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Das Buch als Entwurf

Robert A. Fischer: Ich / Buchstabendrescher. Mit einem Text von Gina Bucher. Zürich: Edition Patrick Frey, 2011.

Seit Jahren schon wird auf der Frankfurter Buchmesse jeweils ein Boom der eBooks verkündet. Viel Lärm um
wenig, bisher. Fest steht aber: die Verfügbarkeit von Büchern über digitale Ressourcen ist längst ein Bedürfnis der Benutzer und Leser. Manche Innovationen treten Euphorie los, andere hinterlassen Gefühle der Beklemmung. Die ab und an zur Schau gestellte Zuversicht seitens der Verlage täuscht kaum darüber hinweg, dass lieber dem klassischen Buch nachgetrauert wird, als die neuen Möglichkeiten und Potentiale tatsächlich auszuprobieren. Aber: einfache Rezepte hierfür gibt es nicht! Und die inständige Beschwörung traditioneller Werte hilft längst nicht mehr weiter, wenn der Umbruch, den die Musikindustrie schmerzlich erfahren hat, nun die Buchbranche betreffend in vollem Gange ist. In dieser Lage kommt innovativen Projekten und Konzepten eine stilbildende und wegweisende Funktion zu.

 

Kein Schnickschnack

Dieses Frühjahr hat es der experimentierfreudige Zürcher Salis-Verlag gewagt, unter dem Titel «Pfister» einen Roman als reines eBook herauszugeben, ohne ein gedrucktes Äquivalent. Mit seiner Titelfigur lässt der Zürcher Autor Heinz Emmenegger einen Menschenfreund aufleben, der bislang nur in einem Internet-«Textlabyrinth»* in Erscheinung getreten ist: Der arbeitslose, dennoch frohgemute Pfister ist auserkoren, in einer TV-Homestory mitzuwirken. Er wird berühmt werden, da sollen die Nachbarn gleich mitfeiern. Auch wenn das Fernsehteam diesen Enthusiasmus nicht teilt, entwickelt sich die anfänglich biedere Sendung kraft Pfisters guter Laune und Grillkünsten dennoch zu einer munteren Gartenparty.

Auch wenn der funktionelle Umfang dieses eBooks noch beschränkt ist, lassen sich doch bereits die Eigenheiten einer digitalen Edition erkennen. Sie bringt neue Lesarten mit sich, die sich von der herkömmlichen Buchlektüre unterscheiden. Das wirft neue Fragen und Argumente auf. Ohne Druckversion besitzt das eBook keine Paginierung mehr, was beim Lesen kaum störend wirkt, das Gespräch darüber aber erschwert und ein nachvollziehbares Zitieren verunmöglicht. Andererseits lassen sich Schriftart und Schriftgrösse beliebig verändern, und das eBook lässt sich je nach Vorliebe im Modus «umblättern» oder «scrollen» lesen. Hinzu kommen Volltextsuche und Internetanbindung. Damit ist «Pfister» ohne Schnickschnack prädestiniert dafür, die digitale Lesart den Lesenden vergnüglich zu gestalten. Allerdings traut der Salis-Verlag der Sache offenkundig noch nicht ganz, weshalb er demnächst verspätet doch eine klassische Buchversion nachliefert. Auf Seiten der Leser wie der Verlage fehlt es an Erfahrung im Umgang mit echten eBooks.

 

Vom Buch zum eBook…

Welches Potential wirklich darin steckt, demonstriert der «Libroid» des Sachbuchautors Jürgen Neffe. Seine Darwin-Biographie – ursprünglich ein erfolgreiches, gedrucktes Buch – hat er gänzlich neu für die Lektüre auf einem iPad eingerichtet. Dabei hat er konsequent zusätzliche Bild- und Soundquellen eingearbeitet und ein Layout entwickelt, das von der Buchform wesentlich abweicht. Der Text lässt sich wie eine Schriftrolle herunterscrollen, links und rechts wird er eingerahmt von einer Bildspalte respektive von den Text ergänzenden Internetressourcen. Im Bereich der Sachliteratur liegt hierin ein Potential, das noch weitgehend ungenutzt ist. Die digitalen Techniken machen es möglich, dass Inhalte benutzergerecht und flexibel angeboten werden können. Indem Bücher auf Datenbanken basieren, können sie von den Lesern wahlweise als Internetdatei, als eBook oder als Printprodukt (Print on Demand) herausgelöst, gekauft und rezipiert werden.

