«Das bisherige Rechts-links-Schema in der deutschen
Politik löst sich weitgehend auf»
Der Philosoph Richard David Precht wünscht sich einen differenzierten Umgang mit Parteien an den politischen Rändern. Er kritisiert das heutige Selbstverständnis der Journalisten als Meinungsmacher.
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Richard David Precht, Sie haben in Ihrem Podcast «Lanz und Precht» kürzlich verraten, dass Ihr bester Jugendfreund ein CDU-Sympathisant war. Wie viele Freunde haben Sie, die die AfD wählen?
Ich unterhalte mich im Regelfall auch mit meinen Freunden nicht über die Frage, welche Partei sie wählen. In meinem Freundeskreis ist das Spektrum von links bis rechts abgedeckt. Dass alle genau die gleiche politische Meinung haben wie ich, kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Sie haben dann auch gesagt, Sie seien bereit, über ein grosses Spektrum von Sachen zu diskutieren. Wo endet dieses Spektrum?
Wenn jemand ein überzeugter Nationalsozialist ist, wenn jemand den Holocaust leugnet, wenn jemand sehr stark rassistische Klischees verbreitet. Mit solchen Menschen komme ich jetzt aber auch nicht zusammen, sodass ich sagen müsste, ich stünde vor ernsthaften Freundschaftsproblemen. Etwas anderes ist es, Freunde zu haben, die mit der gegenwärtigen Regierungspolitik massiv unzufrieden sind. Die gibt es schon. Oder Leute, die sich grundsätzlich Alternativen zu dem wünschen, wie in Deutschland derzeit Politik gemacht wird.
Wo wird Toleranz gefährlich? Sie sprachen von Nationalsozialisten und Rechtsextremisten. Wie geht man richtig um mit ihnen?
Einen pauschal richtigen Umgang mit ihnen gibt es nicht, aber ich fände es gut, stärker zu differenzieren. Das machen wir im Augenblick ziemlich wenig. Wir ziehen eine Linie wie die etablierten Parteien: zwischen etablierten Parteien und neuen Parteien. Die beiden neuen Parteien – die Alternative für Deutschland (AfD) auf der einen Seite und das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) auf der anderen Seite – sind sehr verschieden. Das Wagenknecht-Bündnis vertritt keine rechten Positionen und geht auch nicht mit Rechtsextremen auf Tuchfühlung. Dadurch können wir diese Linie zwischen etablierten Parteien – den «Guten» – und den neuen Parteien – den «Schlechten» – nicht mehr auf herkömmliche Art und Weise aufrechterhalten. Die politische Topografie, die wir bisher hatten, gerät damit ziemlich durcheinander. Eigentlich löst sich das bisherige Rechts-links-Schema in der deutschen Politik weitgehend auf.
Sie haben Deutschland als «Mediokratie» dargestellt, als ein System, in dem Politiker am meisten dadurch punkten, dass sie Grundsatzpositionen aufgeben und sich die Politik des politischen Gegners zu eigen machen – was ja Kanzlerin Merkel gemacht hat. In Ihrem Buch «Die vierte Gewalt» schreiben Sie: «Je smarter sich Politiker an den medial mitbestimmten Zeitgeist anpassen, umso intoleranter werden sie gegenüber ihren nichtmittigen Flügeln.» Jetzt ketzerisch gefragt: Gibt es in Deutschland ein Kartell der Etablierten in der Politik?
Kartell ist ein Begriff, den ich nicht benutzen würde. Aber natürlich, die etablierten Parteien sitzen an den Hebeln der Macht, und sie tun dies schon sehr, sehr lange. Die CDU seit Gründung der Bundesrepublik, die SPD und die FDP auch schon lange. Dass jene, die an den Hebeln der Macht sitzen, äusserst skeptisch sind gegenüber neuen Parteien und politischen Alternativen, ist klar. Das mussten auch die Grünen erfahren, die bei ihrem Aufstieg massiv bekämpft wurden – Franz Josef Strauss wollte sie damals sogar verbieten lassen. Das Gleiche musste auch die Linkspartei erfahren, die in den ersten Jahren ihres Bestehens (als PDS) als Altstalinisten und Kommunisten etikettiert wurden, die nicht dazugelernt hätten. Von Anfang an genau das Gleiche geschah auch mit der Ablehnung der AfD, und zwar schon da, als sie noch keine klar rechten Positionen bekleidete, sondern eine euroskeptische Partei war. Wer im Inner Circle ist, lässt sehr ungern jemand Neues rein. Schliesslich könnte die eigene Wählerschaft dahin abwandern.
