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Das Bild vom Bild

Die Künstlerin Lisa Endriß

Das Bild vom Bild

Lisa Endriß braucht Platz für ihre Bilder. Sie wohnt in Oberbayern, weit draussen auf dem Land in der ehemaligen Dorfschule von Griesstätt. Im früheren Klassenraum, an den noch die Ausmasse, zahlreiche kleine Fenster und der fischgrätene Parkettfussboden erinnern, befindet sich ihr Atelier und Wohnzimmer. Einige der bis zu zwei mal zwei Meter grossen Bilder hängen an den geweissten Wänden, andere lehnen hintereinander gereiht in einer Ecke. Die Malerin dreht eines nach dem anderen um, trägt die auf leichte Holzrahmen gespannten Leinwände ins Licht, wo sie besser begutachtet werden können.

Ohne die «Süddeutsche Zeitung», die viele in dieser Gegend lesen, würden diese Bilder nicht existieren. Denn in der Tageszeitung findet Lisa Endriß seit einigen Jahren ihre Vorlagen, Fotos aus den Politik- oder Sportseiten, aus dem Vermischten oder dem Regionalteil. Etwa ein Pressebild von einem Rentner aus der Gegend, einem über Bayern hinaus bekannten Kaninchenzüchter. Seine Tiere sind so gewaltig, dass sich eine Grossfamilie an solch einem Exemplar satt essen könnte, und dazu passt, dass vor zwei Jahren Vertreter der nordkoreanischen Regierung anreisten, um sich die Zucht der sogenannten Riesengraus anzusehen und schliess­lich acht von ihnen in ihr Land zu importieren.

Blättert Lisa Endriß durch die Zeitung und sieht ein Foto, das sie wie jenes des Kaninchenzüchters reizt, dann schneidet sie es aus, um es irgendwann später mit grosszügigen und raschen Pinselstrichen bis zu mehr als zwanzig mal so grossen Leinwänden nachzumalen. Skizzen fertigt sie vorher keine an. Das auf dem Foto monströse Kaninchen wirkt nun trotz Körpermasse anorektisch, auf dem Gesicht des Züchters liegt statt Selbstzufriedenheit entrückte Resignation.1 Auf Kopiergenauigkeit kommt es der Künstlerin nicht an. Sie verfremdet ihre Vorlagen auch nicht bewusst. Sie interessiert stattdessen, was entsteht, wenn sie sich ihrer Spontaneität und Versenkung überlässt. Am Beginn steht ein beliebiges Zeitungsbild, x-fach reproduziert, Beiwerk zum Text, schon bald mit der Zeitung im Altpapier entsorgt. Am Ende steht ein Unikat.

Lisa Endriß rettet die Bilder aus ihrer massenmedialen Vervielfältigung in die Individualität, schafft aus tausendfacher Reproduktion in lauen Zeitungsfarben eine lebhafte Einmaligkeit. Diese Verwandlung ist das Gegenteil des Prozesses, den Walter Benjamin vor Augen hatte, als er vor mehr als 70 Jahren die Folgen der damals noch jungen Fotografie für das Kunstwerk beschrieb.

In seinem berühmten, 1936 veröffentlichten Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» beschrieb Benjamin den Verlust des Hier und Jetzt des Originals durch die Fotografie. Er bedauerte, dass durch die Reproduktion die Echtheit in Frage gestellt und dem Original seine Autorität genommen werde. Oder, wie es der theologisch denkende Benjamin auch ausdrückte, dass die Reproduktion die «Aura» des Originals zerstöre. Was Benjamin in seinen Anfängen beschrieb, ist inzwischen in grossem Umfang eingetreten. Die massenmediale Vervielfältigung erscheint grenzenlos: in vielfältigen Verästelungen wuchern Internetbibliotheken mit dem Anspruch, in ihren Archiven alle je geschaffenen Kunstwerke dem Nutzer mit einem Mausklick zur Verfügung zu stellen. An jedem Ort und zu jeder Zeit. Die Sensibilität für die Einmaligkeit des Unikats geht dabei mehr und mehr verloren.

