bei der Textgenese immer dabei sein soll – und Einfluss nehmen kann. Oder deutlich gesagt: Der Autor schreibt, was sein Publikum will. Solche Modelle existieren bereits bei Self-Publishing-Autoren, die ohne sprachliche oder intellektuelle Ambitionen unter Einbezug ihrer Fans die erwarteten Geschichten liefern, vielfach in Genres wie Fantasy oder Science-Fiction. Immerhin hat von Gehlen sein Buch nach seinen eigenen Prämissen geschrieben: Gestartet als Crowdfunding-Projekt, konnten die Unterstützer den entstehenden Text während des Entstehens lesen und kommentieren; diese Kommentare hat von Gehlen in seine Arbeit einfliessen lassen. Das Endprodukt ist aber immer noch ein abgeschlossenes Buch und E-Book in einem «richtigen» Verlag. Von Gehlens Buch zeigt schön, dass die Mitsprache vieler das Werk eines einzelnen Autors nicht aufwerten muss, es liest sich eher zäh und bietet wenig Erkenntnisgewinn. Und ob das gedruckte Buch eine zweite Auflage erfährt und damit eine neue Version, das bleibt abzuwarten.
Wie und wo kauft und liest man die Bücher in Zukunft und wer macht das Geld damit?
«You realize that our mistrust of the future makes it hard to give up the past.» – Chuck Palahniuk, Survivor
Wer sich seit Jahren mit dem Buch und dessen künftiger Nutzung auseinandersetzt, ist Volker Oppmann, der mit seinem neuen Projekt LOG.OS eine umfassende und durchdachte Vision zur digitalen Zukunft der Literatur hat. LOG.OS soll nicht weniger werden als das «Betriebssystem für das Wort», das die Inhalte für Bibliotheken, Schulen, den Buchhandel, Autoren und Verleger gleichzeitig verwaltet und über verschiedene Interfaces und Zugänge reguliert. Wie eine riesige Cloud in Form eines Würfels mit seinen verschiedenen Nutzeroberflächen soll sich LOG.OS schliesslich präsentieren.
Oppmann geht davon aus, dass der Leser in Zukunft noch mehr als heute alles in einem haben will, alle verfügbaren Texte, die Lesesoftware, den sozialen Austausch mit anderen Lesern und auch den Autoren. Anders als amazon, Google oder Apple, deren Streben nach Umsatz und Nutzerdaten einzig und allein dem Gewinn dient, ist die Architektur von LOG.OS aber eine gemeinnützige, die den Interessen der Urheber und der Endkonsumenten untergeordnet ist.
Bereits 2008 hat Oppmann mit dem klassischen Start-up «textunes» Literatur aufs iPhone gebracht. Nun geht er einige Schritte weiter: Bei LOG.OS gehört die Betriebs-GmbH einer nicht gewinnorientierten Stiftung, der wiederum ein Verein die PR und das Fundraising abnimmt. So wird sichergestellt, dass die Übernahme durch Konzerne nicht möglich ist und LOG.OS unabhängig und gemeinnützig bleibt.
Diese Vision trägt bei einer rasch zunehmenden Digitalisierung des Buchmarktes dazu bei, dass Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken der herkömmlichen Art bald zu einem weitreichenden Umdenken gezwungen werden könnten. Ob Oppmann hier seiner Zeit nicht zu weit voraus ist, ist fraglich.
Wohin des Wegs?
«The end is in the beginning and lies far ahead.» – Ralph Ellison
Kommen wir auf die Inhalte zurück. Denn den weiteren Weg ihrer Digitalisierung weist vielleicht die Literatur selbst: «…wie damals Facebook. Erinnert ihr euch nicht? Wie die Menschen es plötzlich gehasst haben?» Mit diesen lapidaren Sätzen erledigt Eva Menasse in ihrem Roman «Quasikristalle» die aktuelle Grossmacht der sozialen Medien, zeitlich nicht genau verortet, aber wahrscheinlich in den frühen 2020er Jahren. Das ist interessant, weil alle sozialen Medien erst beweisen müssen, dass sie länger als 15 oder 20 Jahre existieren können.
In Jennifer Egans Roman «Der grössere Teil der Welt» spielt das letzte Kapitel in einem New York der näheren Zukunft, in dem die kleinen Kinder souverän mit den Touchscreens der Smartpads umgehen können und Hauptzielgruppe der übriggebliebenen Musikindustrie sind. Das ist interessant, weil Egans Vision die Kinder ins Zentrum rückt.
Unter dem Begriff «Digital Natives» wurden bisher Menschen mit Jahrgang 1980 oder jünger bezeichnet. Exakter wäre es, den Beginn dieses Zeitalters erst auf die Einführung des iPhones und den Durchbruch von Facebook (ca. 2007) zu datieren. Die Kinder, die seitdem geboren wurden und werden, sie sind die ersten echten «Digital Natives». Erst jetzt wachsen sie von Geburt an mit selbstverständlichem und und immer und überall verfügbarem Netzzugang sowie intuitiver Touchscreen-Bedienung auf. Es ist dies also die erste Generation, für die vielleicht keine Unterscheidung zwischen digital und analog mehr existieren wird. Die «Patscher», wie Jennifer Egan sie nennt, werden ein kompetentes, wenn auch vielleicht für uns nicht verständliches Wechseln zwischen allen möglichen Medien und Inhalten beherrschen, in einer Art, die uns bis heute unbekannt ist. Ganz falsch liegt man wohl nicht, wenn man diese Kinder in ihrer Mediennutzung genau beobachtet und dabei spekuliert, dass die grossen, nachhaltigen Veränderungen im digitalen Bereich erst in 15 oder 20 Jahren durch diese neue Generation stattfinden werden. Ob sich die Schweiz dann immer noch fröhlich analog auf Messen präsentiert oder ob es auch aus unserem Land digitale literarische Innovation zu vermelden gibt?
Bis zur flächendeckenden digitalen Umwälzung bleibt auf jeden Fall vieles erst mal interessante Übergangslösung, wichtiges Experiment oder medial angefachtes Strohfeuer. Sicher überleben werden nur die Geschichten, ihre Autoren und die Festivals. Und jene Verlage und Buchhandlungen, für die die neuen Möglichkeiten Freiheit bedeuten – und nicht den Tod des Buches.