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Das Bauen der Zukunft ist zirkulär

Gebäude verbrauchen unnötig viele Ressourcen. Das lässt sich verhindern, wenn wir unsere Sicht auf Bauprozess und -materialien radikal ändern.

Das Bauen der Zukunft ist zirkulär
Sabine Oberhuber und Thomas Rau, zvg.

 

Die Sektoren Bauen und Wohnen verbrauchen hohe Mengen an natürlichen Ressourcen und sind als Verursacher von Treibhausgasemissionen und negativen Umwelteinflüssen führend. Mit 84 Prozent des Abfallaufkommens produziert die Baubranche den grössten Abfallstrom in der Schweiz. In der EU ist sie für rund 40 Prozent des Energieverbrauchs, 36 Prozent der Treibhausgasemissionen, über 50 Prozent des Ressourcenverbrauchs und 46 Prozent der Abfallproduktion verantwortlich.

Folgerichtig werden die Forderungen nach einem umweltfreundlicheren und ressourceneffizienteren Bauen immer lauter. Dank Gebäudestandards wie Minergie konnte der Wärmebedarf von Neubauten gesenkt werden. Doch nachhaltiges Bauen ist mehr als nur Energieeffizienz. Der Verbrauch von Primärrohstoffen sowie die zur Rohstoffgewinnung, Herstellung, Verarbeitung und Entsorgung erforderliche graue Energie sind entscheidend. Bau- und Abbruchprozesse sind extrem verschwenderisch. Der Toxizität und Wiederverwendbarkeit von Baustoffen wird dabei zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Abriss und Wiederaufbau sind oft immer noch kostengünstiger als Renovationen, denn externe Effekte wie die graue Energie werden selten eingepreist. Der in Silos organisierten Branche fehlt es insgesamt an Transparenz. Nicht nachhaltig zu bauen ist heute immer noch die Standardoption.

Hohes Potenzial

Ein Abriss ist nicht nur für sich genommen teuer. Mit ihm verschwindet auch der Wert der sich im Gebäude befindlichen Materialien. Beträgt der Buchwert eines Gebäudes einmal null Geldeinheiten, ist es unter finanziellen und fiskalischen Gesichtspunkten vollkommen wertlos geworden.

Selbst wenn Baumaterial recycelt wird, bleibt nur ein Bruchteil des ursprünglichen Werts erhalten. Durch Downcycling eignet es sich oft nur noch als Füllmaterial im Tiefbau. Neben den ungeheuren monetären Wertverlusten, die dieses System mit sich bringt, ist es mit Blick auf natürliche Ressourcen eine Einbahnstrasse, die wir uns schlichtweg nicht mehr leisten können.

Bereits heute wird der grobkörnige Sand aus Kiesgruben knapp. Schotter, der aus Hartgestein entlang des Alpenrandes gewonnen und für Verkehrsinfrastrukturen benötigt wird, ist seit mehr als zehn Jahren knapp; Studien sprechen von einer zunehmenden Mangelsituation.1 Zudem hängen Ressourcenverbrauch und CO2Ausstoss eng zusammen. Rund 10 Prozent der weltweiten CO2 Emissionen werden durch die Herstellung von Zement verursacht. Der grösste Teil der Bauabfälle besteht aus Betonabbruch. Durch den Einsatz von recycliertem Beton kann der Ausstoss um bis zu 10 Prozent gegenüber einem herkömmlichen Beton bereits verringert werden.

Bei einem Materialkostenanteil von etwa 20 Prozent der gesamten Baukosten bietet die Wiederverwendung von Baumaterial ein enormes, noch kaum genutztes Potenzial – für die Wirtschaft, die Umwelt und die Gesellschaft.

Gebäude als Materialdepots

Dieses Potenzial können wir heben, wenn wir die Art und Weise, wie wir bauen, radikal ändern. Anstatt Energie zur Klimatisierung unserer Gebäude aufzuwenden, bauen wir Gebäude, die Energie liefern. Anstatt eine Endstation für Material zu bauen, begreifen wir Gebäude als Materiallager für die Zukunft und maximieren so das Wiederverwendungspotenzial. Bestehende Gebäude dienen zukünftig als Materialminen für Renovation oder Neubau. Bei dieser Art des Wirtschaftens, auch Kreislaufwirtschaft genannt, wird wirtschaftliche Aktivität schrittweise vom Ressourcenverbrauch entkoppelt und Abfall komplett vermieden. Die Realisierung dieses Potenzials erfordert neue Konstruktionsprinzipien, neue Geschäftsmodelle und einen detaillierten Datensatz, um die tatsächliche Schliessung von Stoffströmen zu managen.