 

…und wieder zurück

Eine innovative Spielart in der Buchproduktion, die ebenfalls auf diesem System aufbaut, demonstriert der Band «Ich / Buchstabendrescher» von Robert A. Fischer. Ihm zugrunde liegt  eine neue Publikationsform, die Gina Bucher (Herausgeberin), Urs Hofer (Programmierung) und Rafael Koch (Graphik) entwickelt haben.

Der Zürcher «Schreibmaschinen-Rockstar» Robert «Bobby» Fischer (1942–2001) hinterliess ein wucherndes Textarchiv von rund 20 000 Dateien. Seine Gedanken zu allen möglichen Themen – philosophisch, kritisch, beobachtend – hämmerte er jeweils direkt in die Maschine, ohne sie weiter zu zensieren. Diesen chaotischen Gestus der schnellen Niederschrift widerspiegelt die vorliegende Auswahl auf listige Weise.

Der Band basiert auf einer Datenbank: aus dem Textarchiv hat die Herausgeberin 237 Texte aus dem Zeitraum von 1966 bis 2001 ausgewählt und in diese Datenbank integriert. Jeder Text erhielt Schlag- und Stichworte zugeordnet, von Hand wurden einzelne Passagen separat ausgezeichnet. Damit war die editorische Arbeit abgeschlossen. Den Rest erledigte die Software, die aufgrund der definierten Parameter das Buch automatisch gestaltete und generierte. Es ist somit eine clevere Programmierung, die den letzten editorischen Schliff verleiht und so dem unkontrollierten, automatischen Schreiben Fischers eine vollauf adäquate Form verleiht. Die 550 Textseiten im Format A4 stecken in einem weichen Einband in schlichtem Grau. Im Innenteil wechseln sich drei typographische Muster ab, denen die Texte nach graphischen Vorgaben zugeordnet sind. Mit dieser automatischen Machart liesse sich das Buch beliebig verändern und eiligst neu drucken, ohne aufwendige Anpassungen von Hand. Dergestalt wird das Buch zum Entwurf seiner selbst, es zeigt sich als ein neuartig optimiertes Medium, das Schlichtheit und Prozesshaftigkeit repräsentiert. Ihm fehlt die Aura des Letztgültigen und Abgeschlossenen, dafür bietet es sich als lustvoll zu nutzendes Arbeitsin-strument an.

 

Die Mischung macht‘s

Aus der Not eine digitale Tugend hat der Verleger Urs Engeler gemacht. Ende 2009 musste er seine Edition von exquisiten Büchern einstellen, weil ein Mäzen sein Engagement beendete. Daraufhin hat sich Engeler auf neue Distributions- und Produktionsformen besonnen: Direktvertrieb über Internet und Digitaldruck in kleinen Auflagen. «Rough Books» nennt er die neue Reihe, die dadurch besticht, dass sie dem Buch wieder etwas pionierhaft Rauhes, Ungebärdiges zurückgibt. Diese rauhen Bücher sind einfach gestaltet und ganz auf Schrift und Text konzentriert.
Mit ihnen bleibt sich Urs Engeler auch programmatisch treu. Dreizehn Titel hat er in den letzten Monaten aufgelegt: Dichtung für Liebhaber und Kennerinnen, die unter der Internetadresse www.roughbooks.ch bestellt werden kann – oder im Abonnement. Besondere Flexibilität verrät dabei der jüngste Titel. Als Reaktion darauf, dass die Autorin Elke Erb («Meins», roughbook006) den Preis der Literaturhäuser 2011 erhielt, präsentiert Engeler postwendend einen Band 013 mit Reaktionen auf die Ehrung: «Deins». Noch unmittelbarer lässt sich Literatur im «Roughblog»** nachlesen. Bruno Steigers «Letzte Notizen» bilden formal einen Blog, verraten aber poetische Ambition. Neue Vertriebsformen wollen und sollen nichts ausschliessen, findet Engeler. Internet, Twitter und Blog besetzen zwar neue Räume, doch wenn sich Gelegenheiten in den herkömmlichen Strukturen ergeben, umso besser. Bloss darauf versteifen mag sich Urs Engeler nicht mehr.

So tun sich mit den neuen Medien auch alternative Potentiale auf, um die Texte an neue Leser zu bringen. Vielleicht sollten wir uns davon verabschieden, dass «Bücher» nur wie Bücher ausschauen können. Im Endeffekt geht es schliesslich um die Texte, um die Literatur.

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