Wie stehen Sie zu einem Verbot einer Partei, beispielsweise der AfD? Ist das nicht auch ein Ausdruck von Intoleranz?
Es ist vor allem ein Ausdruck von Unsinn, denn das wird nicht funktionieren. Die Tatsache, dass es überzeugte Rechtsradikale in der AfD gibt, macht aus der AfD keine rechtsradikale Partei. Man kann nicht eine Partei verbieten, weil sie einige radikale Mitglieder hat, sondern man muss sie verbieten, weil ihre Ausrichtung grundsätzlich radikal und verfassungsfeindlich ist. Kommt es zu einer Auseinandersetzung vor Gericht, wird das viele Jahre dauern, und ich vermute, dass sie letztendlich zugunsten der AfD ausgehen wird. Die etablierten Parteien, die ein solches AfD-Verbot anstreben, würden sich damit ins eigene Fleisch schneiden.
«Die Tatsache, dass es überzeugte Rechtsradikale in der AfD gibt, macht aus der AfD keine rechtsradikale Partei.»
In der Schweiz ist in den 1990er-Jahren mit der SVP eine Partei mit ähnlichen Positionen wie die AfD zur stärksten Partei aufgestiegen. Auch damals äusserten viele die Befürchtung, sie würde in den Faschismus abdriften. Doch das ist nie passiert. Im Gegenteil, die SVP ist zu einer betont demokratischen Partei geworden. Ist die Demokratie in Deutschland heute stark genug, um eine AfD ertragen zu können?
Möglicherweise ist sie das. Aber ich glaube auch, dass sich die Demokratie in Deutschland in einer schwierigen Lage befindet. Viele Umfragen belegen, wie gross der Vertrauensverlust der Menschen in die Parteien, Institutionen und in die Medien ist. Die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass Parteien, die am Rand angefangen haben, eine sehr starke Tendenz zur Mitte zeigen – das war zu beobachten bei der Linkspartei, die sich vom Kommunismus losgesagt hat, bei den Grünen, die von einer pazifistischen Partei zu jener Partei geworden sind, die am stärksten hinter Waffenlieferungen in die Ukraine steht.
Bei der AfD ist das nun anders?
Sie ist zunächst in die umgekehrte Richtung gegangen. Zeichnet man den Weg der Partei über ihre Vorsitzenden nach von Lucke, Petry, Meuthen zu Weidel, sehe ich hier nicht den Versuch, in die Mitte zu gehen, sondern es ging weiter nach rechts. Und da haben wir in Deutschland, mit der Geschichte des Nationalsozialismus in den Knochen, eben dieses Warnbeispiel einer Partei, die man eher unterschätzt hat und die dann tatsächlich all das, was sie angekündigt hat, realisiert hat: also eine verbrecherische, rechtsradikale Politik gemacht hat, die viele ihr nicht zugetraut hatten.
Einem Wähler, der in Deutschland mit der Migrationspolitik nicht einverstanden ist, wird es seitens Leitmedien und Spitzenpolitik nicht leicht gemacht. Im Prinzip wird jeder, der sich dagegen äussert, als rassistischer Ausländerfeind und als Dummkopf abgestempelt.
Das sehe ich völlig anders: Die deutschen Leitmedien sind inzwischen sehr migrationskritisch. Unter ihrem Druck hat die Ampelregierung ihren Migrationskurs stark verändert. In der Migrationsfrage gibt es kaum noch Unterschiede zwischen den Parteien. Es ist absoluter Konsens, weniger unqualifizierte Migration haben zu wollen und die Migration entsprechend einzudämmen und zu kanalisieren. Da sind sich alle ziemlich einig. Es gibt keine Partei in Deutschland, die für mehr ungeregelte Migration eintritt. Von der Situation der «Willkommenskultur» von 2015 sind wir Lichtjahre entfernt.