Produkte als Dienstleistung anbieten

Die Zukunft des Gebäudes hängt nicht nur von den Konstruktions- und Materialisierungsentscheidungen des Architekten ab. Gebäude bestehen zu einem grossen Teil aus vorgefertigten Produkten und Komponenten. Die Hersteller dieser Produkte entscheiden über deren Design und damit über deren Wiederverwendbarkeit.

Die Verantwortung für die weitere Zukunft des Produkts veräussern sie heute allerdings mit dem Produkt an ihre Kunden. Nachhaltiger wäre es, die Optionen des Herstellers so zu gestalten, dass ihm in Zukunft das Produkt für neue Verwendungen wieder zur Verfügung steht.

Um eine solche Option zu realisieren, bietet der Hersteller ausschliesslich die Leistung des Produktes an. In diesen «Produkt als Service»-Geschäftsmodellen erwirbt der Gebäudeeigentümer das Recht, das Produkt eine begrenzte Zeit nutzen zu dürfen. Der Hersteller ist verantwortlich für das Funktionieren des Produktes, also für Reparaturen und eventuelle Upgrades. Läuft die vereinbarte Nutzungszeit aus, geht das Produkt an den Hersteller zurück. Dieser kann dann dasselbe Produkt anderen Kunden zur Verfügung stellen, Komponenten davon in einem anderen Produkt verarbeiten, die Materialien wiederverwenden oder das Ganze oder Teile davon einem anderen Hersteller überlassen. Das setzt aber voraus, dass er sein eigenes Produkt als Materialdepot vorausgedacht hat.

Immobilien werden zu Mobilien

Damit ein Gebäude zum Materialdepot werden kann, muss das Gebäude als Ganzes, aber auch die im Gebäude verbauten Produkte und Bauteile so entworfen werden, dass jedes einzelne Teil am Ende seines Nutzungszyklus aus dem Gesamtgefüge herausgelöst werden kann, ohne dass dabei Material verlorengeht oder seine Qualität einbüsst. Gebäude werden so gebaut, dass sie in Zukunft nicht mehr abgerissen, sondern demontiert werden. Flexibilität und Modularität sind dabei der Schlüssel. Sie tragen am Ende des Lebenszyklus zum Materialerhalt bei und ermöglichen fortlaufend Änderungen in der Gebäudeeinteilung und damit dessen längere Nutzung. Immobilien werden zu Mobilien.

Um eine Materialwiederverwendung in der Zukunft zu ermöglichen, reicht ein kreislauffähiges Gebäude allein nicht. Dazu braucht es einen Materialpass, also einen digitalen Datensatz mit einer detaillierten Bestandsaufnahme aller in einem solchen Gebäude verwendeten Materialien. Je genauer die Informationen über die im Gebäude verbauten Materialien sind, desto höher der potentielle Wert für zukünftige Wiederverwendung. So lässt sich endlich Endliches organisieren, damit es unendlich verfügbar bleibt. Denn Abfall ist Material, das ohne Identität in die Anonymität gekommen ist. Besitzen Materialien eine dokumentierte Identität, werden sie zur Ressource für die Zukunft.

Ähnlich einem Reisepass hat ein solcher Materialpass aber nur dann einen Wert, wenn die Informationen standardisiert sind und der Pass von einer anerkannten Stelle ausgestellt und registriert wird. Für Reisepässe gibt es entsprechende Stellen, für Grundstücke das Grundbuchamt oder Kataster. Für Materialien in der gebauten Umgebung haben wir 2017 ein Grundbuch für Materialien, Madaster, eingerichtet. Madaster ist eine Cloud-Plattform, in der die Identität und der temporäre Aufenthaltsort von Materialien, ihr finanzieller Wert und ihr zirkuläres Potenzial für eine zukünftige Wiederverwendung dokumentiert und nutzbar gemacht werden. Auf diese Weise wissen Bauherren und ihre Dienstleister mit Sicherheit, dass die Identität der Materialien tatsächlich erkannt wird. So können Gebäude-Assets zirkulär gemanagt werden. In der Schweiz ist Madaster seit Juli 2020 online, in Deutschland und Belgien wurde die Plattform im ersten Halbjahr 2021 lanciert, Norwegen und Dänemark folgen im zweiten Halbjahr. Weltweit haben Immobilieneigentümer mittlerweile mehr als 10 Millionen Quadratmeter auf Madaster registriert.