Die Aura von Bildern wieder herstellen zu wollen, ist wohl nicht Lisa Endriß’ Absicht. Eher ist ihre Malerei der Versuch, in einer für Auren nicht mehr geeigneten Welt so etwas wie Individualität retten zu wollen, selbst wenn sie ähnlich lächerlich daherkommt wie auf den Schnappschüssen einer Männerclique, die eine sonntägliche Kneipentour unternimmt. Benjamin würde heute erkennen müssen, dass sich die Massenhaftigkeit zwar rückgängig machen lässt, die Alternative jedoch nicht so erhaben und einzigartig ist, wie er dachte. Die technische Reproduzierbarkeit hat Spuren hinterlassen, die am Einzelnen nicht mehr zu tilgen sind: eine Harmlosigkeit der Oberfläche durch zuviel Gebrauch, die sich auch an Lisa Endriß’ Bildern zeigt. Alles haben wir schon mal gesehen, es ist abgegriffen, schal geworden. Lisa Endriß rettet an den alltäglichen Zeitungsbildern, was zu retten ist. Eine Rettung, die bei ihr allerdings immer zugleich komisch wie irritierend ausfällt.

Ihre Bilder thematisieren häufig Individuen, die sich hinter Masken verstecken, oder Tiere, die Attitüden einnehmen, die sonst Menschen vorbehalten sind. Die beiden wartenden Ringkämpfer, gefährlich wie Playmobilfiguren, tragen einen Gesichtsschutz.2 Der Tiger im Bett schmiegt sich in den Arm seines Dompteurs wie eine Geliebte.3 Der plüschige Hase posiert verlegen vor dem Schminkspiegel.4 Und der greise Schimpanse feiert Geburtstag, sein Pfleger ist wie zu Fasching mit Hütchen und Augenmaske dekoriert.5 Alles dies sind Darstellungen, die Tiere und Menschen wie in einem grossen Zoo zeigen, in dem die natürlichen Beziehungen durcheinander geraten, ja auf den Kopf gestellt sind. Die Tiere sind zu Ersatzfantasien der enttäuschten Menschen geworden, deren Beziehungen gestört sind oder, wie zwischen den Ringern, nur noch als Schaukämpfe inszeniert werden.

In gewisser Weise bieten die Bilder eine freundliche Alternative zu Benjamin. Für den religiösen Marxisten gab es nur entweder völlige Entfremdung oder utopische Heiligkeit. Inzwischen wissen wir, dass ersteres nicht lückenlos eintritt und letztere gefährlich ist. Menschen und Tiere gleichzeitig kritisch-diagnostisch wie ironisch-komisch zu sehen, gibt der historischen Erfahrung Ausdruck, dass uns schliesslich nichts anderes übrig bleibt, als zwischen den Extremen zu leben. Diese lebensnahe Alternative schildert uns Lisa Endriß mit dem Blick einer amüsiert Liebenden, nüchtern und mit hintergründigem Humor.

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Lisa Endriß, 1947 in Landshut geboren, schloss 1974 ein Studium der Kunstgeschichte und Kunstpädagogik an der Universität München ab und arbeite danach bis 1980 als Kunsterzieherin. Von 1989 bis 1995 studierte sie Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München.

Lisa Endriß ist Gründungsmitglied der Malgruppe Weibsbilder, die zwischen 1978 und 1988 als Kollektiv Bilder malte. Die Frauen legten etwa eine grosse Leinwand auf den Boden und bemalten sie gleichzeitig, jede an einer anderen Seite stehend oder kniend. Nach dieser Phase konzentrierte sich Lisa Endriß wieder auf das eigenständige Arbeiten, malte lange bevor die Jungen Wilden en vogue wurden, expressiv gegenständlich. Sie lebt seit vielen Jahren im oberbayerischen Griesstätt. (www.lisa-endriss.de)

© Lisa Endriß, Fotos: Beatrice von Braunbehrens

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