Sie stellen die Journalisten der Leitmedien als opportunistisch und intolerant dar. In Ihrem Buch steht, dass sie im Sommer 2021 gegen eine allgemeine Coronavirus-Impfpflicht waren, im Herbst und Winter 2021 fast sämtlich dafür und im Frühjahr 2022 fast sämtlich wieder dagegen – und das immer mit dem Drang, jeden blosszustellen, der nicht mitmacht.
Genau das ist passiert, es gab eine massive Ausgrenzung. Mit welcher Wut und Aggression die Menschen in den Medien gegen Menschen vorgegangen sind, die sich aus irgendwelchen Gründen immer noch nicht impfen lassen haben! Sie wurden quasi als Volksfeinde dargestellt. Es zeigt eindrucksvoll auf, wie opportunistisch unsere Medien sind und welchen überbordenden Verbrauch an Moral sie haben. Ich vermisse bis heute eine selbstkritische Debatte der Medien über ihr Verhalten in der Coronazeit.
«Ich vermisse bis heute eine selbstkritische Debatte der Medien über ihr Verhalten in der Coronazeit.»
Dass man nicht gut mit anderen Meinungen umgehen kann, liegt meiner Meinung nach daran, dass man in Deutschland eine sehr genaue Vorstellung davon hat, was richtig und was falsch ist. Der Andersdenkende hat nicht nur eine andere Meinung, sondern die falsche. Deshalb muss man ihn immer korrigieren.
Das ist wohl so. Im Hintergrund steht ein Wandel des Selbstverständnisses: Die Journalisten der Leitmedien werden nicht mehr in erster Linie dazu gebraucht, um die Leute zu informieren – schliesslich kann sich ein jeder im Internet informieren und desinformieren, wie es ihm lustig ist. Sie sehen ihre Rolle stärker darin, Meinungen und Haltungen zu erzeugen – ein neues Selbstverständnis. Nur kann jemand, der täglich Meinungen macht in sich ständig wechselnden Konstellationen, eigentlich nur Opportunist sein. Er passt seine Meinung an das an, was Harald Welzer und ich den «Cursor des gefühlten Anstandes» genannt haben. So muss man immer exakt da sein, wo man, opportunistisch gesehen, moralisch gerade stehen muss. Das grösste Problem, das daraus resultiert, sind nicht die Ungerechtigkeiten oder dass jemand zu Unrecht angegriffen wird. Das grösste Problem ist, dass die Politik keine langfristige Politik mehr machen kann, weil sie ständig von den moralischen Standortbestimmungen abhängig ist, welche die Medien vorgeben.
Eine besondere Einseitigkeit haben Sie bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine festgestellt.
In allen Medien lautete das Mehrheitsnarrativ, Druck auf den Kanzler auszuüben, dass Deutschland Leopard-Panzer und Flugzeuge liefern sollte. Dafür gab es eine ziemlich grosse, wenn auch nicht völlig geschlossene Einigkeit. Die Bevölkerung war aber in dieser Frage viel unsicherer. Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Medien, das jeweilige Stimmungsbild eins zu eins in ihren Meinungen widerzuspiegeln. Aber hier war die Asymmetrie über einen langen Zeitraum hinweg sehr auffällig. Es hat sich bis heute nichts daran geändert.
Sie schreiben: «Die Leitmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Aber sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache.»
Das ist ein Kernsatz: Journalisten schreiben ihre Artikel nicht in erster Linie für ihre Leser, sondern für ihre Community, also für andere Journalisten. Führende politische Journalisten schreiben, damit die anderen zwanzig bis dreissig Richtigen es lesen. In diesem Kreis orientiert man sich. Völlig falsch dagegen ist die Vorstellung, wie sie vor allem auch in rechten Kreisen vorherrscht, dass die Politiker an ihren Fäden ziehen und die Journalisten springen. Das verkennt die Machtverhältnisse völlig.