Demontierbares Bürogebäude

Ein Gebäude, das wir nach diesem zirkulären Prinzip gebaut haben, ist die Hauptgeschäftsstelle der Triodos Bank in Zeist in den Niederlanden. Das Gebäude wurde mit dem Anspruch entworfen, ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Natur, Kultur und Wirtschaft zu schaffen und die Werte der Bank widerzuspiegeln. Das Gebäude ist das weltweit erste vollständig demontierbare Bürogebäude. Die komplett aus Holz bestehende Struktur wird von 165 312 Schrauben zusammengehalten. Sollte das Unternehmen einmal umziehen oder das Büro schliessen, können alle Komponenten einfach demontiert und wiederverwendet werden.

Das Gebäude hat einen offenen Grundriss, der um drei Holzkerne angeordnet ist. Dies bietet maximale Flexibilität, um das Gebäude im Laufe der Jahre umzugestalten und an sich ändernde räumliche Bedürfnisse der Bank anzupassen, ohne Material zu zerstören.

Während sich der Entwurf auf die Maximierung der Wiederverwendung von Material in der Zukunft konzentrierte, wurden beim Gebäude auch rezyklierte Materialien und Secondhand-Baumaterialien verwendet. Aus Abbruchprojekten wurden diese in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Urban Mining Collective gewonnen. Der Sonnenschutz für die Kantine wurde aus rezykliertem Plastik aus dem Ozean hergestellt.

Ein Grossteil des Gebäudes wurde vorgefertigt und vor Ort montiert. Dies ermöglichte eine Just-in-Time-Lieferung, minimierte den Platzbedarf für Bau und Lagerung, verringerte so den Druck auf die sensible natürliche Umgebung des Anwesens und senkte die Baukosten. Der Einsatz von vorgefertigten Elementen trug massgeblich zur Minimierung von Bauschutt und Ausfallkosten bei. Der Bau dauerte 13 Monate – 5 weniger, als es herkömmliche Baumethoden für ein Gebäude ähnlicher Grösse ermöglicht hätten. Ein gründliches Sortiersystem ermöglichte eine hochwertige Wiederverwendung von Secondhand-Materialien. Die Wahl der Materialien und Baulösungen zielte darauf ab, die Lebensdauer der Produkte zu maximieren und gleichzeitig den Wartungsaufwand zu minimieren. Dazu wurde ein Zeithorizont von 40 Jahren für die Gesamtbetriebskosten zugrunde gelegt.

Durch den Einsatz von Sonnenkollektoren in Kombination mit zwei unterirdischen Wärme-/Kältespeichern ist das Gebäude ausserdem energiepositiv. Der Parkplatz ist mit der weltweit grössten bidirektionalen Ladestation für Elektroautos ausgestattet, die diese nicht nur auflädt, sondern auch als Energiespeicher für das Gebäude nutzbar macht.

Durch die Wahl des Holzes hat das Gebäude mehr CO2 gebunden, als es bei seiner Herstellung und seinem Bau ausgestossen hat. So werden 1 612 000 kg CO2 gespeichert. Damit ist es eines der ersten CO2-negativen Bürogebäude der Welt in dieser Grösse.

Am Anfang das Ende denken

Zirkularität ist ein Mittel zum Zweck, neue Wege für Produktion und Konsum zu finden, um innerhalb unserer planetaren Grenzen zukunftsfähig zu leben. Der Übergang von einer Linear- zu einer Kreislaufwirtschaft wird über zirkuläres Produktdesign und kreislauffähige Prozesse organisiert. Dies erfordert Partizipation, Kooperation und Koordination entlang der gesamten Wertschöpfungskette, vom Hersteller bis zum Konsumenten. Jedes Individuum hat dabei die Aufgabe, in seiner (wirtschaftlichen) Tätigkeit eine Haltung der langfristigen Verantwortung zu leben. Wir müssen es nur tun.

  1. Swisstopo (2017): Bericht über die Versorgung der Schweiz mit nichtenergetischen mineralischen Rohstoffen (Bericht mineralische Rohstoffe). Aktuelle Situation sowie Massnahmen zur langfristigen Versorgung.http://www.fskb.ch/wp-content/uploads/2018/01/Bericht-mineralische-Rohstoffe-CH.pdf

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