Als Friedrich Dürrenmatt die Schweiz als Gefängnis bezeichnete, wurde das kritisiert, seine Integrität als Schriftsteller blieb aber unangetastet. Heutzutage würde jemand wie er mit Sicherheit als «umstritten» bezeichnet werden. Was ist das Problem mit diesem Label?
Früher wurden solche Leute «streitbar» genannt – eine Eigenschaft, die ich mir auch selbst zuschreiben würde. Doch niemand würde sich selbst als umstrittene Person bezeichnen. Denn «umstritten» ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein Urteil anderer: ein Etikett, das wahlweise auch «bedenklich», «heikel» oder «problematisch» lauten könnte. Jemand, der als «umstritten» etikettiert wird, hat in der Gesellschaft ein ziemlich grosses Problem. Anders als «streitbar» ist es eine negative Abqualifikation.
An sich ist die Zuschreibung negativer Labels eine Ausübung von Macht seitens der Journalisten.
Es geht um die Frage, wer eigentlich die Deutungshoheit in Deutschland hat, wer also der einflussreichste Influencer ist. Der Konkurrenzkampf insbesondere zwischen der Berliner Szene der Chefredaktoren, Kommentatoren gegen alle anderen, die ihre Interpretationen zur Politik anbieten, ist gross und wird mit Ellenbogen ausgefochten. Aus Sicht führender Journalisten braucht es offensichtlich keine öffentlichen Intellektuellen mehr, und so werden die Frischs, die Dürrenmatts und von mir aus auch die Zieglers immer weniger, denn sie wachsen nicht nach. Auch Deutschland hatte viele kritische Intellektuelle, von Theodor W. Adorno über Jürgen Habermas bis hin zu Margarete Mitscherlich, Heinrich Böll, Günter Grass und Ulrich Beck; heute gibt es fast gar keine mehr. Der öffentliche Intellektuelle stirbt aus, und die Personen, die als Philosophen oder Geisteswissenschafter in der Öffentlichkeit stehen, müssen sehr genau überlegen, ob sie sich tatsächlich zur Politik äussern möchten. Es findet hier eine starke Diskursverengung statt.
Toleranz wird oft mit Akzeptanz verwechselt. Wo ziehen Sie die Grenze? Viele sagen, man müsse doch tolerant sein. Aber eigentlich fordern sie, dass man ihre Position vollumfänglich akzeptiert oder gar übernimmt.
Akzeptieren und tolerieren sind in der Tat nicht dasselbe. Wenn ich beispielsweise Hans-Georg Maassen gegenübersässe – mit dem ich wahrscheinlich in allen politischen Fragen uneinig bin –, dann würde ich sagen, ich akzeptiere seine Sicht der Dinge nicht, aber ich toleriere sie als Meinung. Es ist ja nicht die Aufgabe einer liberalen Demokratie, die Menschen nach ihren Meinungen zu filtern. Es geht auch nicht um meine persönliche Befindlichkeit. Es geht nur darum, ob sich jemand oder eine Partei in Opposition zum Grundgesetz aufstellt oder nicht. Unser politisches Spektrum hat alles zu tolerieren, was verfassungsgemäss ist. Ob man die Meinungen akzeptiert, ist eine andere Frage.
«Es ist ja nicht die Aufgabe einer liberalen Demokratie, die Menschen nach ihren Meinungen zu filtern.»
Ist es die Pflicht eines toleranten Menschen, sich mit einem unangenehmen Standpunkt auseinanderzusetzen?
Die Pflicht ist es natürlich nicht. Die grundsätzliche Frage ist, ob man schlauer werden will oder nicht. Ich glaube, ein beträchtlicher Teil der Menschen hat gar kein Interesse, schlauer zu werden, sondern das Interesse, recht zu haben. Wenn ich aber eine wahrheitssuchende Perspektive einnehmen möchte, dann muss ich mich in allererster Linie mit jenen Meinungen auseinandersetzen, die nicht mit meinen übereinstimmen.